Geburtswehen der deutschen Demokratie – Teil 2

„Die teuer errungene Freiheit gilt es zu erhalten!“ – Das Wirken des Demokraten Wilhelm Loewe von der März­revolution bis zur Septemberkrise 1848

von Dieter Horst Steinmetz | Ausgabe 3-2016 | Geschichte

St.-Stephani-Kirche und Kirchplatz in Calbe/Saale um 1850; Foto Heimatstube Calbe/ Saale
Konstituierende Sitzung der Preußischen Nationalversammlung in der Sing-Akademie zu Berlin 1848, in: Illustrierte Zeitung, Berlin 1848, XI. Band, Nr. 265. Foto: Wikipedia, Sing-Akademie, Preuß. Nationalversamml.
Schlossanger in Calbe/Saale. Hier fand eine Kundgebung a, 6. August1848 statt, in deren Folge es in Calbe zu blutigen Unruhen kam. Foto: H.-D. Steinmetz
Westseite des Marktplatzes in Calbe/ Saale. Hier fanden die Kundgebungen am 26. März und 6. August 1848 statt. Foto: H.-D. Steinmetz
Demokratische Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung. Lithographie von Wilhelm Voelker 1849. Dr. Wilhelm Loewe aus Calbe links unten im Bild. Wikipedia: Politische Parteien in Deutschland 1848–1850 Bilderrevolution0226, Urheber: Ws-KuLa, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Ludwig Karl Eduard Schneider. Lithographie in: Ferdinand Steinmann, Geschichte der Revolution in Preußen. Berlin 1849. Wikipedia.
Sitzung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche im Juni 1848, kolorierte Zeichnung von Ludwig von Elliott, 1848. Foto: Wikipedia, File: Frankfurt Nationalversammlung 1848.

Wenige Monate nach der gefeierten Rückkehr des Schönebecker Bürgermeisters Ludwig Schneider vom Ersten Preußischen Vereinigten Landtag 1847[1] verbreitete sich die Kunde von der Februarrevolution 1848 in Frankreich. Das aufblühende Pressewesen in der Vormärzzeit hatte eine rasche Ausbreitung der Nachrichten möglich gemacht. Durch den fehlgeschlagenen Vereinigten Landtag in Berlin und den von der preußischen Krone hervorgerufenen handfesten Verfassungskonflikt, zu dessen Offenlegung auch Ludwig Schneider als einer der 138 „Verwahrer des Rechts“ beigetragen hatte, verschärften sich die während der fürstlichen Restaurationsperiode auftretenden Spannungen. Das sich konsolidierende deutsche Bürgertum des beginnenden Industriezeitalters strebte nach nationalstaatlicher Einheit, nach bürgerlichen Freiheiten sowie nach politischer Repräsentation und Konstitution. Auch die sich herausbildende Arbeiterschaft und die übrigen unteren Schichten der Bevölkerung meldeten sich als „Vierter Stand“ immer mehr zu Wort. Verschärfend in dieser Situation der allgemeinen politischen und sozialen Unzufriedenheit wirkten die Landwirtschaftskrisen, Missernten und Hungerkatastrophen der 1840er Jahre. Die Verarmung der unteren Bevölkerungsschichten, „Pauperismus“ genannt, zwang viele deutsche Bauern, Handwerker und Arbeiter zur Auswanderung, was unter anderem auch Wilhelm Loewe in seinen Vorträgen in Calbe heftig kritisiert hatte.[2] In und um Calbe kamen noch die beiden „Jahrhunderthochwasser“ der Saale und Elbe von 1845 hinzu, die zur starken Verteuerung der Lebensmittel und besonders in den Dörfern des Kreises zu Hungersnöten und Verarmung führten[3].

Insbesondere der Sturz der Monarchie in Frankreich im Februar 1848 trug zum Ausbruch der deutschen Revolution bei. In den Dörfern des Kreises Calbe kam es im Frühjahr 1848 zu Protestaktionen und Revolten[4], während es in den Städten, so auch in Calbe, vorerst „diszipliniert“ bei Volksversammlungen und Petitionen blieb.

Eine der ersten Maßnahmen während der Revolutionszeit in Calbe war die Bildung einer Kommunalgarde am 17. März. Wilhelm Loewe wurde zum Stadt-Kommandeur und Adolph Nicolai zu einem der vier Hauptleute gewählt.[5]

In Calbe verfolgte man die März-Ereignisse in Berlin aufmerksam. Die vielen Toten und Verwundeten des 18. März riefen bei den Calbensern Bestürzung und Solidaritätsgefühle hervor. Sie wollten nicht abseits stehen und veranstalteten am Sonntag, dem 26. März, eine Gedächtnisfeier zu Ehren „der in Berlin für die Freiheit gefallenen Helden“. Der Vormittag dieses Tages war einem Gedenkgottesdienst in der mit zwei schwarz-rot-goldenen Fahnen geschmückten Stadtkirche „St. Stephani“ vorbehalten.[6] Anschließend zogen die Calbenser aus der Kirche auf den Marktplatz, wo die beiden schwarz-rot-goldenen Banner vor dem Rathaus aufgestellt wurden. Der Platz „war von Menschen überfüllt, und die auf dem Markt stehenden Häuser waren an allen Fenstern, selbst in den Dachluken, von Zuschauern besetzt“.[7] Von der Rathaustreppe aus hielten Bürgermeister Kleist mit dem Landrat von Steinäcker an seiner Seite und Dr. Wilhelm Loewe eine Rede. Die politisch trivialen Ausführungen Kleists endeten mit einem dreifachen Hoch auf „unseren geliebten König“. Danach sprach der Anführer der Calber Liberalen, Wilhelm Loewe, zu den Versammelten. Jahrhunderte lang sei Deutschland zerrissen und ein Spielball der Großmächte gewesen. Die „teuer errungene Freiheit“ gelte es zu erhalten und die feste Einheit Deutschlands „als ein mächtiges Ganzes“ zu erwirken. Auch er brachte drei „Hoch“-Rufe aus, jedoch nicht auf den König, sondern auf ein einheitliches deutsches Vaterland, in welche die Calbenser „mit voller Begeisterung“ einstimmten.[8] Nach der Segnung der schwarz-rot-goldenen Banner durch den Super­intendenten und einem anschließenden gemeinsamen Gesang sollte die Feier beendet sein, aber freisinnige Bürger brachten auf Wilhelm Loewe und seine mitreißende Rede ein Hoch aus. „Wie ein elektrischer Schlag stimmte das ganze Volk ein.“[9]

Am 11. April 1848 kam in allen deutschen Staaten die Wahlverordnung heraus, und in den am 1. Mai stattfindenden Urwahlen, an denen die wahlberechtigten Männer aller Schichten teilnahmen, wurden Wahlmänner bestimmt, die am 8. und 10. Mai die Abgeordneten für die Preußische Nationalversammlung in Berlin bzw. für die Deutsche Nationalversammlung in Frankfurt/Main wählen sollten. In die Berliner Versammlung wurde am 8. Mai der Schönebecker Bürgermeister Ludwig Schneider[10] und zu seinem Stellvertreter der Linksliberale Hermann Adolph Immermann gewählt. Zwei Tage später bestimmten die Wahlmänner Dr. Wilhelm Loewe zum Deputierten in die Frankfurter Nationalversammlung[11], sein Stellvertreter wurde der Tuch-Fabrikant und Ratmann Adolph Nicolai aus Calbe.[12] Am 18. Mai 1848 fand die Eröffnung der gesamtdeutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche unter großer Anteilnahme der Bevölkerung statt. Die Preußische Nationalversammlung begann am 22. Mai ihre Tätigkeit in der Berliner Sing-Akademie (heute: Maxim-Gorki-Theater). Die Freunde Wilhelm Loewe und Ludwig Schneider blieben in ihren neuen, Hunderte von Kilometern voneinander entfernten Wirkungsorten brieflich in ständigem Kontakt. Beide Nationalversammlungen hatten als Hauptaufgabe, eine Verfassung zu erarbeiten, eine gesamtdeutsche bzw. eine preußische. Deshalb wurden sie auch offiziell als „verfassungsgebend“ bezeichnet. Darüber hinaus musste die Frankfurter Versammlung sich um die Einsetzung einer zentralen Reichsregierung kümmern und Reichsgesetze vorbereiten. Ein schwieriges Problem war das Verhältnis der künftigen Reichs-Exekutive zu den partikularen Regierungen. Ein Berg von Aufgaben lag vor der Frankfurter Nationalversammlung, der wohl in wenigen Wochen auch bei noch so großer, durchaus bewundernswerter Disziplin, welche die meisten Abgeordneten an den Tag legten, nicht zu bewältigen war. Wilhelm Loewe gehörte in der Deutschen Verfassungsgebenden Nationalversammlung zunächst zur Fraktion der Demokraten, die sich nach ihrem internen Versammlungslokal „Deutscher Hof“ nannte. Ludwig Schneider war in der Berliner Versammlung anfänglich bei den Linksliberalen, bald aber schon bei den konsequenten Demokraten („Äußerste Linke“)[13] zu finden. In dieser Preußischen Verfassungsgebenden Versammlung saß er im Plenums-Sekretariat und hatte die Funktion eines Schriftführers inne. Als solchem war es ihm beinahe unmöglich, Reden im Parlament zu halten. Er hatte zusammen mit seinen drei „Kollegen“ die Aufgabe, Sitzungsprotokolle zu redigieren, diese drucken und veröffentlichen zu lassen, Eingaben und Festlegungen zu verlesen sowie die Namen der Abgeordneten bei Abstimmungen festzuhalten. Nur in äußerst bedrohlichen politischen Situationen wie im Oktober 1848 beteiligte Ludwig Schneider sich mit eigenen Beiträgen an den Debatten.[14]

Am 28. Juni fiel in der Frankfurter Paulskirche die erste bedeutende Entscheidung: Die Abgeordneten-Mehrheit beschloss die Wahl eines zunächst interimistischen gesamtdeutschen Staatsoberhauptes, dessen Funktion Erzherzog Johann von Österreich als „Reichsverweser“ übernahm. Damit war schon die von der Parlamentsmehrheit angestrebte Form des deutschen Staates skizziert worden: eine großdeutsche konstitutionelle Monarchie.

Inzwischen hatten sich die gegenrevolutionären Kräfte im Juni und Juli mit der Niederschlagung der Volksaufstände in Prag, Paris und Norditalien zu formieren begonnen. In den deutschen Ländern begehrten im Sommer 1848 die unteren Volksschichten auf. Sie sahen besonders nach der Niederschlagung des Pariser Arbeiteraufstandes im Juni das Ende der Revolution nahen, ohne dass ihre Forderungen nach Verbesserung ihrer Lebenslage und einer bescheidenen politischen Mitbestimmung erfüllt worden waren. Die Frankfurter Nationalversammlung offenbarte die eigene Ohnmacht, als das Fehlen eines Reichsheeres dazu führte, dass an der Nationalversammlung vorbei preußische Truppen Krieg um Schleswig-Holstein gegen Dänemark führten. Die Fürsten demonstrier­ten, dass sie einen funktionierenden Staats­apparat und die militärische Macht immer noch in den Händen hielten. Die politische Machtlosigkeit der Deutschen Nationalversammlung, die sich in langwierigen Debatten um die Schaffung von Reichsorganen und Reichsgesetzen erging, und das Wiedererstarken der konterrevolutionären Kräfte waren allzu offensichtlich geworden.

Die erste Rede Wilhelm Loewes in der Deutschen Nationalversammlung am 4. Juli 1848 war bestimmt von der großen Sorge, dass die aktuellen Diskussionen um die Grundrechte der Staatsbürger sich zu sehr in die Länge ziehen würden, während Eile dringend geboten war. Seit 1815 habe man die Erfordernisse einer neuen Gesellschaft diskutiert, und das Volk habe seine Meinung mit den Waffen in den Händen kundgetan. Nun gelte es, die Grundrechte zu fixieren. Sollte das „Provisorium“ so weitergehen, dann würde die Situation für die liberale Sache immer gefährlicher.[15] Am 10. Juli hielt Wilhelm Loewe in der Frankfurter Paulskirche eine Rede, in der er staatsbürgerliche Rechte für das Volk einforderte. „Sie wissen so gut wie ich, wie mißtrauisch im Volke man gegen Versprechungen geworden ist“, rief er den Abgeordneten zu. Staatsbürgerrechte in einem geeinten Vaterland für diejenigen, „deren Hände von der Arbeit mit Schwielen bedeckt sind“, würden zum Reichtum eines Volkes führen. Zum Abschluss seiner mit anhaltendem Beifall bedachten Rede beschwor Loewe die Deputierten, sie könnten ein noch so großartiges Staatsgebilde aufbauen, aber „ohne seine große, breite, wahre Grundlage, ohne den deutschen Staatsbürger, der wahrhaft frei und deutsch ist“, sei alles „nichts als ein Luftschloß!“[16]

Im Kreis Calbe kam es im August 1848 zu einer Reihe von Aufständen und Unruhen. Dabei hätten sich die Magistrate und Gemeindevorstände auffallend zurückgehalten, ja, die Volksbewegung sogar mit gewissem Wohlwollen gewähren lassen, hieß es in polizeilichen Spitzelberichten. Auch der „Mühlenbesitzer Brückner junior“ habe die Tumulte in Calbe initiiert und unterstützt.[17] Die Konservativen und Königstreuen in Calbe hatten im August 1848 Morgenluft gewittert und von sich aus die Revolution für beendet erklärt, die liberale März-Bürgerwehr aufgelöst und eine neue gegründet, die sie vor den Unruhen beschützen sollte.

Diese Zuspitzung hing mit dem unverkennbaren Vormarsch der konterrevolutionären Kräfte seit Juli/August 1848 zusammen. Besonders deutlich wurde das nach dem Erlass der neuen „Provisorischen Zentralgewalt“, auch erwartungsvoll „Reichsregierung“ genannt, in den Einzelstaaten durch Truppen-Paraden am 6. August dem „Reichsverweser“ zu huldigen. Demonstrativ schloss sich das preußische Militär auf Weisung der Krone davon aus.[18] Die reaktionäre Kehrtwende in Preußen war nun offen sichtbar, zumal wenige Tage zuvor, am 31. Juli, preußisches Militär in der schlesischen Stadt Schweidnitz 14 Bürgerwehr-Leute erschossen und 32 verwundet hatte. In dieser Situation fand am 6. August 1848 in Calbe eine städtische Feier des Magistrats und der neu gegründeten, antiliberalen Bürgerwehr zu Ehren der «begonnenen Einheit» Deutschlands statt. Die offiziellen Festtagsreden in Calbe auf dem Marktplatz und dem Schlossanger wurden durch Pfiffe und Geschrei unterbrochen. Die Arbeiter der Papierfabrik und der Saalemühle sowie ärmere Tuchmacher riefen den zahlreich versammelten Calbensern zu, sich auf ihre Seite zu stellen und sich gegen die Beschlüsse der Frankfurter Nationalversammlung zu erheben. Nichts geschah. Abends aber, während in den Festsälen der Stadt Bälle und Bankette stattfanden, eskalierte die Situation. Eine wütende Menge stellte sich der Bürgerwehr, die mit Hieb- und Stichwaffen ausgerüstet war, entgegen. Es kam zu einem blutigen Gerangel. Zwölf Aufrührer wurden verhaftet und später, nach dem Sieg der Gegenrevolution, zu längeren Gefängnisstrafen verurteilt.[19]

Wie sehr sich inzwischen die politischen Gegensätze auch in der Frankfurter Nationalversammlung vertieft hatten, verdeutlichen die Ereignisse vom 7. und 8. August in der Paulskirche. Als der demokratische Deputierte Lorenz Brentano auf die reaktionäre Rolle des Prinzen von Preußen einging, kam es zu Tumult- und Prügel-Szenen in der Nationalversammlung, und die 56. Sitzung endete im Fiasko. Am nächsten Tag stellte das rechte Lager den Antrag, Brentano wegen Beleidigung des preußischen „Volksstammes“ zur Rechenschaft zu ziehen. Brentano erwiderte, dass wohl hinter der aufgebauschten Aufregung das Komplott einer Berliner Clique stecke, den Prinzen von Preußen auf den Thron zu heben, was wiederum helle Aufregung in der Versammlung hervorrief.[20] Loewe hielt dazu seine Rede am 10. August. Das preußische Volk, das auch sein Volk sei, wolle die deutsche Einheit und die Zentralregierung, es sei ausdrücklich gesamtdeutsch gesinnt. Die Ehre dieses geachteten Volksstammes sei nicht zu vergleichen mit der Ehre eines noch so hochgestellten Individuums. Eine Beleidigung Preußens habe niemals stattgefunden, denn schließlich sei der Prinz von Preußen „jetzt preußischer Staatsbürger, wie alle andern Staatsbürger auch“. Wilhelm Loewe bat die Abgeordneten inständig, dem „giftigen, tödlichen Haß“, der in den vergangenen Tagen in der Versammlung geherrscht habe, zu entsagen. Nur gemeinsam könne das Werk gelingen: „Die Einheit unseres Vaterlandes.“[21]

Bald wurde die politische Ohnmacht des Frankfurter gesamtdeutschen Parlaments noch deutlicher. Am 26. August 1848 war unter dem Druck Russlands und Großbritanniens ein Waffenstillstand zwischen Preußen und Dänemark zustande gekommen. Dabei hatten sich der preußische König und seine Kamarilla nicht nur eigenmächtig über die nationalen Interessen vieler Deutscher hinweggesetzt, sondern auch die Deutsche Verfassungsgebende Nationalversammlung in Frankfurt und die „Provisorische Zentralgewalt“ anmaßend übergangen. In Anbetracht dieser Tatsache hielt Loewe am 16. September eine lange Rede gegen die Ratifikation des Vertrages; eine Ratifizierung sei ein Verrat am Volk, dem die Versammlung das Wort gegeben hätte. Die Erklärung wurde mit großem Beifall der Liberalen und Demokraten bedacht.[22] Mit einer knappen Mehrheit von 258 gegen 237 Stimmen wurden die Linken jedoch später überstimmt und der Vertrag ratifiziert.

Das wiederum löste eine Welle von Unruhen im deutschen Volk aus. Die „Septemberkrise 1848“ führte zu einer weiteren Differenzierung innerhalb der revolutionären Front. Der Vertrauensverlust der Deutschen Nationalversammlung bei den breiten Massen wurde noch größer, und die Wut der unteren Bevölkerungsschichten entlud sich in einem spontanen Volksaufstand in Frankfurt am Main. Die Ermordung der gemäßigt-liberalen Paulskirchen-Abgeordneten Felix von Lichnowsky und Hans von Auerswald durch fanatisierte Aufständische diskreditierte das demokratische Anliegen vollends. Die Tatsache, dass inzwischen die Abgeordneten der Nationalversammlung, auf denen einst die großen Hoffnungen des einfachen Volkes gelegen hatten, preußisches und österreichisches Militär zu Hilfe rufen mussten, um sich vor der aufgebrachten Menge zu schützen, vertiefte die Kluft zwischen Volk und Volksvertretern und führte dazu, dass die Deutsche Nationalversammlung kaum noch allgemeinen Rückhalt fand. Nun konnten die konterrevolutionären Kräfte erst recht die Verfügungen der gewählten Frankfurter und ebenso der Berliner Verfassungsgebenden Versammlungen ignorieren. Im September hatte Loewe erkannt, dass die Märzrevolution zu Ende ging und von deren Zielen nicht mehr viel übrig geblieben war. In jener Zeit bildete sich seine später auch in Briefen an den Freund Ludwig Schneider geäußerte realpolitische Haltung heraus, nicht großen Träumen nachzuhängen, sondern zu retten, was an revolutionären Errungenschaften zu retten war. Nun hatte er vorrangig zwei Ziele vor Augen: die Schaffung der Einheit Deutschlands – in welcher Form auch immer – und die Durchsetzung von einigen noch erreichbaren Volksrechten. Bereits in der Sitzung am 7. September, die eigentlich von der Debatte um den Malmöer Waffenstillstand beherrscht war, hatte Loewe seine Pflicht darin gesehen, die Abgeordneten von seinen Kompromiss-Vorstellungen zu überzeugen:

„Mit der Verfassung werden wir noch nicht die Einheit Deutschlands herstellen, sondern nur ein Stück davon. Es ist vielleicht ein gutes und vortreffliches Werk; wenn uns aber die Gefahr überkommt, daß uns die ganze Einheit verloren gehen kann, dann frage ich Sie, ob wir daran denken sollen, irgend ein Stück dieser Einheit noch herzustellen. Dann retten wir, was zu retten ist, dann thun wir, was unsere Schuldigkeit ist: Wir stellen nach bestem Wissen und Gewissen die Einheit des Vaterlandes her; das ist unsere Pflicht.“[23]

Über Wilhelm Loewes und Ludwig Schneiders politischen Kampf in der Zeit des konterrevolutionären Vormarsches soll später berichtet werden.

 

[1] Steinmetz, Dieter Horst: Geburtswehen der deutschen Demokratie – Liberales Streben im Kreis Calbe/Saale vor der Revolution von 1848, in: Sachsen-Anhalt. Journal für Natur- und Heimatfreunde, Hg.: Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e. V., 25. Jg., Nr. 3/2015, S. 28 ff.

[2] Ebd.

[3] Steinmetz, Dieter H.: Ausstellung über den Inhalt des am 23. August 2007 geöffneten nördlichen Turmknopfes der St.-Stephani-Kirche Calbe / Saale (Ausstellung vom 17. 2.–30. 3. 2008), S. 31. URL: http://www.heimatverein-calbe.de/Turmknopfausstellung.pdf. (Zugriff: 26. 4. 2016).

[4] Bildung von Schutzvereinen im Kreis Calbe und politische Zustände, (gerichtet an Abteilung des Innern der Königlichen Regierung Magdeburg), in: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt (Magdeburg), Rep. C 28 f Nr.173 1 a.

[5] Art. „Kommunal-Garde zu Calbe“. In: Schwachenwalde, Hanns: Dr. Wilhelm Loewe (1814 – 1886) – Sein Leben und sein politisches Engagement …, Ms. 1992, S. 4, URL: http://www.dr-loewe-apotheke.de/files/drloewe/doc/Chronik-Dr-Wilhelm-Loewe.pdf (Zugriff: 27. 4. 2016). Leider fehlt die Angabe der Zeitung und des Datums. Es handelte sich wahrscheinlich um die Zeitung „Calbesches Kreisblatt“ (wie Anm. 6).

[6] Art. „Nationalfest zu Calbe“, in: Calbesches Kreisblatt – ein gemeinnütziges Unterhaltungsblatt für Stadt und Land vom 1. 4. 1848. In: Schwachenwalde, a. a. O., S. 5 ff. (Das Calbesche Kreisblatt für Jahrgänge vor 1862 ist seit Jahrzehnten aus dem Archiv Calbe verschwunden und auch in anderen Archiven nicht auffindbar.); Dietrich, Max, Schul-Chronik der Stadt Calbe an der Saale, Hs., Stadtarchiv Calbe / S., S. 525 f.

[7] Ebd.

[8] Ebd.

[9] Ebd.

[10] Zu Ludwig Schneider vgl. Steinmetz, Geburtswehen der deutschen Demokratie …, a. a. O. Schneider wurde mit 81 von 93 Wahlmännerstimmen delegiert.

[11] Loewe wurde mit 104 von 140 Wahlmännerstimmen delegiert.

[12] Schwachenwalde, a. a. O., S. 9. (Name und Datum der Zeitung wurden ebenfalls nicht angegeben, es handelt sich aber wahrscheinlich auch um das Calbesche Kreisblatt.) Zu Nicolai vgl. Steinmetz, Geburtswehen, a. a. O.

[13] An die Wahlmänner des Preußischen Staates. Gallerie der demokratischen Volksvertreter, vor denen die Wahlmänner sich zu hüten haben, Berlin 1849, S. 47.

[14] Es ist anzunehmen, dass Schneider in die Schriftführer-Funktion gewählt wurde, um den konsequenten Demokraten weitestgehend am Reden zu hindern.

[15] Wigard, Franz: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main [31. Sitzung in der Paulskirche am 4. 7. 1848], Bd. 1, Frankfurt / M. 1848, S. 703.

[16] Ebd., [34. Sitzung in der Paulskirche am 10.7.1848], Bd. 2, Frankfurt/M. 1848, S. 860 ff. Als am 7. September 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung der Antrag gestellt wurde, die Reeder und Kaufleute für die durch den Krieg entstandenen Handels-Verluste zu entschädigen, forderte Loewe das Gleiche für die Tausende arbeitsloser und sonstig betroffener Hafenarbeiter, Matrosen und Handwerker. Ebd. [73. Sitzung in der Paulskirche am 7. 9. 1848], Bd. 3, a. a. O., S. 1927 f.

[17] Bildung von Schutzvereinen im Kreis Calbe und politische Zustände …, a. a. O.

[18] Hettling, Manfred: Machtvakuum? Auflösung und Wiedererrichtung staatlicher Autorität 1848. In: Herrschaftsverlust und Machtverfall, Hg.: Peter Hoeres, Armin Dzwar, Christina Schröer, München 2013, S. 251.

[19] Bildung von Schutzvereinen (wie Anm. 13).

[20] Wigard (wie Anm. 11), [57. Sitzung in der Paulskirche am 8.8.1848], Bd. 2, a. a. O., S. 1451 ff.

[21] Ebd., [58. Sitzung in der Paulskirche am 10.8.1848], a. a. O., S. 1475 f.

[22] Ebd., [79. Sitzung… am 16. 9. 1848], a. a. O., S. 2111 ff.

[23] Ebd.,[73. Sitzung… am 7.9.1848], a. a. O., S. 1927.