Friedhöfe neu denken und gestalten

Eine Lobby für ihre ökologische und kulturelle Beachtung und Aufwertung

von Hans-Joachim Döring | Ausgabe 4-2017

Klassischer Friedhof mit Blühwiesenansaat im Hintergrund, Altmark; Foto: H.-J. Döring, Bildquelle: Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum
Friedhofsplan Apenburg; Plan: Gartenakademie Sachsen-Anhalt, Gut Zichtau; Bildquelle: Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum
Friedhof mit Kurzrasen: Foto: S. Schreiter; Bildquelle: Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum
Friedhof mit Blühwiese, Foto: S. Schreiter; Bildquelle: Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum
Blühwiese Friedhof Altmark; Foto: H.-J- Döring; Bildquelle: Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum
Blühwiese; Foto: S. Schreiter; Bildquelle: Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum

Es wird nicht nur zu wenig getauft, es wird auch zu wenig gestorben. Jedenfalls wenn es um die Betrachtung der herkömmlichen Funktion von Friedhöfen geht, Tote zu beherbergen. Darum müssen wir neue Funktionen der Friedhöfe in den Blick nehmen, sie neu sehen und neu denken lernen, um sie neu gestalten, erhalten und weiterentwickeln zu können.

Die Friedhöfe haben in unserem Land und in unseren Kirchen eine lange Tradition aber keine gute Lobby. Die Kirchengebäude sind weithin wunderbar hergerichtet, die Glocken gezählt und geputzt, die Orgeln alle säuberlich gestimmt. Dem Inventar geht es gut wie seit Jahrhunderten nicht. Von den Situationen der Gemeinden muss an anderer Stelle geredet werden. Aber: den Friedhöfen geht es nicht gut. Sie stehen unter hohem ökonomischen Druck. Sie müssen sich rechnen, in den Kirchengemeinden stärker als bei den politischen Kommunen. Sie sind arbeitsintensiv bei schwindenden ehrenamtlichen Kräften und stehen beständig unter Beobachtung der Öffentlichkeit. Dabei gehören die Friedhöfe wie die Kirchhöfe um die Gotteshäuser herum zum Kernbestand sichtbarer Lebensäußerung der verfassten Kirche und der Ortschaften.

Friedhöfe sind nicht nur Fenster ins Jenseits, wie man früher gern sagte, sondern vor allem Orte für die Hinterbliebenen, also die Lebenden. Leben und Tod sind nicht selbstverständlich Gegensätze. Tod und Trauer können gut im Lebendigen eingebettet sein. Leben kann im Gegenüber und Dialog mit dem Tod an Kraft und Demut gewinnen.

Gewinner einer gut gestalteten Einheit von Kirchengebäude und Kirch- bzw. Friedhof sind die Ortschaften in ihren zentralen Bereichen und die Stadtteile mit ihren grünen Lungen und Oasen für Tiere, Pflanzen und Menschen.

Einige Zahlen

Wie bedeutend Friedhöfe und insbesondere die kirchlich verwalteten sind, zeigen einige Zahlen: Von den ca. 32.000 Friedhöfen in Deutschland, mit einer Gesamtfläche von ökologisch interessanten 377.249 km² (diese Fläche entspricht 52.835 Fußballfeldern), stehen 12.400 unter kirchlicher Verwaltung – davon 8.800 in evangelischer und 3.600 in katholischer Regie. Am verbreitetsten sind kirchliche Friedhöfe in Ostdeutschland und Bayern. Die absolut meisten der kirchlichen Friedhöfe liegen in der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands (EKM). 1.847 Friedhöfe oder 15 % aller kirchlich verwalteten Gottesäcker der Bundesrepublik befinden sich in Sachsen-Anhalt und Thüringen. In der EKM leben aber nur knapp 3 % der deutschen Protestanten. Die Evangelisch-Lutherische Kirche von Sachsen betreut 1.300 Friedhöfe und die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-Obere-Lausitz (EKBO) 1.250. Der stattlichen Zahl kirchlich verwalteter Friedhöfen sehen die nüchternen Sterbezahlen gegenüber: 2015 starben im EKM-Gebiet 61.199 Menschen. Das entspricht 6,6 % aller 923.950 Todesfälle in Deutschland. 2015 gab es 9.718 christliche Bestattungen in der EKM. Nur ein Teil der Bestattungen fand auf kirchlich verwalteten Friedhöfen statt. Die durchschnitten Beisetzungszahlen pro Friedhof liegen im unteren einstelligen Bereich. Bis 2030 – so die gängigen Prognosen – sinken die Sterbefälle um ein Drittel. Die evangelischen Bestattungen werden noch drastischer sinken.

Friedhöfe unter Druck

Friedhöfe stehen somit mehrfach unter Druck, nicht nur wegen des demografischen Wandels, der in Mitteldeutschland als deutlicher Bevölkerungsschwund auftritt. Weniger Menschen bedeuten weniger Sterbefälle, weniger Bestattungen, weniger Grab- und Urnenflächen und damit weniger Einnahmen. Allerdings auch mehr freie Flächen! Hinzu kommt die deutlich veränderte Bestattungskultur in den letzten Jahrzehnten mit einem Wandel von der Erdbestattung im Sarg hin zur grablosen, pflegefreien und anonymen Beisetzungsstätte heute. So entsteht viel Raum und Platz auf unseren Friedhöfen. Hinzu kommen eine gänzlich veränderte Trauer-, Erinnerungs- und Verweilkultur der Familien und Hinterbliebenen auf den Friedhöfen und häufig wechselnde geografische Lebensschwerpunkte. Dies korrespondiert mit gewandelten  – nicht nur verarmten, auch erweiterten – Religiositäts-, Sinn- und Transzendenzvorstellungen. Darauf reagieren regelmäßig Gesetzgeber und zunehmend freie Anbieter von Grab- und Ruhestätten mit See- und Baumbestattungen, Ruhe- und Friedwäldern. Was bei den herkömmlichen Friedhöfen bleibt, sind Pflegeaufwand, Unterhaltungskosten und sinkende Einnahmen. Friedhöfe werden zu Kostenfaktoren und zur Last.

Neuen Chancen für Friedhöfe

Friedhöfe sind und bleiben eine Aufgabe, unabhängig vom Druck, er auf ihnen lastet. Wir können ihre Situation verbessern, indem wir sie neu sehen lernen. Durch ihre Lage im Ort und durch die Geschichten, die die Grabsteine erzählen, sind unsere Friedhöfe einzigartige kulturelle Schatzkammern und Erinnerungsorte. Darum gehören alte Grabsteine nicht in den Abfallcontainer, sondern sind als Biographie- und regionalgeschichtliche Zeugnisse entlang der Mauern aufzustellen bzw. als Grabsteininseln auf den Friedhof zu beherbergen. So können Friedhöfe Erzählorte für stumme Geschichten und Frageorte für nicht erzählte Ereignisse sein, Verweilorte für das Gespräch mit dem eigenen Leben oder Orte für den Austausch mit einem Gegenüber, einem größeren Du oder Gott.

Friedhöfe gehören zum Dorfbild und prägen es markant. Sie „gehören“ – auch wenn sie kirchlich betrieben werden – „allen“. Kirchhöfe sind und bleiben Vorsaal und Passagen zu den Kirchen. Sie stimmen mit ihren meist denkmalgeschützten Ensemblebestandteilen auf sie ein.

Neben diesen eher klassischen Funktionen der Friedhöfe als Besinnungspark und Troststube gibt es neue Chancen, die entdeckt und hier kurz erwähnt werden sollen: Zukünftig wird – nicht nur in den Städten – der Friedhof als Freizeit- und Erholungsraum an Bedeutung gewinnen. Da viel Platz ist bzw. frei wird, können immer öfter geeignete Areale für angemessene Feiern und Zusammenkünfte ein- und hergerichtet werden. Friedhöfe eignen sind zudem hervorragend, Kunst vorübergehend oder auf Dauer zu präsentieren.

Vor allem sind Friedhöfe aber Oasen für Tiere, Pflanzen und Menschen. In biologisch immer ärmer werdenden Landschaften werden weithin unbebaute bzw. unversiegelte Flächen in Dörfern und Städten zu ökologischen Inseln. Vielerorts ist der Baumbestand der Friedhöfe herausragend gut. Schon jetzt gibt es „ungenutzte“ Flächen und Komposthaufen, die vielfältiges Leben fördern. Weithin dominiert noch immer der ausgeräumte Friedhof mit Kurzrasenflächen, Schotterarealen und aufgeräumten Ecken. Nur die ehrenamtlichen Kräfte, die alles kurz halten können, werden weniger und die professionellen Kräfte für die Pflege werden immer teurer.

Mittel- und langfristig könnten die für Bestattungen nicht mehr benutzten Flächen bewusst umgestaltet oder in für andere Nutzungsformen freie Areale weiterentwickelt werden. Wo man nicht mehr 6 oder 10 mal pro Jahr den Rasen kurz schneidet sondern ihn aus Geld- und Arbeitskräftemangel oder ökologischer Einsicht wachsen lässt, wächst Leben und es entstehen Brutstätten biologischer Vielfalt, grüne Oasen, Sekundärbiotope und Rückzugsgebiete für Pflanzen und Tiere. Das ist ein langwieriger Prozess, der fachlich begleitet, strukturell unterstützt und kommuniziert werden muss. Freilich kann er sich aus Erschöpfung und Geldmangel allmählich auch selbst einstellen. Wachsen lassen könnte eine Antwort sein.

Das Projekt „Lebendige Friedhöfe“ als ökologische Chance?

Um den Prozess der Umgestaltung besser verstehen zu können, wurde auf Anregung des Kirchenkreises Salzwedel 2014 das Projekt „Lebendige Friedhöfe“ gestartet, als Antwort darauf, dass vielerorts von „sterbenden Friedhöfen“ gesprochen wird, ökonomisch wie ökologisch. Die freien Flächen sollen zur Verringerung des Pflegeaufwandes, für eine ökologische Aufwertung und zur Bewahrung der Schöpfung genutzt werden. Nicht benötigte Rasenflächen wurden durch die Neuansaat von blühenden Rasenmischungen mit Grasnelken, Hopfenklee, Wiesen-Margeriten und einheimischen Kräutern in artenreiche Wiesen verwandelt. Schöne Blühaspekte machen die Friedhöfe von März bis November für Besucher attraktiv und verbessern das Nahrungsangebot für Insekten und Vögel. So ist das Ziel.

Partner dabei waren der Fachbereich Landschaftsökologie der Hochschule Anhalt in Bernburg-Strenzfeld und die Gartenakademie Sachsen-Anhalt, Gut Zichtau. Auf drei Friedhöfen wurden diverse Saatmischungen auf mehreren Versuchsflächen ausgebracht und getestet. Ein Friedhof wurde neu konzipiert. Dafür wurde der „Friedhof im Friedhof“ entwickelt. Nur knapp 10 % der Gesamtfläche des Friedhofes wurden gemäß der Belegprognose für die nächsten 30 Jahre als kompaktes Grab- und Urnenfeld gestaltet und hervorgehoben. Die restlichen 90 % der Fläche stehen nun zur sukzessiven und allmählichen Umgestaltung zur Verfügung. Bereichstrennung nennen das die Fachleute. Begrünungen mit Hecken und Rankern wurden vorgenommen und Blühwiesen angelegt. Bei einem weiteren Friedhof wurde eine große Fläche mit pflegeleichtem Trockenrasen eingerichtet und der Gottesacker zur Feldflur hin mit einer Hecke aus einheimischen beerentragenden pflegeleichten Sträuchern und Bäumen begrenzt.

Ein erstes Fazit lautet: Alles durchwachsen! Die Neuanlage von Blühwiesen ist aufwendig und kein Selbstläufer. Es muss nur zwei bis drei Mal gemäht werden, dafür aber mit guter Kenntnis und gutem Gerät. Aber Friedhöfe haben weitreichende und umfängliche Potentiale zur ökologischen Aufwertung. Das Projekt muss weiter beobachtet und entwickelt werden, denn Wachsen lassen braucht Zeit. Eine weitere Erkenntnis ist, dass die Gemeinden dankbar sind für fachliche Beratung rund um den Friedhof. Zeitweise gab es ambulante Beratungen mit Landschafts- und Friedhofsgestaltern, die stark nachgefragt wurde. Da Friedhöfe sensible und öffentliche Angelegenheiten sind, bedarf es guter Kommunikation. Gelingt diese, werden die Beteiligten mutiger und neue Konzepte finden Akzeptanz. Zudem lässt sich ein „lebendiger Friedhof“ gut mit dem Projekt „lebendiger Kirchturm“ verbinden. In diesem Projekt des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) werden Kirchtürme für Gebäudebrüter offengehalten. Auf Friedhöfen können sich die Bewahrung der Schöpfung und die Bewahrung von Kulturgut – Naturschutz und Denkmalschutz – die Hände reichen.

Die Vision eines lebendigen Friedhofes: An Mauern und in Randbereichen siedeln sich Kräuter an. Schmetterlinge flattern. Blüten- und fruchttragende Beerengehölze ersetzen nach und nach Koniferen. Der Baumbestand wird gesichert und erweitert. Es gibt Todholzecken, Laub ist kein Feind. Sitzbänke laden zum Verweilen ein. Wassertränken erleichtern das Beobachten der Vögel. Grabsteine von abgelaufenen Grabstellen werden würdig abgelegt. Igel, Iltis und Fledermaus erhalten Unterschlupf. Ein liebevolles Werden und Vergehen kennzeichnet den lebendigen Friedhof. Kanten, Marmor und Beton sind auf dem Rückzug. Im „Lebendigen Kirchturm“ nebenan nisten Eule und Falke. Öfter als zur Grabpflege kommen die Menschen zur Erholung und aus Freude an der Natur. Dafür engagieren sie sich ideenreich bei Pflegeeinsätzen. Und beim Besuch am Ewigkeitssonntag freut man sich darauf, irgendwann hier begraben sein zu können. Erkennbar als Einzelner, aber eingebettet und allmählich aufgehend in ein gewachsenes Ganzes.

Dafür braucht es eine Lobby

Dafür braucht es eine Lobby, die Kirchengebäude und Kirchhof bzw. Friedhof zusammen betrachtet, den Weg vom Totenfeld zum Lebensacker zügig aber ohne zu stolpern geht und die Funktionen des Friedhofes neu gewichtet. Friedhofentwicklungskonzepte sind notwendig. Die Landeskirche könnte den ökonomischen Druck auf Friedhöfe mindern und die ökologischen Potentiale fördern. Die fachliche Beratung kann das Neue Denken auf unseren Fried- und Kirchhöfen anregen und begleiten. Die Kirchenbauvereine wie auch die Orts-, Heimat- und Kulturvereine können dabei natürliche Verbündete und fordernde Ideengeber der Kirchengemeinden wie der Kommunen sein.