20 + 1 Jahre FrauenOrte – Frauengeschichte in Sachsen-Anhalt

Anke Triller | Ausgabe 3-2021 | Kulturlandschaft

Lindenhof der Evangelischen Stiftung Neinstedt und Porträt Marie Nathusius. Evangelische Stiftung Neinstedt
Porträt Jenny Marx. Paul Waligora, Danneil-Museum Salzwedel.
 Lutherhaus in Wittenberg. Foto: Hochschule Mainz.
Schwesternschülerinnen in der Diakonischen  Anstalt Halle. Archiv Diakoniewerk Halle.
Koordinatorin Anke Triller und Kustodin Katrin Dziekan auf Schloss Wernigerode. Foto: Evelyn Rudolph.

Sachsen-Anhalt gilt als „Wiege der Reformation“ und seit über 20 Jahren ist es auch das „Mutterland der FrauenOrte“. Hier wurde die Projektidee geboren, die mittlerweile in weiteren Bundes­ländern – Berlin, Brandenburg, Hamburg, Niedersachsen, Sachsen sowie Thüringen – aufgegriffen wurde. Aber von vorn: Es begann mit den Vorbereitungen zur Weltausstellung Expo 2000 in Hannover. Mitte der 1990er Jahre wurde im Dreieck Bitterfeld / Wolfen, Dessau und der Lutherstadt Wittenberg eine Korrespondenz­region geschaffen. Mit Unterstützung und unter Federführung der landeseigenen Expo Sachsen-Anhalt GmbH wurden zahlreiche Projekte umgesetzt, darunter auch beeindruckende Ausstellungen zur Geschichte unserer Region.

Vor diesem Hintergrund brachten sich Frauen in diesen Prozess ein mit dem Ziel, Frauenbeteiligung und Fraueninteressen zu sichern. Vereinsfrauen, Gleichstellungsbeauftragte, Politikerinnen, Gewerkschafterinnen und Einzelpersonen fanden sich als Sachsen-Anhalt-Frauen-Initiativ-Runde (SAFIR) zusammen und begleiteten als Frauenarbeitskreis die Arbeit der GmbH.

Die 1999er Ausstellung im Kraftwerk Vockerode zu eintausend Jahren wechselvoller Landesgeschichte nannte sich „mittendrin“, jedoch fehlten „dort drin“ Frauenpersönlichkeiten. Leider war und ist bis heute festzustellen: Das Wirken von Frauen fand und findet in der Geschichtsschreibung und im öffentlichen Bewusstsein wenig Beachtung. Deshalb regten die SAFIR-Frauen an, Frauengeschichte im Jahr 2000 zum Gegenstand einer eigenen Ausstellung „1000 + 10“ zu machen. So entstand das Projekt „FrauenOrte“, das von Frauen geprägte Geschichte kommunizieren sollte. Aus Budget­gründen wurde die o. g. Ausstellung kurzfristig gestrichen, aber von den Frauen UND Männern rund um die federführende Historikerin Dr. Elke Stolze eine Alternative gefunden: Aufbauend auf den er­arbeiteten Forschungsergebnissen, recherchierten Persönlichkeiten und historischen Orten wurde kurzerhand GANZ Sachsen-Anhalt zum Ausstellungsort erklärt und auf Basis der Forschungs­ergebnisse von Mai bis Dezember 2000 22 FrauenOrte etabliert.

Bis heute folgten weitere 30 FrauenOrte vom Altmarkkreis Salz­wedel im Norden bis zum Burgenlandkreis im Süden. In insgesamt 37 Städten und Gemeinden sind sie an den einheitlich gestalteten Tafeln mit dem rot-grünen Logo auf grauem Hintergrund erkennbar. Sie spannen einen zeitlichen Bogen von über tausend Jahren Geschichte mit regionalem Bezug – von den starken Herrscherinnen des 10. Jahrhunderts bis hin zum 130-jährigen Wirken der Kongregation der Schwestern von der heiligen Elisabeth in Halle, das hier im Juni 2021 zu Ende ging. Sie werden darüber hinaus durch die zweibändige Publikation „FrauenOrte – Frauengeschichte in Sachsen-Anhalt“ thematisch vernetzt, die 2008 im Mitteldeutschen Verlag erschien.

Seit letztem Sommer können die FrauenOrte auch im eigent­lichen Wortsinn ihre Geschichte(n) ERZÄHLEN. In bisher zwölf Folgen von „frauenorte-der-podcast“ berichten Menschen vor Ort von „der Geschichte hinter den Tafeln“, dem Engagement der Vereine und örtlichen regionalgeschichtlichen Netzwerke, die das Frauen-Orte-Projekt bis heute maßgeblich mittragen. Die etwa halbstündigen Beiträge sind unter www.frauenorte.net – Rubrik „Neuerscheinungen“ via Webplayer oder (fast) überall wo es Podcasts gibt, zu hören.

Mit der Aufstellung einer Informationstafel ist es jedoch nicht getan. Erst die Menschen sind es, die Erinnerungen und Traditionen wachhalten. Deshalb habe ich auch mit Interesse gelesen, dass auf eines der diesjährigen aktuellen Frauen-Jubiläen im Sachsen-Anhalt-Journal hingewiesen wurde: „1521 – Vor 500 Jahren bekannte sich die Äbtissin von Gernrode, Elisabeth von Weida, unter dem Eindruck des Auftretens von Martin Luther auf dem Reichstag in Worms zur reformatorischen Lehre. 1527 führte sie in ihrem Herrschaftsgebiet die Reformation ein.“[1] . Das ist einer der seltenen Einträge mit Frauenbezug. Von INSGESAMT 50 Nennungen haben 20 einen personellen Bezug zu Männern. Deshalb erlauben Sie mir – ganz im Vermächtnis von SAFIR – den Wunsch, dass dieses Verhältnis zukünftig ausgewogener ausfällt.

Aus der Vielfalt von Persönlichkeiten und Themen aus der Frauengeschichte möchte ich eine kleine Auswahl benennen:

So zeigt das Leben von Äbtissin Elisabeth von Weida und Wildenfels, dass adlige Frauen durchaus Alternativen zu Ehe- und Witwenstand hatten, die ihnen einen Bildungszugang und sogar eine gewisse Karriere ermöglichten. Neben der wirtschaftlichen und politischen Interessenvertretung für ihr reichsunmittelbares Damenstift ist ein weiteres Verdienst der Äbtissinnen in Gernrode die Begründung einer der ersten evangelischen Elementarschulen 1533 mithilfe von Stiftsmitteln. Dem Engagement des Kulturvereins „Andreas Popperodt“ ist es zu verdanken, dass das letzte heute noch erhaltene Gebäude ein Museum und Begegnungsort an authentischem Ort ist. Schulklassen nutzen das Angebot einer „historischen Schulstunde“ in den harten Holzbänken der „Alten Elementarschule“. Der FrauenOrt im Lutherhaus Wittenberg in Erinnerung an Katharina von Bora verweist ebenfalls auf tiefgreifende Umbrüche im Leben von Frauen während der Reformation.

Die konfessionell geprägte „Sonder-Lebenswelt“ von Frauen in Klöstern und Stiften wird darüber hinaus z.B. an den FrauenOrten in Quedlinburg (wo Elisabeth von Weida zuvor als Kanonisse lebte), in Drübeck, in Halle und in Helfta thematisiert. Kloster St. Marien zu Helfta ist seit 1999 dank vielfältigem Einsatz von Frauen UND Männern als ein Zisterzienserinnen-Kloster zu neuem Leben erwacht. Solche Lebensorte, wo Vergangenes bis in die Gegenwart weitergeführt wird, sind „lebendige FrauenOrte“. Im Jahr 2000 schlug die Gründungsäbtissin vor, im Helftaer Kloster einen solchen zu etablieren. Der Vorschlag, auch das Geburtshaus von Jenny Marx in Salzwedel zu bedenken, kam von einem Mann und wurde im selben Jahr umgesetzt.

Ein weiteres FrauenOrte-Spektrum ist der Rolle von adligen Frauen als Herrscherinnen mit dynastischer Verantwortung gewidmet. Doch steht hier nicht vordergründig ihre Funktion zur Sicherung der Nachkommenschaft im Fokus, sondern ihre Leistungen für den Familienzusammen- und Machterhalt so z. B. beginnend bei den Ottonenfrauen Mathilde, Editha, Adelheid oder Theophanu bis hin zu Juliana, Gräfin zu Stolberg und Wernigerode. Die Stammmutter der Oranier unterstützte ihren Sohn Wilhelm im niederländischen Freiheitskampf.

Julianas Urenkelin Henriette Catharina von Anhalt-Dessau wiederum ist – neben ihrer umsichtigen Regentschaft für den unmündigen Erbprinzen Leopold I. – auch für ihre Wirtschaftsförderung in „ihrem“ Oranienbaum ein eigener FrauenOrt gewidmet. Sie bereitete mit ihren wirtschaftlichen, künstlerischen und politischen Innovationen den Boden für das spätere Dessau-Wörlitzer Gartenreich. Vermutlich hat ihr Urenkel Leopold III. Friedrich Franz von ihr nicht nur die Liebe zu den Zitrusfrüchten, sondern auch einen „grünen Daumen geerbt“. Auf die aufklärerische Geselligkeit verweist der FrauenOrt Schloss und Park „Luisium“ in Dessau-Waldersee. Er wurde zum Rückzugsort seiner späteren Gattin Louise Henriette Wilhemine. Sie förderte Kunst und Musik und pflegte – neu für diese Zeit – persönliche Kontakte zu bürgerlichen Kreisen.

So ist ein Netz von personell und regional miteinander verknüpften FrauenOrten entstanden. Eine sachsen-anhaltische Projekt-Besonderheit dabei ist, dass nicht nur einzelne Biographien herausgehoben, sondern auch auf Lebensräume und -entwürfe von ganzen Frauengruppen und spezielle Berufsfelder aufmerksam gemacht wird.

Wir wissen, dass die 1762 in Moskau zur Zarin gekrönte Katharina II. als Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst-Dornburg ihre Jugenderziehung in Zerbst erhielt. Als gebildete Zarin richtete sie ein besonderes Augenmerk auf Volks- inklusive Mädchenbildung und veröffentlichte Märchen, in die sie ihre Ansichten zur Kindererziehung einfließen ließ. Aber kennen Sie auch die Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung, die in Sachsen-Anhalt in den 1830er Jahren u. a. in Folge der Fröbelschen Kindergarten-Bewegung begann?

Der 15. April 1846 ist in der o. g. Liste der „Ausgewählten Gedenktage“ vermerkt als Besuch eben jenes: „bedeutende(n) Pädagoge(n) und Gründer des ersten deutschen Kindergartens 1840 in Bad Blankenburg Friedrich (Wilhelm August) Fröbel (1782 – 1852)“ in den Franckeschen Stiftungen in Halle. Am 6. August desselben Jahres demonstrierte Fröbel zusammen mit drei seiner Schülerinnen im nahe gelegenen Zörbig ganz praktisch seine Spielpä­dagogik bei der Eröffnung einer Kinderbewahranstalt. „Bewahren“ oder „Bilden“ war schon damals ein Zielkonflikt. Zehn Jahre später konnte dank testamentarischer Vermögens-Stiftung des Ehepaars Heller ein Gebäude samt Garten in der Hohen Straße für das sogenannte „Hellerstift“ erworben werden. Die noch heute dort befindliche städtische KiTa „Rotkäppchen“ ist eine der ältesten, durchgehend existierenden Kindereinrichtungen in Deutschland und wurde deshalb am 31. Mai 2000 zum deutschlandweit allerersten FRAUENORT! Diese Zörbiger Einrichtung begeht dieses Jahr stolz ihren 175. Geburtstag.

Die wachsende Nachfrage nach Erzieherinnen für die Kinderbetreuung in der Preußischen Provinz Sachsen konnte auf dem Territorium des heutigen Sachsen-Anhalts bereits frühzeitig durch fortschrittliche Frauenbildungsstätten wie in Köthen, Droyßig und Halberstadt gedeckt werden. Dankbare Leipziger Eltern stifteten sogar ein großes Denkmal für die Fröbelpädagogin Angelika Hartmann in deren Geburtsstadt Köthen.

Ein weiteres typisches Arbeitsfeld von Frauen war und ist die sogenannte Care-Arbeit. Im häuslichen Bereich bzw. darüber hinaus, religiös motiviert wie bei Elisabeth von Thüringen oder Jutta von Sangerhausen, ist sie schon seit Jahrhunderten eine Frauendomäne. Im 19. Jahrhundert führten Säkularisierung, zunehmende Industrialisierung und starkes Bevölkerungswachstum zu bedrohlichen sozialen Auswirkungen. Denen begegneten Einzelpersonen wie die Nathusius-Frauen Marie und Johanne Philippine in Verbindung mit Ehemann bzw. Brüdern mittels privat finanzierter Eigen­initiativen, woraus die noch heute in deren Sinne fortwirkende Evangelische Stiftung Neinstedt hervorgegangen ist.

Städte und Gemeinden halfen sich, indem sie sich an Institutionen wie evangelische Diakonissen-Mutterhäuser oder katholische Kongregationen wie die der Schwestern von der heiligen Elisabeth wandten. Deren Beitrag zur professionellen krankenpflegerischen Berufsausbildung – unter für ledige Frauen standesgemäßen Lebensbedingungen – stehen bei zwei FrauenOrten in Halle im Fokus.

Die FrauenOrte der Moderne, wie Bauhaus Dessau und Kunst(hoch)schule Burg Giebichenstein, aber auch die der Chemie­standorte Leuna oder Wolfen dokumentieren einen weiteren einschneidenden beruflichen Trend. 1754 war es noch absolute Ausnahme, dass Dorothea Christiana Erxleben ihren medizinischen Doktortitel in Halle verteidigen durfte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Eroberung von bisherigen Männerdomänen durch Frauen in Kunst, Gewerbe und Industrie nicht mehr rückgängig zu machen, auch wenn die Nachfrage an weiblichen Arbeitskräften parallel zu den wirtschaftlichen Krisen stark schwankte.

NS-Gedenkstätten wie in Bernburg und Prettin bilden eine weitere FrauenOrte-Kategorie, die mit ihrer Bildungsarbeit daran erinnern, dass Frauen nicht nur Opfer, sondern auch Täterinnen waren. Die Lichtenburg in Prettin, vom 16. bis 18. Jahrhundert fürstlicher Asyl-Ort und Witwensitz sowie Frauen-KZ von 1937 bis 1939, verdeutlicht, dass schon immer Menschen aus Glaubens- oder Überzeugungs-Gründen verfolgt wurden. Ab 11.September d. J. versucht die Raum-Installation der Kunststiftungs-Heimatstipendiatin Petra Reichenbach im historischen Schlossteil künstlerisch eine Brücke zwischen den Frauenschicksalen im Schloss und im Konzentrationslager zu bauen.

Unser Projekt möchte Sie anregen, Regionalgeschichte aus weiblicher Perspektive weiter zu entdecken und sichtbar(er) zu machen. Nutzen wir gemeinsam das kulturtouristische Potenzial unseres „Exportschlagers“ FrauenOrte und die zahlreichen Schnittmengen mit „Straße der Romanik“, „Gartenträumen“ und „Lutherweg“ zur Inspiration, um auch zukünftig Einheimischen wie Gästen an authentischen Orten Frauengeschichte als Teil von Landes­geschichte zu vermitteln.  |  https://frauenorte.net/

[1] Vgl. Müller, Walter: „Ausgewählte Gedenktage bedeutender Persönlichkeiten und wichtiger Ereignisse 2021 in Sachsen-Anhalt“. In: Sachsen-Anhalt-Journal, 4, 2020, S. 15.