Das Bauhaus lebt

von Ralf Niebergall | Ausgabe 1-2019

Das Bauhaus lebt! Blättert man in Immobilienkatalogen, trägt beinahe jedes zweistöckige Einfamilienhaus mit einem Flachdach das Label „Im Bauhausstil“ und der Käufer wähnt sich krachmodern, auch wenn sein „Stil“ schon hundert Jahre alt ist. Allsonnabendlich wälzen sich tausende Kunden durch die labyrinthischen Regalreihen eines schwedischen Möbelhauses um ihre Wohnung schlicht, funktional und preiswert einzurichten, getreu dem Motto des zweiten Bauhausdirektors Hannes Meyer: „Volksbedarf statt Luxusbedarf“. Aber auch für ein gehobenes Bürgertum, das seinen guten Geschmack beweisen will, halten die Design-Shops eine Vielzahl glänzender Bauhaus-Klassiker bereit; vom Marcel-Breuer-Sessel bis zum silbernen Teekännchen der Bauhaus-Designerin Marianne Brandt für fast neuntausend Euro – letzteres vielleicht nicht gerade „Volksbedarf“.
Dass das Bauhaus die Architektur, das Design, die Innenarchitektur des 20. und unseres frühen 21. Jahrhunderts beeinflusst hat wie keine andere Schule, daran gibt es keinen Zweifel. Wenn wir aber der Frage nachgehen wollen, welche Bedeutung das Bauhaus für die heutige Zeit und ganz speziell für die Architektur hier in Sachsen-Anhalt hat, griffe die Assoziation zum Bauhaus als Architektur- und Designstil viel zu kurz. Nach dem Trauma des 1. Weltkrieges, in Zeiten heftiger Wirtschaftskrisen und politischer Unruhen war die größte Vision der Bauhäusler, einen Lebensentwurf zu kreieren, der einen ganz neuen sozialen Zusammenhalt ermöglicht; und das mit den Mitteln einer neuen Einheit von Kunst, Architektur, Handwerk, Industrie und einem radikal neuen Blick auf das Wesen der Dinge. Zwar sind die gesellschaftlichen Umbrüche und sozialen Verwerfungen heute, zumindest hierzulande, weit weniger dramatisch als damals; der gesellschaftliche Zusammenhalt ist dennoch Mittelpunkt sorgenvoller Diskussionen: Angst vor Flüchtlingen, unberechenbare Politik in vielen Teilen der Welt, unsichere Zukunftsaussichten durch Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel, Mangel an bezahlbarem Wohnraum, das Auseinanderdriften von Lebensbedingungen zwischen Stadt und Land sind die Reizthemen.
Längst sind wir Architekten und Gestalter bescheidener geworden, was unsere Macht anbelangt, die Gesellschaft grundlegend zu ändern, aber das Ideal, zum sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft zumindest beizutragen, ist nach wie vor ein entscheidender Antrieb unseres Tuns. Nur haben sich die Strategien gewandelt, denn die Welt ist eben eine andere als vor einhundert Jahren. Radikale Visionen sind im Laufe der Geschichte obsolet geworden. Das zunehmende Gefühl unbestimmter Unsicherheiten verlangt eher nach behutsamer Erneuerung, nach Wertschätzung des Überkommenen, als eine Art Rückversicherung, als sicherer Boden, aus dem Neues wachsen kann. So ist die Architektur in Sachsen-Anhalt dort am besten, wo sie sich auf den Dialog mit Historischem einlässt, ohne ihre Zeitgenossenschaft im 21. Jahrhundert zu leugnen und dafür gibt es hervorragende Beispiele. Nur eine ganz kleine Auswahl davon kann hier vorgestellt werden.

Textilmanufaktur Halle. Architekten: snarq Architekten Halle (Saale). Foto: Steffen Spitzner.

Snarq Architekten erweckten eine vergessene Textilmanufaktur in einem dicht bebauten Gründerzeitviertel in Halle zu neuem Leben, indem sie die Flexibilität der Raumstruktur eines Fabrikgebäudes geschickt zu lichten, offenen Wohnlandschaften gestalteten. Aufgesetzte Kuben aus Holz und Glas, die einen unverstellt weiten Blick auf die alten Bäume des Innenhofs freigeben und kecke, weit ausragende Balkone an den schönen Klinkerfassaden der alten Manufaktur führen einen fröhlichen Dialog zwischen Alt und Neu. Das sicher auch vom Bauhaus inspirierte Empfinden der Architekten für Körper und Raum bildet eine wohlproportionierte Skulptur, die das Historische respektvoll integriert, ja liebevoll umarmt. Nicht von ungefähr wurde dieses Projekt im vergangenen Jahr mit dem Hannes-Meyer-Preis des Bundes Deutscher Architekten ausgezeichnet.

Wallonerkirche Magdeburg. Architekten: Steinblock Architekten, Magdeburg. Foto: Steffen Spitzner.

Ein ganz ähnlicher Dialog ist in der Wallonerkirche in Magdeburg gelungen. Allein die Geschichte der Kirche selbst ist hochspannend: Etwa 40 Jahre nach dem dreißigjährigen Krieg, der Magdeburg schwer ausgeblutet hatte, übertrug Kurfürst Friedrich Wilhelm die schwer beschädigte ehemalige Klosterkirche an protestantische Glaubensflüchtlinge aus der Wallonie. Mit den Flüchtlingen zog neues Leben ein. Ein frühes Beispiel, dass Zuwanderung bereichern kann. Seit dem Wiederaufbau nach erneuter Zerstörung im II. Weltkrieg nutzt die evangelisch-reformierte Gemeinde das Gotteshaus. Die kühne Idee von Steinblock Architekten, in das Mittelschiff des Langhauses einen modernen Glaskubus als neues Gemeindehaus einzustellen, stieß anfangs auf Skepsis. Das Ergebnis hat alle überzeugt. In schlichter, zurückhaltender Eleganz bereichert das Implantat nicht nur den Raum, sondern vor allem das Leben der Gemeinde und vieler Besucher. Kleine Gottesdienste, Kinderspiel und Versammlungen finden ebenso den ihnen angemessenen Platz wie große Konzerte, denn wenn die raumhohen Glasschiebetüren geöffnet werden, verschmelzen historische Kirche und zeitgenössische Architektur zu einem spannenden Kontinuum von Raum und Zeit. Ein identitätsstiftender kultureller Mittelpunkt ist entstanden. Ein Ort zum Reden, des Austausches, des gemeinsamen Erlebnisses – ein Ort, Menschen zusammenzuführen.

Haus Stein Druxberge.
Architekten: Jan Rösler Architekten, Berlin.
Foto: Simon Menges.

Was aber hat eine alte Backsteinscheune im beschaulichen Bördedorf Druxberge mit dem Bauhaus zu tun? Überraschend viel! Als der junge Architekt Jan Rösler den Auftrag erhielt, eine Scheune im Innenhof eines kleinen Bauerngehöftes zu einem Ferienhaus umzugestalten, war sein Ehrgeiz angestachelt, genau diesen Zusammenhang zu suchen. Die Reduktion auf das Wesen der Dinge mit künstlerischen Mitteln war ein erklärtes Ziel des Bauhauses. Und so konzentrierte sich Rösler auf das Wesentliche, arbeitete die Schönheit der historischen Konstruktionen heraus, integrierte neue Elemente wie eine Treppe, Einbauschränke, einen Kamin mit größter Präzision und klarer Gestaltung im besten Bauhaussinn. Funktionales wird nicht nur auf das Wesentliche, sondern auf das absolute Minimum reduziert. Ein Türknauf besteht aus einem winzigen Rechteck, ein Drücker mit Schloss aus einer überschlanken eisernen Griffstange und einem zylindrischen Dorn – kein Schließblech, kein Schild – ein Hauch von nichts. „Less is more – Weniger ist mehr“ war der Wahlspruch des dritten Bauhausdirektors Mies van der Rohe und so verwundert es nicht, dass auf dem Foto vom Innenraum als einziger beweglicher Gegenstand dessen Barcelona-Sessel zu sehen ist – eine Verbeugung vor dem Meister. Wie in den Bauhaus-Werkstätten, wo die Studierenden ihre Prototypen selbst bauen mussten, baut der junge Architekt sein erstes Haus beinahe selbst. Und das mit der gleichen Experimentierfreude, von der die einstigen Bauhausschüler noch Jahrzehnte später begeistert schwärmen. Das Alte wurde sorgfältig aufgearbeitet und wiederverwendet: hölzerne Schiebetore, die alten Dachziegel; Respekt vor der Arbeit und Energie die in ihnen aufgehoben ist. Das versteckte architektonische Kleinod ist eingebettet in eine lebendige Dorfgemeinschaft, die sich mit viel ehrenamtlichem Engagement sogar eine kleine Galerie in der ehemaligen Schule leistet. Gelebter Zusammenhalt, der auch von den „Zugezogenen“ bereichert wird.
Aber ist dies alles nicht etwas zu klein angesichts der weltweiten Wirkung, die das Bauhaus einst entfaltete? Würde sich das Bauhaus heute nicht mit den ganz großen Themen befassen: Wie begegnet Architektur dem dramatischen Klimawandel? Wie ordnen wir die explodierenden Metropolen dieser Welt und lindern die Wohnungsnot? Wie nutzen wir die Chancen der Digitalisierung für die Entwicklung gänzlich neuer Bautechnologien und ungeahnter Gestaltungsmöglichkeiten? Aber technologischer Fortschritt drückt sich heute nicht zwangsläufig in atemberaubend neuen Architekturformen aus.

Bürogebäude b.t. Innovation.
Architekten: Ralf Niebergall, Fabian Schulz.
Foto: Ralf Niebergall.

Als mein Partner Fabian Schulz und ich den Auftrag erhielten, ein neues Bürogebäude für B.T. innovation zu entwerfen, dachte der Bauherr eher an eine zeitlose Architektur, weniger an schreiend Neues. Dabei wird in der Magdeburger Firma ständig über innovative Produkte nachgedacht, vornehmlich für die Betonindustrie. So wurde das Haus in kürzester Zeit aus Betonfertigteilen gebaut, die man dank einer patentierten Spannschloss-Verbindung problemlos wieder auseinanderschrauben könnte, ebenfalls patentierte Verbindungsmittel vermeiden Wärmebrücken und sparen so Energie. Der Wärme- und Kühlungsbedarf wird durch die Nutzung von Geothermie weitgehend gedeckt und eine Solaranlage vermindert den Strombedarf. All das sieht man dem Haus nicht an (siehe Abb. S. 01). Zeitgleich mit dem Bau entwickelte das Unternehmen mit der gleichen Betontechnologie 36 Quadratmeter große Häuser, die man in den Krisengebieten dieser Welt vor Ort fertigen und innerhalb von zweieinhalb Stunden aufstellen kann. Immer auf der Suche nach Einsparungen und Materialreduzierung. Mehr als ein Zelt. Ein erstes kleines Zuhause. Es bedurfte eines sehr langen Atems und 4 Millionen Euro Entwicklungskosten, bis das Ziel eines „Low-Cost-Hauses“ für unter 5.000 Euro erreicht war. Heute ist die Produktionstechnologie bei mehreren Weltmarktführern im Einsatz. Schnelle, kostengünstige Hilfe zur Selbsthilfe für Flüchtlinge und durch Naturkatastrophen obdachlos gewordene.

Die Hinwendung zum Menschen ist das größte Vermächtnis des Bauhauses, dem wir uns verpflichtet fühlen müssen. Als ich ein junger Mann war, erzählte mir der Bauhäusler Selman Selmanagic, den es als jungen Tischlermeister auf seiner Wanderschaft aus dem fernen Bosnien aus Neugier an die berühmte Schule in Dessau verschlagen hatte, folgende Anekdote: In seiner ersten Lehrstunde in der Tischlerei des Bauhauses wurde er aufgefordert, Stühle zu zeichnen. Er zeichnete eifrig Stühle, mit allen Ornamenten und Schwüngen die damals als schick galten. Als er fertig war, besah sich sein Tutor anerkennend nickend seine Zeichnungen, warf sie dann aber alle in den Papierkorb und sagte: „Vergiss das alles! Wenn du einen guten Stuhl machen willst, musst du nicht wissen, was ein Stuhl ist, sondern was ein Arsch ist!“ So drastisch die Sprache, so radikal das Denken. Diese Radikalität ist heute schwer geworden, wo es für alles Vorschriften und Verordnungen gibt, die die Experimentierfreude hemmen. Angesichts der Probleme, vor denen wir weltweit stehen, wäre sie dennoch angebracht. Aber das ginge nur gut, wenn wir die Bedürfnisse, Träume und Ängste der Menschen, die gesellschaftlichen Zusammenhänge und die Bedingungen der Region kennen, ernst nehmen und mit Architektur und vorausschauender Stadtplanung darauf reagieren. Nur so werden wir den Visionen des Bauhauses gerecht und können sagen: Das Bauhaus lebt!