Das Mittelelbische Wörterbuch

Von Ulrich Wenner | Ausgabe 4-2019 | Lebendiges Kulturerbe

Artikel Klasbuer (Bd. 2, 512) aus dem Mittelelbischen Wörterbuch.
Artikel Heilechrist (Bd. 2, 95 f.) aus dem Mittelelbischen Wörterbuch.

Über den mundartlichen[1]  Wortschatz einzelner Orte oder Regionen kann man sich in entsprechenden Mundartwörterbüchern informieren. Zumeist beschränken sich die dort zu findenden Informationen auf das Mundartwort und dessen Bedeutung. Ab und an erscheinen zusätzlich Verwendungsbeispiele. Viele dieser Wörterbücher und Idiotika[2], die es für Sachsen-Anhalt gibt, weisen ein beträchtliches Alter auf und sind – wenn überhaupt – nur noch antiquarisch zu erhalten. Als Beispiele seien genannt: das Altmärkische Wörterbuch von Danneil (1859), das Holzland-ostfälische Wörterbuch von Hansen (postum 1964), das Nordharzer Wörterbuch von Damköhler (1927), das Quedlinburger Idiotikon von Sprenger (1903 /04), das Bernburger Wörterbuch von Matthias (1925 Manuskript, nur Teildruck 1934) sowie das Akener Wörterbuch von Bischoff (1977).

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zur Gründung von großlandschaftlichen Dialektwörterbüchern. Dieser Typus erfasst und beschreibt auf wissenschaftlicher Grundlage die Mundartlexik eines größeren Gebiets, das vorwiegend durch politisch-administrative und nicht durch dialektale Grenzen bestimmt wird. So entstand ein Netz solcher Wörterbücher, welches das gesamte deutsche Sprachgebiet überzieht [3].

Für den Norden und die Mitte Sachsen-Anhalts [4] zeichnet sich das Mittelelbische Wörterbuch verantwortlich. Gegründet wurde es 1935 von Karl Bischoff, der die wesentlichen Schritte zur Initiierung unternahm wie die Konzipierung, Versendung und Auswertung von Fragebogen, die Begutachtung und Einbeziehung von mundartspezifischen Wörterbüchern, Lautlehren, Grammatiken, Wortsammlungen, historischen Quellen sowie von Mundartliteratur. Leider konnte die Arbeit am Mittelelbischen Wörterbuch nicht fortgeführt werden, da Bischoff aufgrund des zunehmenden politischen Drucks Ende 1958 die DDR verließ und das Material zurücklassen musste. Er hat es nicht erleben können, dass nach der Wiedervereinigung eine Arbeitsstelle an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg[5]  eingerichtet wurde, deren Aufgabe es sein sollte, auf Grundlage des vorliegenden Materials ein solches großlandschaftliches Wörterbuch zu erarbeiten.[6] Unter der Leitung von Gerhard Kettmann bzw. Hans-Joachim Solms konnten die Bände H – O (2002) und A – G (2008) vorgelegt werden. Diese beiden Bände sind seit dem Herbst 2018 online verfügbar (https://mew.uzi.uni-halle.de/).

Nachdem in den vergangenen Jahren keine kontinuierliche Weiterarbeit möglich war, hat nun das Land Sachsen-Anhalt Mittel für zwei Jahre bereitgestellt. Verbunden ist damit ein Wechsel der Trägerschaft, die an die Stiftung Leucorea in der Lutherstadt Wittenberg übergegangen ist. Das Karl-Bischoff-Archiv und die Wörterbucharbeitsstelle (unter der Leitung von Prof. Dr. Hans-Joachim Solms) befinden sich seit Kurzem nun ebenfalls in Wittenberg.

Die Mundartlandschaft Sachsen-Anhalts (und somit auch das Bearbeitungsgebiet des Mittelelbischen Wörterbuchs) wird geprägt durch das Nebeneinander von niederdeutschen Mundarten im Norden und mitteldeutschen im Süden. Aber auch die sich nördlich der ik-ich-Linie befindlichen niederdeutschen Dialekte sind nicht einheitlich. Das Wort ‚Bruder‘ beispielsweise lautet im Nordwestaltmärkischen (Mundartgebietsziffer 1) Brauder, im Nordbrandenburgischen (Ziffer 2 für das Brandenburgische), zu dem die Altmark und der Norden des Jerichower Landes gehören, Broder, Brorer oder auch nur Broor, im Mittelbrandenburgischen, also im Süden des Jerichower und im Zerbster Gebiet Brueder, Bruder sowie im Ostfälischen (Ziffer 3) wiederum Brauder. Im Anhaltischen, das zum Ostmitteldeutschen (Ziffer 4) gehört, finden sich hingegen die Formen Bruder, Bruler und Bruser.

Aufgabe des Mittelelbischen Wörterbuchs ist es demnach, den Mundartwortschatz zu erfassen und zu beschreiben, um so die Vielgestaltigkeit der Dialekte im Bearbeitungsgebiet aufzuzeigen.

Was ist nun in einem Wörterbuchartikel zu finden? Das soll anhand zweier Artikel aus dem Umfeld der (Vor)Weihnachtszeit gezeigt werden. Nach dem fett gesetzten Stichwort[7] , bei dem bei den niederdeutschen Wörtern die Länge eines Vokals durch einen darüber gesetzten Strich gekennzeichnet wird, erfolgt die Angabe der Wortart, bei Substantiven wie hier wird das Geschlecht aufgeführt (m = maskulin). Das Kernstück jedes Wörterbuchs ist die Bedeutungsangabe. Sind einem Wort mehrere Bedeutungen zuzuschreiben, erfolgt eine Nummerierung mit arabischen Ziffern. So sind unter Heilechrist zwei Bedeutungen zu finden. Neben dem ‚Gabenbringer zu Weihnachten‘ sind das die Gaben/Geschenke selbst. Nach der Bedeutungsangabe unter 1. erscheinen bei beiden Beispielartikeln jeweils ein schräg nach oben gerichteter Pfeil und das Wort Wīnachtsmann. Das heißt, dass unter diesem Stichwort alle Gestalten und Gabenbringer der (Vor)Weihnachtszeit aufgelistet werden. Bei Klāsbūer ist darüber hinaus ein Verweis auf Būerklās [8] eingefügt worden. Da sich beide Benennungen[9] auf dieselbe Figur beziehen, wird unter Būerklās eine ausführlichere Beschreibung der damit verbundenen Bräuche vorgenommen. Die meisten Mundartwörter sind in ihrer Geltung regional beschränkt. Deshalb ist es eine wesentliche Funktion, die Verbreitung und auch die Beleghäufigkeit anzugeben. Das erfolgt durch die Nennung von Mundartgebieten (z.B. 1: verbr. nwaltm.[10] bei Klāsbūer 1.), von Landschaften (2: verbr. n Altm., vereinz. mittlere Altm.), Kreisen (2: verstr. ZE bei Heilechrist 1.), Ortspunkten (2: OST-Ker bei Klāsbūer 2.) oder einer Quelle (3: Wb-Holzl 82). Um eine schnelle Orientierung zu ermöglichen, wird bei den Verbreitungsangaben jeweils die entsprechende Ziffer der eigentlichen Angabe vorangestellt, so dass der Benutzer weiß, in welchem Mundartgebiet ein Wort oder eine Bedeutung belegt ist. Es schließen sich Sprachbeispiele an, die den Gebrauch eines Wortes illustrieren, den Anwendungsbereich zeigen oder sachliche Informationen bieten. Dabei handelt es sich um Wortgruppen, Sätze, Redensarten, Sprichwörter, Reime usw. Mit der mundartlichen Lexik sind oft bestimmte Vorstellungen und Bräuche verbunden, die unter den Gliederungssignalen ‚Brauch‘ oder ‚Volksgl.‘ abgehandelt werden, vgl. die Erläuterungen unter Heilechrist.

Das ‚Mittelelbische Wörterbuch‘ vermittelt einen Eindruck vom Leben der Menschen auf dem Lande und wird somit zu einem Kompendium der Alltagskultur weiter Teile Sachsen-Anhalts.

 

Mittelelbisches Wörterbuch. Begründet von Karl Bischoff, weitergeführt und herausgegeben von Gerhard Kettmann. Unter der Leitung des Herausgebers bearbeitet von Hans-Jürgen Bader, Jörg Möhring (nur Band 2), Ulrich Wenner. Band 2: H – O. Berlin 2002. Band 1: A – G. Berlin 2008.

 

[1] Die Termini Mundart und Dialekt werden hier synonym verwendet.

[2] Während ein Wörterbuch in der Regel den gesamten verwendeten Wortschatz aufführt, wird in Idiotika nur die mundartspezifische Lexik aufgenommen.

[3] Verschiedene Wörterbücher liegen bereits fertig vor wie z. B. das Mecklenburgische, das Brandenburg-Berlinische oder das Thüringische Wörterbuch. Nicht abgeschlossen sind u. a. das Pommersche oder das Niedersächsische Wörterbuch.

[4] Der Südwesten wurde durch das Thüringische Wörterbuch, der Südosten durch das Wörterbuch der obersächsischen Mundarten erfasst.

[5] Von 1992 – 1998 unter der Trägerschaft der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig.

[6] Zur Geschichte des Mittelelbischen Wörterbuchs siehe u. a. Bischoff, Karl: Das Mittelelbische Wörterbuch. Wiesbaden: Steiner (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse. Jg. 1984. Nr. 7); Kettmann, Gerhard: Das Mittelelbische Wörterbuch: Stationen seines Weges nach 1992. In: Grosse, Rudolf (Hg.): Bedeutungserfassung und Bedeutungsbeschreibung in historischen und dialektologischen Wörterbüchern. Beiträge zu einer Arbeitstagung der deutschsprachigen Wörterbücher, Projekte an Akademien und Universitäten vom 7. bis 9. März 1996 anläßlich des 150jährigen Jubiläums der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Stuttgart / Leipzig 1998, 199 – 208; ders.: Das Mittelelbische Wörterbuch – die problemreiche Geschichte eines notwendigen Forschungsprojektes. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 11 (2004), 27 – 34.

[7] Für die Festlegung des Stichworts existieren verschiedene Regeln. Für niederdeutsch belegte Wörter bildet das Mittelniederdeutsche eine Orientierung, für mitteldeutsch belegte die Standardsprache. Im Einzelfall kann die tatsächliche Lautung von der des Stichworts abweichen, so findet man im Lautformenteil von Heilechrist die Angabe, dass dort die Form Heelechrist dominiert.

[8] Der Wortteil Klās ist eine Variante von Klaus, bezieht sich demnach auf Nikolaus.

[9] Klāsbūer wird in der nördlichen und mittleren Altmark, Būerklās in der Mitte und im Südteil verwendet.

[10] Im Wörterbuchtext wird mit Abkürzungen und Siglen gearbeitet. Das gilt einerseits für die Mundartgebiete, Landschaften, Kreise und Orte sowie für verwendete Literatur. So steht Wb-Holzl z. B. für das Holzland-ostfälische Wörterbuch von Hansen. Den Bänden sind die Verzeichnisse beigefügt, sie finden sich auch in der Online-Version: https://mew.uzi.uni-halle.de/sprachraum bzw. …/kreise, …/siglen und …/abkuerzungen.