Die Spindestube lebt

Kommentar zum Beitrag von Carsten Passin in Heft 4-2019, S. 24 – 26

Christian Zschieschang | Ausgabe 2-2020 | Volkskunde

Dorf in der Dübener Heide. Foto: Christian Zschieschang 
Beim Stricken. Foto: Christian Zschieschang 

Vor vierzig Jahren überlegten sich in einem kleinen Dorf in der Dübener Heide etliche Frauen, dass die Spinde, die damals vorwiegend die Älteren noch betrieben, nicht einschlafen sollte. Es waren die etwa Vierzigjährigen, die dann diese Tradition aufrechterhielten, die sich freilich schon längst verändert hatte: Es wurde nicht mehr gesponnen, sondern gestrickt und gehäkelt. Man traf sich mehr oder weniger ganzjährig, und zwar ohne unverheiratete Mädchen. Auch ging es nicht mehr so zu wie in der Frühen Neuzeit, wo bei den Kirchenvisitationen die Unsittlichkeit der „Rockenstube“ regel­mäßig beanstandet wurde.

Soviel ich weiß (ich war damals gerade eingeschult), handelte es sich um eine reine Selbstorganisation ohne jede Einwirkung von außen. Bei etwa 130 Einwohnern, die der Ort damals hatte, war es sehr übersichtlich. Man brachte nur sein Strickzeug und vielleicht eine Kleinigkeit zu essen mit. Da man sich wechselweise bei den Teilnehmerinnen zuhause traf, brauchte man keinen öffentlichen Raum, keine Organisation, keine finanziellen Mittel. Infolge der Größe der Wohnzimmer blieb die Teilnehmerzahl freilich begrenzt. Es waren also nicht „die“ Frauen, die sich da regelmäßig trafen. Dennoch stand dieser Kreis mehr oder weniger allen im Ort Lebenden potentiell offen. Dass es bei näherem Hinsehen auch in den Dörfern subtile Gruppenbildungen gibt, dass z. B. Alteingesessene oder Zugezogene mitunter eher unter sich bleiben, dass erst recht die gern romantisierte Dorfgemeinschaft früherer Zeiten mit Hüfnern, Großkossäten, Kleinkossäten, Häuslern usw. in voneinander abgegrenzte Stände fragmentiert war, und dass vor diesem Hintergrund generell zu bezweifeln ist, ob man jemals alle Einwohner in irgendetwas einbinden kann, das nicht auf Zwang beruht, ist hier nicht weiter auszubreiten. Entgegen den Journalistenfloskeln ist eben nie „das ganze Dorf“ auf den Beinen. Mindestens ein paar Leute, meist aber deutlich mehr, fehlen aus den verschiedensten Gründen garantiert immer.

Bei unserer Spinde entschieden aber viel banalere Gründe über die Teilnahme. Meine Mutter z. B. machte zunächst gern mit, bald wurde es ihr neben Arbeit, Garten und Hausbau zu viel, jede Woche noch einen Abend lang wegzugehen. Als sie daher nach kurzer Zeit wieder ausstieg, zog sie sich den galligen Unmut einer der Initiatorinnen zu. Das bedeutete aber keinen Ausschluss aus der Gemeinschaft. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie ohne weiteres wieder mitmachen können.

Nur wenige Kilometer entfernt von zwei Veranstaltungsorten des gewiss verdienstvollen Projekts „Spindestube Dübener Heide“ überdauerte die Spinde also bis heute ganz von selbst, unbeachtet von allen Einrichtungen und Initiativen zur Förderung des ländlichen Raums. Ähnliche Gruppenbildungen gibt es sicher auch andernorts. Das soziale Leben im Dorf ist also keineswegs arm und Entwicklungshilfe ist offenbar nicht immer nötig, wobei solche Eigeninitiativen auch ein Recht haben dürften, einfach so zu existieren, ohne externes Eingreifen und öffentlichen Widerhall.

Erst jetzt treten die alt gewordenen Teilnehmerinnen allmählich von der Lebensbühne ab. Die jüngere Generation, offenbar überwiegend weniger strickaffin, trifft sich seit einiger Zeit ebenfalls, aber zur Yogagruppe, und zwar in einem zeitgemäßen Rahmen: Im öffentlichen Veranstaltungsraum der Ortschaft. Doch wer weiß, vielleicht raffen auch sie sich ganz von selbst auf wie die Frauen vor vierzig Jahren?