Das „Heimatforschernetz Sachsen-Anhalt“ unter dem Dach des Landesheimatbundes

John Palatini und Christian Marlow | Ausgabe 1-2021 | Geschichte

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des ersten Grundlagenkurses zu Gast im Computerpool der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, 08. Februar 2020. Foto: LHB

Sachsen-Anhalt verfügt über eine große kulturelle und historische Vielfalt. Fünf Weltkulturerbestätten und mit der Himmelsscheibe von Nebra ein Weltdokumentenerbe sprechen für sich. Doch das ist nur die eine Seite dieses Landes. Den kulturellen Reichtum Sachsen-Anhalts erkennt nur, wer die unzähligen Dörfer und Kleinstädte besucht, aus denen dieses Land besteht. Das Welterbe ist hier fern. Aus der Perspektive der wenigen urbanen Zentren Sachsen-Anhalts mag es in der Fläche Dorfkirchen und Kriegerdenkmäler zu hunderten geben. Kaum voneinander unterscheidbar für die einen, sind sie für die Menschen vor Ort jedoch meist wichtiger als jene Leuchttürme, mit denen das Land an den Autobahnen wirbt und die in staatlichen Museen und Stiftungen von Historikern, Denkmalpflegern und Kulturmanagern erforscht, gepflegt, verwaltet und präsentiert werden. Auch in den Dörfern und Kleinstädten leben Menschen, die sich allein oder zusammengeschlossen in Gruppen und Vereinen für das vielfältige Kulturerbe des Landes interessieren und einsetzen, die in ihrer Freizeit die Vergangenheit erforschen, Ortschroniken erarbeiten, Kultur- und Baudenkmäler restaurieren, Kulturlandschaftselemente erfassen, die Flora und Fauna erkunden und Lehrpfade anlegen, Heimathefte herausgeben und Heimatstuben betreiben. Sie sind die lokalen Experten, die sich ehrenamtlich der Erforschung ihres Lebensraumes verschrieben haben und gemeinhin als Heimatforscherinnen und Heimatforscher bezeichnet werden. Anders als Fachwissenschaftler verfügen sie meist nicht über eine akademische Ausbildung in ihrem Forschungsgebiet, das stark von ihren individuellen Interessen sowie den lokalen Gegebenheiten geprägt ist und häufig mehrere Disziplinen der Natur- und Kulturwissenschaften berührt. Heimatforscher erarbeiten als freiwillig Engagierte oft über Jahrzehnte wertvolles Wissen, das anderen Menschen hilft, Gegenwart und Vergangenheit der Orte und Landschaften, in denen sie leben, kennenzulernen und sich mit ihnen als ihrer Heimat zu identifizieren.

Neben den professionellen Akteuren sind die Heimatforscher des Landes daher ein wichtiger Bestandteil einer lebendigen, in die Zukunft weisenden Geschichtskultur. Sie in ihrer Arbeit zu unterstützen ist dem Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e. V. (LHB) seit seiner Gründung ein Anliegen. Bereits in den 1990er Jahren wurden zu diesem Zweck Veranstaltungen durchgeführt. Ein Pilotprojekt hatte 1997 zum Ziel, die zahlreichen im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen tätigen Ortschronistinnen und Ortschronisten für ihre Arbeit fachlich zu qualifizieren.[1] Dieses Projekt in Genthin – damals mit einem Umfang von 200 Stunden – fand jedoch keine Fortsetzung bzw. Verbreitung. Fortbildungen sowie Tagungen und Publikationen zur Landes- und Regionalgeschichte für diese Zielgruppe bietet der LHB aber bis heute an. 2014 erschien zudem eine Handreichung zu den grundlegenden Arbeitstechniken für Ortschronisten und Heimatforscher.[2]

Befragungen zur Situation der mit dem LHB in Kontakt stehenden Heimatforscherinnen und Heimatforscher erfolgten 2017 und 2018 im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen. Zusammengefasst ergab sich das folgende Bild:

  • Das Interesse an einer stärkeren Professionalisierung der eigenen Tätigkeit und damit auch an mehr Veranstaltungsangeboten ist groß.
  • Nachgefragt werden die Grundlagen historischen Arbeitens, insbesondere auch unter Berücksichtigung digitaler Werkzeuge.
  • Der überwiegende Teil der Engagierten hat das Rentenalter erreicht. Unsicherheit herrscht im Hinblick auf die Frage, ob sich Nachfolgerinnen oder Nachfolger finden.
  • Häufig ist ungeklärt, was mit nicht publizierten Chroniken und Sammlungen im Todesfall geschieht. Viele Chroniken werden privat bzw. innerhalb von Arbeitsgruppen und Vereinen weiter­gegeben. Nur selten bestehen Vereinbarungen zwischen Chronisten und Kommunen zwecks Übernahme von Chroniken und Sammlungen in öffentliche Archive.
  • Viele der Engagierten fühlen sich durch ihre Kommunen nicht hinreichend unterstützt und anerkannt.
  • Heimatforscher und Heimatforscherinnen wünschen sich die Einbindung in größere Kontexte. Sie sind bereit, an überregionalen Projekten mitzuwirken.

Im Anschluss an diese Befragungen wurden für die künftige Unterstützung der Heimatforscher und Ortschronisten durch den LHB folgende Ziele festgelegt:

  • Weiterentwicklung, Ausweitung und Systematisierung des Qualifizierungs- und Fortbildungsangebotes
  • Entwicklung eines jährlich stattfindenden Vernetzungstreffens („Tag der Heimatforschung“)
  • Maßnahmen zur Erhöhung der Attraktivität und öffentlichen Wahrnehmung dieses Engagementfeldes
  • Entwicklung von Lösungsansätzen für die langfristige Archivie­rung und digitale Zugänglichkeit von Ortschroniken

Zur Erreichung dieser Ziele konnte 2019 ein neues Pilotprojekt mit dem Titel „Heimatforscher. Die Qualifizierung von Engagierten in den Bereichen Ortschronik und Heimatgeschichte stärken, ihre Arbeitsbedingungen verbessern und Nachwuchs gewinnen“ begonnen werden, das bei der Servicestelle für bürgerschaftliches Engagement im Kulturbereich angesiedelt ist und bis Ende 2021 durch das Land Sachsen-Anhalt gefördert wird. Kooperationspartner ist das Historische Datenzentrum an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (HistData).

Eine zu Beginn des Projekts durchgeführte Erhebung ergab, dass in Sachsen-Anhalt über 500 freiwillig Engagierte im Bereich Ortschronik und Heimatgeschichte aktiv sind. Als (Weiter-)Qualifizierungsangebot für diese Zielgruppe wurde im ersten Projektjahr der „Grundlagenkurs für Heimatforscher und Ortschronisten“ entwickelt, der den Teilnehmenden Techniken des historisch-wissenschaftlichen Arbeitens vermittelt und sie in die Lage versetzt, Ortschroniken und Heimatgeschichtliche Darstellungen selbstständig zu verfassen.[3] Der Kurs mit einem Umfang von 80 Stunden besteht aus vier Modulen:

  • Suchen und Finden
  • Zitieren und Verwenden
  • Sammeln und Aufbewahren
  • Publizieren, Veröffentlichen und Vermitteln

Für den ersten Durchgang, der im November 2019 startete, gingen in der Geschäftsstelle des LHB über 120 Anmeldungen ein. Selbst mit Beginn eines dritten Kurses im Frühjahr 2021 werden nicht alle Interessentinnen und Interessenten berücksichtigt werden können. Es ist deshalb beabsichtigt, den Kurs in den Folgejahren zu wiederholen bzw. auf Anfrage von Kommunen auch vor Ort anzubieten.

Die Vermittlung digitaler Arbeitstechniken gehört zu den Schwerpunkten des Grundlagenkurses. Die Seminare selbst sollten dagegen in Präsenz durchgeführt werden. Die Corona-Pandemie zwang allerdings dazu, einen Teil des ersten und beinahe den gesamten zweiten Kurs digital durchzuführen. Ebenfalls pandemiebedingt konnte der erste „Tag der Heimatforschung Sachsen-Anhalt“ bisher nicht stattfinden. Unter Mitwirkung zahlreicher Partnerinstitutionen soll diese Veranstaltung zum zentralen Fortbildungs- und Vernetzungstreffen für die ehrenamtlichen Geschichtsforscher im Land entwickelt werden. Planmäßig im Herbst wird dagegen das „Handbuch Heimatforschung Sachsen-Anhalt“ erscheinen, das als digitales Kompendium Inhalte des Grundlagenkurses sowie weitere Beiträge enthalten wird. Begonnen wurde ferner mit der Entwicklung von Lösungsansätzen für das Problem der digitalen Sicherung und Zugänglichmachung von Ortschroniken. Derzeit entsteht hierzu in Kooperation mit HistData ein Leitfaden, der es Einzelpersonen und Kommunen ermöglichen wird, ihre Chroniken für die digitale Veröffentlichung vorzubereiten.[4]

Das Heimatforscher-Projekt des LHB endet im Dezember 2021. Die entwickelten Angebote sollen darüber hinaus verstetigt werden. Mehr noch als bisher wird es dann auch um die Frage der Einbindung von Heimatforscherinnen und Heimatforschern in bürgerwissenschaftliche Projekte gehen, die der LHB initialisiert oder an denen er sich beteiligt.[5] Die sich rasant weiter entwickelnden digitalen Technologien (man denke an Programme wie Transkribus[6] ) sowie künftige crowd-basierte Projekte werden die Heimatforschung weiter beflügeln. Die große kulturelle und historische Vielfalt Sachsen-Anhalts, von der Eingangs die Rede war, wird auf diese Weise in Zukunft noch eindrücklicher als bisher zum Vorschein kommen.

[1] Vgl. Christiane Wagner: Teilnahme an einem Pilotprojekt „Qualifizierungsmaß nahmen für Mitarbeiter in Chronik- und Archivprojekten“. In: Sachsen-Anhalt. Journal für Natur- und Heimatfreunde 7 (1997), H. 4, S. 23 f.; Cornelia Kessler: Gedanken und Erfahren nach einem Modellprojekt. In: ebd., S. 24.

[2] Stefan Auert-Watzik, Holger Trauzettel, Cornelia Wewetzer: Die Ortschronik. Aufgaben – Ziele – Formalien. Eine Handreichung für Ortschronisten und Heimatforscher. Hrsg. v. Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e. V. Halle (Saale) 2014, URL: http://lhbsa.de/wp-content/uploads/2013/06/Anleitung_Ortschronisten_2014.pdf (20. 02. 2021).

[3] Flyer zum ersten Grundlagenkurs 2019, URL: http://heimatforschernetz.lhbsa.de/ wp-content/uploads/sites/9/2021/02/Flyer_Heimatforscher_final.pdf (20. 01. 2021).

[4] Vgl. URL: http://heimatforschernetz.lhbsa.de/digitale-ortschroniken/ (20. 01. 2021).

[5] Ein Beispiel hierfür ist das Projekt „Hallische Heiratsgeschichten“, das in diesem Frühjahr startet. Dabei handelt es sich um ein digitales Erfassungsprojekt der Kirchenbücher der Mariengemeinde und St. Georgen Halle (Saale) aus dem 19. Jahrhundert. Vgl. URL: https://blogs.urz.uni-halle.de/heiraten/ (20. 01. 2021).

[6] Transkribus ist eine frei zugängliche Plattform zur Texterkennung, Layout-Analyse und Strukturerkennung von historischen Dokumenten, die derzeit von mehreren zehntausend Personen verwendet wird. Vgl. URL: https://readcoop.eu/transkribus/?-sc=Transkribus (21. 01. 2021).