»Ich habe die Grenzen überschritten«

Sonja Renner | Ausgabe 2-2020 | Bürgerschaftliches Engagement | Interview

Reem Alrahmoun, Engagementbotschafterin Kultur. Foto: Matthias Behne

Interview mit Reem Alrahmoun, Engagementbotschafterin Kultur des Landes Sachsen-Anhalt. Ein Gespräch über Kultur, Toleranz und Aufgeschlossenheit sowie ihren tiefen Wunsch, mit ehrenamtlicher Arbeit Geflüchteten und insbesondere Frauen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen.

Reem, bereits kurz nach deiner Ankunft 2015 in Magdeburg hast du dich sehr schnell im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes Flucht und Asyl im Offenen Kanal Magdeburg engagiert.
Warum hattest du dich damals für diesen Freiwilligendienst in Trägerschaft der .lkj) Sachsen-Anhalt entschieden?
Weil durch den direkten Kontakt mit den Deutschen ich meine Sprachkenntnisse viel mehr verbessern konnte. Das war ehrlich mein Ziel am Anfang. Beim Offenen Kanal habe ich es gemacht, weil ich fotografieren mag und Erfahrungen sammeln und mehr von TV-Arbeit lernen wollte.

Du hast das Thema „Filme machen“ gewählt, um deine Geschichte(n) und die Geschichten der Frauen zu erzählen. Warum sollte es dieses Medium sein, hattest du schon vorher mit Film zu tun?
Ich habe nur Fotos vorher gemacht. Einen Film zu drehen, habe ich im Offenen Kanal Magdeburg (OK) gelernt. Es war ehrlich eine großartige Chance beim OK zu sein. Mit der bedingungslosen Unterstützung vom Team des Kanals habe ich viel gelernt und traute mich viel mehr was zu tun.

Entstanden ist u.a. auch das Filmprojekt »Ich habe die Grenze überschritten« – gefördert u.a. aus Mitteln von »Kultur macht stark – Bündnisse für Bildung« -Welches Thema verhandelt der Film?
Es geht um 12 Frauen, die über ihren Weg nach Deutschland, ihr Leben und über ihre Erfahrungen und Wünsche erzählen.

Die Frauen im Film, junge Frauen mit Fluchterfahrung, die hier in Deutschland angekommen sind, kamen aus der Türkei, Syrien, Tunesien…. Wie und wo hast du sie gefunden?
Ich habe ein Facebook Werbevideo gepostet und viele Frauen persönlich gefragt. Ich bin sogar zur Islamische Gemeinde in Magdeburg gegangen und habe Frauen angefragt, bei unserem Projekt teilzunehmen. Ich war so begeistert eine Möglichkeit zu haben, den Frauen einen Raum zu geben, um ihre eigene Meinung zu sagen.

Du sprichst davon, dass die Frauen unsichtbar sind. Welche Art Unsichtbarkeit meinst du?
In deutschen Medien sind wir unterdrückte, nicht gut ausgebildete Frauen mit Kopftüchern. Das stimmt so aber überhaupt nicht. Du kannst es im Film sehen. Es gab die ohne Kopftuch und die mit Mütze oder normalem Kopftuch. Wir haben fast alle an der Uni studiert. Wir haben angefangen, Deutsch zu lernen und suchten nach Möglichkeiten eine Arbeit oder ein Studium zu finden. Das wird leider in den Medien nicht genug repräsentiert. Darüber hinaus waren die meistens der Geflüchtete, die am Anfang hierhergekommen sind, Männer und sie haben an verschiedenen Projekten teilgenommen. In 2015 und 2016 gab es viele verschiedene Projekte, aber danach, als die Frauen kamen, die wegen des Familiennachzugs später gekommen sind, gab es weniger Projekte. Deshalb blieben diese geflüchteten Frauen Zuhause. Nein, sie wollten natürlich raus, um was zu lernen und Kontakte zu knüpfen, wenn es eine Chance dafür gäbe.

Die Frauen sprechen sehr offen über schwierige, belastende Zustände in ihren Leben. Warum ist dieses darüber sprechen, das sichtbar und hörbar werden, so wichtig?
Wir haben uns entschieden, über die Flucht zu sprechen, weil wir zeigen wollten wie schwierig und gefährlich es war. Wir wollten sagen, dass man so eine Entscheidung, dein Land, deine Kindheitserinnerungen, deine Wohnung und alles, was du vorher kanntest zu verlassen, nicht einfach so triffst.

Meinst du, dass du mit deiner Geschichte und deinem Engagement auch ein Vorbild für die Frauen bist?
Ein gutes Vorbild, ich hoffe!!
Vielleicht für die Frauen, die Kopftuch tragen und Schwierigkeiten hier erleben z. B. keinen Job finden, kann es eine Hoffnung sein. Wenn ich was geschafft habe, können sie das auf jeden Fall auch. Hört nie auf!

Du bist zurzeit Engagementbotschafterin Kultur des Landes Sachsen-Anhalt im Bereich Medien. Welche Bedeutung haben Medien, speziell der Film, für dich persönlich?
Um ehrlich zu sein, ich lese nicht so viele Bücher. Filme sind mein Fenster auf die Welt. Ich schaue viele Filme an, vor allem diejenigen, die auf wahren Geschichten basieren, davon lerne ich viel über andere Kulturen.

Welche Bedeutung hat Kultur für dich persönlich?
Was ich bisher erlebt und gelernt habe, beeinflusst meine Reak­tion und wie ich mit Menschen umgehe. Aufgeschlossener zu sein und Toleranz zu haben. Das ist für mich die Bedeutung von Kultur.

Was bedeutet für dich ehrenamtliche Arbeit? Warum ist sie für die Gesellschaft deiner Meinung nach so wichtig?
Für mich bedeutet ehrenamtliche Arbeit, dass ich ein Teil der Gesellschaft bin. Es ist mir auch klar, dass Menschen zu helfen oder etwas für die Gesellschaft zu tun nicht immer bezahlte Arbeit sein muss.
Meine ehrenamtliche Arbeit beim Offenen Kanal Magdeburg damals und beim Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt zurzeit ist eine Möglichkeit, die Menschen, die ohne Stimme und unsichtbar sind, weil sie die deutsche Sprache noch nicht beherrschen oder nur in ihrer Unterkunft bleiben sollen, hörbar und sichtbar zu machen.

Du engagierst dich mittlerweile im Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e. V. Was ist genau euer Tätigkeitsfeld? Welche Menschen unterstützt, begleitet ihr? Welche Aufgaben übernimmst du da?
Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e. V. setzt sich für die Anerkennung der Rechte von Flüchtlingen und die Verbesserung ihrer Lebenssituation ein.
Ich bin Vorstandsmitglied und versuche zu unterstützen bei Aktionen, Kampagnen oder Öffentlichkeitsarbeit.

Du hast selbst Grenzen überschritten. Dein Ziel war es auf eigenen Füßen zu stehen. Du hast es geschafft. Was ist dein größter Wunsch für die Zukunft, für morgen, für die nächsten Jahre?
Ich arbeite gerade und ich würde gern irgendwann eine Fort­bildung in „Traumatherapie“ machen.
Große Wünsche habe ich nicht, weil, als ich Syrien verlassen habe, da habe ich auch viele Pläne für die Zukunft und was ich mir in meinem Land gewünscht habe hinter mir gelassen. Auf dem Fluchtweg war es nie klar, was kommt als nächstes. Deshalb habe ich mit der Zeit gelernt, den aktuellen Moment zu schätzen und zu genießen.

Das Interview führte Sonja Renner, Projektkoordinatorin im Projekt Resonanzboden // House of Resources Magdeburg der .lkj Sachsen-Anhalt.