Groß-Neujahr in Friesdorf (Landkreis Mansfeld-Südharz)

Annette Schneider-Reinhardt | Ausgabe 4-2020 | Lebendiges Kulturerbe

Erbsbär und Hexe beim Umgang. Foto: Matthias Behne
Foto: Matthias Behne
Foto: Matthias Behne
Foto: Matthias Behne
Foto: Matthias Behne
Foto: Matthias Behne
Foto: Matthias Behne
Foto: Matthias Behne
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Foto: Matthias Behne
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Foto: Matthias Behne
Foto: Matthias Behne
Foto: Matthias Behne
Großneujahr in Friesdorf. Foto: Matthias Behne
Aufnahme in die Dorfgemeinschaft durch „Bengeln". Foto: Matthias Behne
Brauchträger 1948. Wichtig war damals noch das Einsammeln von Naturalien. Foto: Archiv Miosge
Neujahrsgruß heute: Einsammeln von Spenden und Umtrunk. Foto: Matthias Behne
Überbringen des Neujahrsgrußes. Foto: Matthias Behne
Zum Umzug in Friesdorf gehört auch das Anstoßen auf das Neujahr. Foto: Matthias Behne
Hexe, Führer und Erbsbär. Foto: Matthias Behne
Die Blaskapelle begleitet den Umgang. Foto: Matthias Behne
Blaskapelle in Friesdorf. Foto: Matthias Behne
Akteure des Brauchkomplexes: Erbsbär mit Führer, Hexe und drei Burschen. Foto: Matthias Behne

Jeweils am zweiten Sonntag im Januar feiern die Friesdorfer eine besondere Tradition: Groß Neujahr. Bei diesem Fest stehen die unverheirateten Männer ab 14 Jahren im Mittelpunkt. Vor allem sechs Personen schlüpfen an diesem Morgen in ihre Kostüme. Sie sind die Hauptfiguren des Festes: eine Hexe mit Larve, Besen und Kiepe, ein Erbsbär in Erbsstroh gewickelt und mit einer Larve, der an einer Kette von einem Bärenführer gezogen wird. Dazu gesellen sich noch drei „Burschen“ im schwarzen Anzug mit Zylinder und weißen Handschuhen. Und die Blaskapelle darf nicht fehlen.

Am zweiten Sonntag des neuen Jahres, morgens um 8.00 Uhr, versammeln sich die Hauptakteure und die Mitglieder des Friesdorfer Heimatvereins in der Dorfgaststätte „Zur Sonne“. Frauen bereiten unterdessen belegte Brote vor. Pünktlich um 9.00 Uhr beginnt die Blaskapelle, vor dem Gasthaus dem Gastwirt ein erstes Ständchen zu bringen. Der Erbsbär wird durch seinen Bärenführer mit der Kette zum Tanzen animiert und auch die Hexe deutet mit ihrem Besen an, zu kehren oder darauf zu reiten.

Danach fahren Blaskapelle und Hauptakteure schnell mit dem Auto ins 3 km entfernte Rammelburg zum zentralen Platz vor der ehemaligen Gaststätte, wo sich bereits etliche Einwohner in froher Erwartung versammelt haben. Auch dort gibt es wieder ein Ständchen mit Tanz von Erbsbär und Hexe. Anschließend treten erstmals die drei Burschen in Aktion, indem sie nach einem zünftigen Neujahrsgruß ihre Zylinder aufhalten und Spenden einsammeln. Zurück in Friesdorf zieht die Gruppe durchs Dorf zu einzelnen Häusern, bei denen sich immer derselbe Ablauf vollzieht: Blasmusik kündigt das Kommen der Gruppe an, Hexe und Erbsbär tanzen, die Burschen gehen ins Haus oder ans Tor, entbieten den Neujahrsgruß, reichen einen Schnaps und erhalten in ihren dargebotenen Zylindern eine Geldspende. Manche der Besuchten geben in die Kiepe der Hexe auch eine Packung Eier oder ein paar Bratwürste.

Das alles geht recht flott vonstatten (das mag auch an den winterlichen Temperaturen liegen), denn gegen 10 Uhr wird die Gruppe im bereits gut gefüllten Saal des Gasthauses zum Frühschoppen erwartet. Unter den Gästen sind neben den Einheimischen auch zahlreiche Besucher aus der näheren Umgebung, zum Beispiel Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr aus Harzgerode oder die Mitarbeiter von Kleinunternehmen mit ihren Chefs. Auf den Tischen stehen Platten mit belegten Broten und es gibt Freibier. Zwei Moderatoren vom Heimatverein führen nun durch das nachfolgende Programm, das durch einen Paartanz von Erbsbär und Hexe eröffnet wird. Danach sind die Aufgaben für Hexe, Erbsbär und Bärenführer vorbei und sie mischen sich, nachdem sie ihre Kostüme abgelegt haben, unter die Feiernden. Für die Blaskapelle und die drei Burschen aber geht es weiter. Zahlreiche verabredete und nicht verabredete Ständchen für Einzelpersonen und Gruppen werden dargebracht und die drei Burschen erhalten nach Schnaps und Neujahrsgruß jeweils eine Geldspende in den Hut. Außerdem gibt es noch einige Dankeschön-Ständchen für die ehrenamtlichen Helfer des Heimatvereins, z. B. für die Frauen.

Daneben wurde vor 10 Jahren als weiterer Programmpunkt ein Schätzspiel mit Preisverlosung durch den Vorsitzenden eingeführt: man solle doch schätzen, wie schwer, wie lang usw. irgendetwas wäre.

Wer meint, damit seien die Bräuche des Festes abgeschlossen, der irrt. Zwischen den vielen Ständcheneinlagen rufen die Burschen einzelne Männer nach vorn zum „Bengeln“. Diese müssen auf ein altes Bierfass steigen und sich bücken. Einer der Burschen steht neben ihm auf einem Stuhl mit einem „Bengel“, einem bearbeiteten Holzbrett. Nach einem überlieferten Spruch wird der vorgerufene Delinquent mit drei Schlägen auf den Hintern zum „echten Friesdorfer“ gekürt. Dies wird mit einem von den Burschen gereichten Schnaps besiegelt und es erfolgt eine weitere Geldspende. Die so gekürten Männer sind entweder junge Erwachsene über 14 Jahre oder kürzlich Zugezogene. Aber auch Männer aus benachbarten Orten werden so geehrt. Soviel zum Festablauf.

 

Geschichte des Brauchgeschehens:

Die vom Heimatverein gesammelten Unterlagen sind leider 1994 beim Wipper-Hochwasser verloren gegangen. Übrig geblieben sind lediglich einige historische Fotos und die Erinnerungen der älteren Ortsbewohner. Bekannt ist, dass das Fest seit über 100 Jahren gefeiert wird, wobei es fraglich ist, ob der Termin schon immer auf dem 2. Wochenende im Januar lag. Die Akteure zogen zunächst zu reichen Bauern im Dorf, um ihnen den Neujahrsgruß zu bringen und dafür eine Spende, meist in Form von Naturalien, zu erhalten. Diese wurde anschließend im Gasthaus gemeinsam verzehrt. Im Laufe der Zeit wurden die Spenden immer häufiger in Form von Geld ausgereicht. Während der DDR-Zeit organisierte eine Initiative von 24 bis zu 40 Einwohnern das Fest. Aus den Einnahmen wurden alle Kosten bezahlt und aus dem verbliebenen Rest eine Woche später ein „Zechenball“ für die Dorfbewohner veranstaltet.

Nach der Wende übernahm der Heimatverein – gegenwärtig 26 Mitglieder zwischen 26 und 70 Jahren – die Organisation. Seit 1997 ist der heutige Vereinsvorsitzende auch Gastwirt im Ort und daher besonders mit der Festvorbereitung und -gestaltung verbunden. Seit drei Jahren wird der Abstecher nach Rammelburg unternommen, um die Verbundenheit mit den Einwohnern dieses Ortsteils zu demonstrieren.

Heute wird bei der vorbereitenden Sitzung genau geplant, wer im Umzug besucht wird. Dies sind vor allem ältere Einwohner, die nicht mehr bei der anschließenden Feier im Gasthaus teilnehmen können, Kleinunternehmer oder Neubürger. Das Fest beginnt heute bereits am Vortag mit einem Kinder-Disco, zu dem 50 bis 60 Kinder aus Friesdorf und den umliegenden Ortschaften kommen, sowie mit einer „Oldy-Party“ am Abend.

 

Deutungen des Brauchkomplexes:

Die Zeit um Neujahr ist im christlich geprägten Europa bis heute gefüllt mit vielen Bräuchen um den Jahreswechsel, der allerdings erst Ende des 17. Jahrhunderts auf den 1. Januar festgelegt wurde. So genannte „Neujahrsumgänge“ sind dabei in Deutschland eine der häufigsten Formen, da sie von den verschiedensten Berufs- und Bevölkerungsgruppen ausgeübt wurden: Ein „Gutes Neues Jahr“ wurde gewünscht und der Beglückwünschte überreichte als Dank eine Gabe, früher Naturalien, später bis heute Geld. Kinder besuchten ihre Paten, Kantoren mit dem Schülerchor die Eltern, Handwerker ihre Kunden, Hirten und Bauern ihre Gutsherren. Auch die Sternsinger[1] gehören zu diesen Heischegängern. In den Dörfern waren es aber vor allem die heiratsfähigen Junggesellen, die sich erstmals als junge Erwachsene der Dorföffentlichkeit vorstellten und vielleicht dabei nach jungen ledigen Mädchen Ausschau hielten.

Hier besteht eindeutig ein Bezug zum Friesdorfer Fest, wurde doch betont, dass die Kostümierten, aber auch die „Ge-Bengelten“ unbedingt mindestens 14 Jahre und ledig sein müssen. Der Brauch ist als „Rite de passage“, als Übergang von einer Lebensstufe in eine andere zu sehen. Das heißt einerseits, sich als Dorfjugend vorzustellen, und andererseits zu zeigen, dass man die Regeln der Erwachsenenwelt beherrscht, organisieren und Verantwortung tragen kann. Dies symbolisiert die Kleidung der drei Burschen: Frack, Zylinder und weiße Handschuhe, die bürgerliche Kleidung Erwachsener des 19. Jahrhunderts.

Was hat es nun mit den Kostümen auf sich? Die Hexe ist nicht nur als Figur im Harz durch die dortige Walpurgistradition eine weit verbreitete Maske. Vergleichbar erscheint mir die Verwendung im Zusammenhang mit dem Überbringen eines Neujahrsgrußes mit den Perchten Süddeutschlands zu sein. Hier handelt es sich aber nicht um ein heidnisch-germanisches Brauchrelikt, wie dies häufig heute noch erklärt wird, sondern um die Versinnbildlichung des Bösen.

Der Zeitpunkt des Festes liegt in der Zeit zwischen Weihnachten und Dreikönig. Diese Zeit galt im christlichen Mittelalter als eine heilige Zeit, die „Zwölf heiligen Nächte bis Dreikönig“. Liturgisch bedeutet dies die Zeit von Jesu Geburt am 24. Dezember bis zum Fest der Erscheinung des Herrn zu Epiphanias am 6. Januar, in der in den mittelalterlichen Kirchen die Geschichte der Menschwerdung Gottes mit entsprechenden geistlichen Schauspielen dargestellt wurde. Im 14./15. Jahrhundert ging die Gestaltung dieser Schauspiele in die Hände von Laien über.[2]

Hexenfiguren waren in geistlichen Schauspielen das Sinnbild für das Laster schlechthin. Sie demonstrierten wie Teufelsfiguren die Sündhaftigkeit der Welt. Gerade ihr Auftreten in der Zeit zwischen Weihnachten und Epiphanias zeigte damit die Notwendigkeit des Erscheinen Gottes in der Welt. Es handelte sich also bei diesen Darstellungen um Formen der Katechese der christlichen Kirche, der Darstellung des Kampfes zwischen Gut und Böse.

Der Erbsbär mit Bärenführer ist dagegen zu verschiedenen Terminen in ganz Mitteldeutschland heute noch in relativ vielen Bräuchen bekannt, im Frühjahr, in Faschingsbräuchen, zu Pfingsten, in Erntebräuchen usw. Auch hier wurde und wird die Figur häufig als Vegetationsdämon gedeutet. Aber tatsächlich geht der Erbsbär auf einen von Gauklern und fahrenden Spielleuten an der Kette geführten echten Tanzbären zurück, wie es vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert hinein häufig war. Erst in der Gegenwart ist dies dank dem Tierwohl verpflichteter Initiativen verboten. In Nachahmung und Ermangelung echter Bären ist das Kostüm des Erbsbären zu sehen. Sein Erscheinen symbolisiert eine Besonderheit im Alltag, einen Ausnahmezustand.

 

Und noch ein Wort zum „Bengeln“:

Das Wort „Bengel“ kommt aus dem Mittelhochdeutschen, ist seit dem 13. Jahrhundert belegt und bedeutet „Knüppel, Stock“. Das Schlagen mit einer Rute, Stock oder ähnlichem[3] im Brauch wurde als Voraussetzung für zukünftiges Glück gedeutet, was allerdings schwer nachvollziehbar ist. Eine Herleitung wäre einerseits aus dem Übergang von Jahresende und -anfang möglich, andererseits kann der Brauch auch als Einleitung in einen neuen Lebensabschnitt gedeutet werden. So könnte man das Bengeln als „Sprung“ ins Neue (Jahr) sehen, wobei „das Alte hinaus“ geworfen werden soll, um dem Neuen Raum zu geben. Gleichzeitig ist damit die Aufnahme in die Dorfgemeinschaft, ein „echter Friesdorfer“ zu sein, verbunden. Das rückt das „Bengeln“ in die Nähe zu Handwerkerbräuchen, vor allem bei der Gesellenaufnahme.

Bräuche erfüllen eine Vielzahl von Funktionen im dörflichen Sozialgefüge. Ändert sich dieses, passt sich auch der Brauchkomplex entsprechend an. Dies zeigt sich auch beim Friesdorfer Groß Neujahr, in das heute Neueinwohner bewusst einbezogen und betagte Einwohner als durch den Umzug Besuchte nicht ausgenommen werden.

Insgesamt dient das Fest mit seinen Vorbereitungen der intensiven Kommunikation der Ortsbewohner untereinander; es fördert in hohem Maße den Zusammenhalt und die Verbundenheit mit dem Heimatort.

 

[1] Die Sternsinger sind als immaterielles Kulturerbe in Deutschland gelistet (https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbedeutschland/sternsingen).

[2] Vergleich dazu: Dietz-Rüdiger Moser: Bräuche und Feste im christlichen Jahreslauf, Graz 1993.| Ingeborg Weber-Kellermann: Das Weihnachtsfest. Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Weihnachtszeit, München und Luzern, 1978. | Alois Döring: Rheinische Bräuche durch das Jahr, Köln 2006.

[3] Bei der Spergauer Lichtmess heißt er Pritsche.