Heimatforscher wollte ich nie werden

Albrecht Will | Ausgabe 1-2021 | Bürgerschaftliches Engagement | Geschichte

Die Zeitungsseiten sind behutsam anzufassen. Digitalisierung schützt sie vor dem Zefall durch Chlorfraß. Die Kamera wird vom Smartphone aus gesteuert. Foto: Matthias Behne
Albrecht Will vor seinem selbst gebauten Gestell aus Lochwinkeln. Foto: Matthias Behne
Die Zeitung von 1918 verkündet fortlaufend Erfolge im Krieg. Es gibt wenig regionale Informationen. Foto: Matthias Behne
Albrecht Will sichtet Funde aus der Hinterlassenschaft des Lehrers Ludewig (1837 – 1880), die unter der Diele verborgen waren. Heute lebt in der Wohnung die Familie Will. Foto: Matthias Behne
Aus der Hinterlassenschaft des Lehrers Ludewig (1837-1880), Fund unter der Dielung. Heute lebt hier Familie Will. Foto: Matthias Behne
Funde unter Diele. Foto: Matthias Behne
Blick aus dem Küchenfenster der ehemaligen Lehrer- und Kantorenwohnung auf die Kirche in Tangerhütte, das bis 1928 noch Vaethen hieß. Die örtliche Zeitung von 1910 berichtet von einem Diebeseinbruch beim damaligen Hauptlehrer Paetz durch dieses Fenster. Foto: Matthias Behne
Die mütterlichen Großeltern des Autors, die am 9.11.1902 heirateten. Rechts die  Molkerei Meseberg bei Osterburg, zu der sich in der Zeitung vom 14. 12. 1918 überraschend eine kleine Einbruchsnotiz fand. Foto: Matthias Behne

In die schwierige Nachkriegszeit hinein geboren, wurde mein kindliches Bewusstsein vom allgemeinen Bestreben beeinflusst, das Alte, Vergangene, die Not hinter sich zu lassen und nach vorn zu blicken. So war es nicht verwunderlich, dass ich als früher und eifriger Leser Gefallen an den zu dieser Zeit in Ost und West verbreiteten visionären Zukunftsmodellen fand. In einem sowjetischen Buch aus der Schulbibliothek erfuhr ich, dass noch vor der Jahrtausendwende jeder einen eigenen Hubschrauber nutzen würde. Altes Zeug wie Kisten, Radios, Röhren, Spulen, Elektromotoren, reizte mich, daraus etwas Neues zu basteln, es einem neuen Nutzen zuzuführen. Später war ich als Bauingenieur tätig, bekam sogar einen Orden unterer Klasse angeheftet und hatte nach 1990 ein eigenes Büro. Für mein Ego ist das heute nicht mehr wichtig, nur dass ich Glück hatte, zumeist kreativ arbeiten zu können.

Rückwärts betrachtet ist die Verbindung Alt-Neu wohl immer virulent in mir geblieben. In der letzten Lebenszeit meiner Mutter begann ich, Wege zu suchen, ihr Wissen in eine computergerechte Form zu bringen. Mit ihrem Tod kam zu dem bisherigen „Spiel“ die Verantwortung hinzu, das Hinterlassene so zu bewahren, dass es nicht verloren geht. Dieser Aspekt ist auch im nachfolgenden Text für mich grundlegend.

Während meiner Mitgliedschaft bei den Quäkern ging es 2007 darum, die umfangreiche Sammlung von Bild-, Text- und Tondokumenten der Quäker, die auf dem Dachboden des Quäkerhauses in Bad Pyrmont – und nach 1961 für die DDR-Gruppe in Berlin – lagerten, nun endlich zu sichern und zu archivieren. Eine Aufgabe, die mir gemeinsam mit einem Freund zufiel. Aus dieser Phase erinnere ich besonders die Fügungen von menschlich wertvollen Kontakten zur rechten Zeit – den gerade freien Platz in einer Weiterbildung des kirchlichen Archivs der Kirchenprovinz Sachsen und die offenen Türen beim Archiv der Evangelischen Kirche der Union in Berlin. Nach einer Vorsortierung der Akten in Bad Pyrmont wurden die Bestände letztendlich in das Berliner Archiv überführt. Dass ich meine Mitgliedschaft wieder beendete, ist eine andere Geschichte.

Im Ergebnis dieser Zeit änderte sich vieles in mir. Wenn ich heute historisches Material sehe, laufen meine Gedanken, ausgehend vom Ort der Sichtung und dem aktuellen Besitzer, über die Lagerung hin zu Bewahrung und neuerdings auch immer zur Digitalisierung und Zugänglichmachung.

Im Buchladen meiner Frau wurde häufig nach einem Buch mit Fotos und Postkarten aus dem alten Vaethen und heutigen Tangerhütte gefragt. Das war eine Lücke, die ich schließen wollte. Dank OpenSource-Software war das Technische kein Problem. Eine höchst arbeitsintensive, abenteuerliche Zeit begann. Faszinierende Welten in Form persönlicher Kontakte und Archivbesuche hielten mich in Spannung. Eine Frage wie: „Na, Herr Will, kennen sie denn schon die Gewerbekartei?“ wirkte wie eine Droge. Meine Datenbanken für Adressen, Gewerbe, Lehrer und Arztpraxen wuchsen auf über 8.000 händisch übertragene Datensätze an und erweiterten durch Kombinationen der Daten untereinander die bisherige Sicht und meinen Wissensstand. Weitere wichtige Quellen aus dem städtischen Archiv waren die alten Zeitungs­bestände ab 1900 und gewerblicher Schriftverkehr. Beides ergänzten die amt­lichen Daten wesentlich. Menge und Qualität der historischen Informationen traten gegenüber Bildern in den Vordergrund. Straßen und Hausnummern wurden zu Fixpunkten für Bilder und Texte. Als geografische Basis nutzte ich OpenStreetMap und erweiterte den Stadtplan um bereits abgerissene Tangerhütter Häuser, die ich aus älteren Stadtvermessungsplänen rekonstruieren konnte. 2018 hatte ich alles beisammen und das Buch erschien unter dem Titel „Handel und Gewerbe in Vaethen-Tangerhütte“.

Als Nebenprodukt entstand aus den Daten in Zusammen­arbeit mit Frau Dr. Katrin Moeller von der Uni Halle / Wittenberg unter dem Dach des Projekts „Share_it – Open Access und Forschungsdaten-Repositorium der Hochschulbibliotheken in Sachsen-Anhalt“ ein Datensatz, der die Verteilung der Gewerbe straßen- und hausweise unter einer grafischen GIS-Oberfläche anschaulich macht. Ein weiteres Nebenprodukt wartet auf Fortsetzung – die Verlegung von Stolpersteinen für ehemalige jüdische Bürger.

In der Endphase meines Buches ging es u. a. um die vor 1900 fehlenden Adressangaben im Gewerbebuch. Im Austausch mit regionalen Forschern wurde mir der Wert solcher Kooperation deutlich. Frau Ines Trojan in Rogätz half mit ihren genealogischen Forschungen, durch die ich einige fehlende Adresseinträge im Gewerbebuch ausgleichen und bisher falsch zugeordnete Fotos berichtigen konnte. Solche Erkenntnisse nach langer und ergebnisloser Forschung waren wie ein Fünfer im Lotto.

Das motivierte mich, die Zusammenarbeit in einem erweiterten Kreis regionaler Forscher anzuregen. Als mich dann Frau Dr. Dorothee Brich aus Angern genau mit dieser Intention ansprach, fanden wir als Gruppe von vier Gleichgesinnten eines Abends im Tangerhütter Café Lönseck zusammen und brüteten über dem Ob und Wie. Als Arbeitstitel entstand „Gedächtnis der Region“, kurz GDR.

In einem Hauptziel wollten wir dem Verwaisen bisheriger regionaler Forschungen durch Digitalisierung eine Alternative entgegensetzen, denn verwaiste Nachlässe sind häufig von einem Totalverlust bedroht. Daraus folgte zum anderen, dass wir einer Hard- und Softwarebasis bedurften, die zugleich als Austausch untereinander dienen sollte. Strukturpläne machten die Runde. Unausgesprochen war ich für das Technische zuständig und musste (neugierig) Neuland betreten.

Aus Kostengründen startete ich mit der selbstgehosteten Nextcloud in meinem Arbeitszimmer. Meine Erfahrung damit: Es ist einfacher als gedacht.

Die Inhalte der Cloud stammten in der Anfangszeit weitgehend aus eigenen Beständen, in der letzten Zeit kamen gewichtige Beiträge aus der Nutzergruppe hinzu. Darunter finden sich u.a. alte Landkarten, gemeinfreie Bücher mit regionalem Bezug, verschiedene Periodika des Kulturbundes, Ortschroniken, Schulchroniken usw. Um der Datenschutzgrundverordnung zu entsprechen, lagern die Informationen unter vier getrennten Lizenzen.

Durch finanzielle Unterstützung aus dem Mikrokulturfond des LHBSA war es im Sommer 2020 möglich, einige Großformat-Scans von Bauplänen aus dem hiesigen Stadtarchiv als Sicherung und zur Verwendung in Forschungsvorhaben zu erstellen. Dafür sind sie aus der Cloud abrufbar. Seit September digitalisierte ich aus dem hiesigen Archiv 15 der 19 bereits stark geschädigten Zeitungsjahrgänge von 1900 bis 1937. Inspiriert von einer genial einfachen Lösung mittels einer Smartphone- bzw. IPhone-App und einem mobilen Zelt als Reprogestell aus dem bedeutsamen europäischen Projekt „Trans­kribus“, baute ich aus Lochwinkeln ein passendes Gestell für die übergroßen Zeitungsseiten. Da die App in meinem Fall keine automatische Seitenerkennung bietet, stieg ich auf eine Digitalkamera mit Fernsteuerung um. Die Nachbearbeitung ist leicht. Wenn das Digitalisieren der Zeitung fertig ist, steht gewiss das nächste Projekt an.

Abgesehen von meinem persönlichen Engagement für GDR finden einige der gut 30 Mitstreiter auch direkten Kontakt untereinander. Das motiviert. Irgendwann muss ich Zeit finden, um unserer Familiengeschichte eigene Beiträge anzufügen. Ich hoffe, mir bleibt noch etwas Zeit.