Die Figurengruppe des Stephanus-Martyriums am Westportal der St. Stephani-Kirche in Aschersleben als Zeugnis eines christlichen Judenbildes

David Löblich | Ausgabe 3-2021 | Geschichte

Über dem Westportal, St. Stephani-Kirche Aschersleben. Foto: David Löblich
Detailaufnahme eines jüdischen Steinewerfers. Foto: David Löblich.
Detailaufnahme des anderen jüdischen Steinewerfers. Foto: David Löblich.

Die St. Stephanikirche in Aschersleben wurde von 1406 bis 1507 erbaut und ist eine dreischiffige gotische Hallenkirche. Ihre aufgrund des sandigen Untergrundes nicht vollständig wie geplant errichtete Doppelturmanlage wurde 1469 vollendet[1] und wird über dem Westportal durch eine Figurengruppe geschmückt, die das Martyrium des Hl. Stephanus, des Kirchenheiligen, darstellt.[2] Der Hl. Stephanus war Diakon der Jerusalemer Urgemeinde und gilt als erster Märtyrer des Christentums, der wegen einer Predigt mit hellenistischen Juden in Konflikt kam und als Gotteslästerer ver­urteilt vor den Toren Jerusalems gesteinigt wurde.[3]

Diese Figurengruppe ist das älteste und einzige erhaltene mate­rielle Zeugnis des Judenbildes der mittelalterlichen Stadtgesellschaft in Aschersleben und wird in etwa auf die Mitte des 15. Jahrhunderts datiert, der Blütezeit der mittelalterlichen Judengemeinde in Aschersleben vor deren Vertreibung 1494.[4]

Man erkennt drei Figuren auf Konsolen, die durch fein gearbeitete Baldachine bekrönt sind. Der Aufstellungsort über dem Westportal kann jedoch nicht ihr ursprünglicher gewesen sein; so die Restauratorin Beate Skasa-Lindermeir nach den Restaurierungs­arbeiten 2007. Die Figuren sind auch von der Rückseite filigran und exakt gearbeitet und zeichnen sich durch einen gut erhaltenen Faltenwurf und fein gearbeitete Stoffmuster aus. Wären sie also von vorn herein für die Aufhängung an einer Fassade oder Wand bestimmt gewesen, wären die Rückseiten aus glattem Stein oder nur grob behauen.[5]

Die beiden jüdischen Steinwerfer sind in ihrer Darstellung kleiner als Stephanus, wodurch eine entsprechende Bedeutungsperspektive zugunsten des Heiligen generiert wird. Ein Jude blickt auf die Steine in seinem Mantel und der zweite befindet sich gerade in auf den Heiligen gerichteter Werfhaltung. Beide Juden tragen je einen beinlangen Mantel, einen spitzen Hut und keinen Bart.

Für die Verortung des hier in den Figuren rezipierten christlichen Judenbildes sind die Stigma-Symbole[6] der Barttracht und des Judenhutes (pileus cornutus) zentrale Aspekte, welche zunächst frei gewählte, traditionsbedingte Unterscheidungszeichen der Juden waren. Ihr Tragen wurde allerdings ab dem 13. Jahrhundert in Europa immer mehr fremdbestimmt.[7] Dies lag an einem starken, assimilatorisch geprägten Modewandel (im Heiligen Römischen Reich ab dem 15. Jahrhundert), der schließlich eine Kennzeichnung und, dem folgend, eine Stigmatisierung zur Unterscheidbarkeit der Juden nach sich zog. So wurde zu den traditionellen Merkmalen unter anderem das Tragen eines zusätzlichen Abzeichens für die Juden, oft als „Gelber Ring “ bezeichnet, eingeführt.[8]

Die Figuren in Aschersleben tragen zwar einen Judenhut und den Mantel, der Bart als früheres Statussymbol ist aber bereits nicht mehr vorhanden. Dies könnte man als Teil des oben beschriebenen assimilatorisch-modischen Wandels betrachten, also ein selbst gewähltes äußeres Erscheinungsbild noch vor einer Fremdbestimmtheit der Kleidungsformen, die somit erst ab den 1460er Jahren in Aschersleben durchgesetzt worden zu sein scheint. Vorausgesetzt, die Figuren wurden in Aschers­leben geschaffen und man orientierte sich dabei an der jüdischen Gemeinde vor Ort. Dadurch würden die Figuren auch zu einer Quelle, die Aufschluss gibt über das Verhältnis zwischen der jüdischen Gemeinde und den städtischen Herrschaftsträgern jener Zeit.

War das 14. Jahrhundert in dieser Herrschaftsbeziehung noch geprägt durch die Erbstreitigkeiten der Anhaltiner über die Grafschaft Aschersleben, worunter auch das Judenregal fiel, spielten diese im 15. Jahrhundert keine Rolle mehr für die Aschersleber Juden. Sie blieben bis 1443 unter der Herrschaft des Bischofs von Halberstadt, bis in jenem Jahr der Aschersleber Rat vom Halberstädter Bischof die Burg sowie Vogtei und verschiedene Gerichtsrechte erwarb. Dazu gehörte auch die Herrschaft über die Juden und das Judendorf [9] sowie das Recht, entsprechende Schutzgelder zu verlangen. Wenn die Kleidungsvorschriften der Juden in Aschersleben erst ab den 1460er Jahren verschärft wurden, wie es die Figuren implizieren, dann standen zu dieser Zeit die Juden schon mehr als 20 Jahre unter der Herrschaft des Rates der Stadt und erlebten gerade ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Blüte.

Die Figuren am Westportal der Kirche sind somit nicht nur eine Abbildung der Geschichte des Kirchenheiligen, sie sind auch als historische Texte zu verstehen. Sie zeigen eine Darstellung von Juden innerhalb der christlich geprägten Stadtgesellschaft als Teil komplexer Zusammenhänge politischer, ökonomischer, religiöser und sozialpsychologischer Strukturen, die, wie in vielen anderen Orten in Mitteldeutschland, Ende des 15. Jahrhunderts auch hier in der Vertreibung der Juden aus der Stadt mündeten.

[1] Udo W. Stephan und Wofgang Schlotthauer: 500 Jahre Stadtkirche St. Stephani zu Aschersleben. Die Geschichte insonderheit ihrer Türme. Aschersleben 2006, S. 71.

[2] Georg Dehio: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Der Bezirk Halle. Berlin 1978, S. 13.

[3] Joachim Schäfer: Art. Stephanus. In: Ökumenisches Heiligenlexikon. Online: https://www.heiligenlexikon.de/BiographienS/Stephanus.htm [zuletzt geprüft: 15.05.2021]. Vgl. auch Apg. 6–7.

[4] David Löblich: Die jüdischen Gemeinden in Aschersleben (1325-1700). Bachelorarbeit. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. SoSe 2020 (nicht veröffentlicht).

[5] Regine Lotzmann: Heiliger schwebt gen Himmel. In: Mitteldeutsche Zeitung vom 07.09.2007. Online verfügbar unter: https://www.mz-web.de/aschersleben/ heiliger-schwebt-gen-himmel-8657172 [zuletzt geprüft am 03.02.2018].

[6] Der Begriff des Stigma-Symbols wird hier nach der Definition von Robert Jütte verwendet: „Zeichen […], die besonders wirksam darin sind, Aufmerksamkeit auf eine prestigemindernde Identitätsdiskrepanz zu lenken, und die ein andernfalls kohärentes Gesamtbild durch konsequente Reduktion der Bewertung zerbrechen lassen.“ [Nach Robert Jütte: Stigma-Symbole. Kleidung als identitätsstiftendes Merkmal bei spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Randgruppen (Juden, Dirnen, Aussätzige, Bettler). In: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 44 (1993), S. 65–89, hier S. 66.].

[7] Ebd., S. 69–70.

[8] Ebd., S. 70–72.

[9] Nach Abschrift des Burgkaufbriefs bei Karl von Zittwitz: Chronik der Stadt Aschersleben. Aschersleben 1835, S. 85–88.