Nationalparkwald im Wandel zur neuen Wildnis

von Andreas Pusch | Ausgabe 1-2019 | Natur und Umwelt

Wert von Totholz und Strukturvielfalt; Grafik: Mandy Bantle
Ausmaß des Borkenkäferbefalls am Brocken; Foto: Bodo Rhein
Vermodernde Fichte mit Wurzelteller und Naturverjüngung; Sabine Bauling
Wochenstube der Mopsfledermaus mit teilweise beringten Tieren hinter der abstehenden Rinde einer abgestorbenen Fichte; Marie Viehl
Schnelle Waldregeneration auf einer Freifläche an der Bremer Hütte von 2009 bis 2018; Alena Badurova (2009), Mandy Bantle (2018)

Die Wälder im Nationalpark Harz befinden sich seit einigen Jahren in weiten Bereichen in einer teilweise dramatischen Entwicklung. Zunächst meist im Verborgenen, dann zunehmend auch entlang der vielbefahrenen Straßen durch das Schutzgebiet, hat sich der Anblick vieler Fichtenwälder in sehr kurzer Zeit entscheidend verändert. Tote alte Fichten dominieren das Bild, und das führt zu besorgten Fragen und Kommentaren. „Hier stirbt der Wald“, „dramatische Waldbilder“, „sehr gewöhnungsbedürftig“ lautet häufig die Reaktion bei Anwohnern und Besuchern des Nationalparks. Dabei spricht aus den meisten Bemerkungen die echte Sorge um den Fortbestand dieser Wälder, ist doch bei Vielen von uns die Erinnerung an das „Waldsterben“ der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts noch in Erinnerung.

Um die Frage zu beantworten, ob die Nationalparkwälder wirklich gefährdet sind, müssen wir etwas ausholen. Das wichtigste Ziel in Nationalparken ist das Zulassen von Naturdynamik, also die Verwirklichung des Mottos „Natur Natur sein lassen“. Das ist v. a. deshalb sinnvoll, weil sich die Natur in unserer dicht besiedelten und intensiv bewirtschafteten Landschaft fast nirgendwo ungestört entwickeln kann. Das hat Auswirkungen auf die natürliche Artenvielfalt. Der Totholzanteil in bewirtschafteten Wäldern ist im Vergleich zu Urwäldern erheblich geringer. Das ist auch nicht erstaunlich, weil die handelnden Forstleute dort einen ganz anderen, aber ebenso legitimen Auftrag haben als im Nationalpark, nämlich die nachhaltige Produktion von Holz für die stoffliche Verwertung, sei es als Säge- oder Industrieholz. Totholz ist aber ein ganz wesentlicher Faktor für die Biodiversität in Wäldern. Viele Organismen sind in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung darauf angewiesen, vor allem auch auf das Vorhandensein von stehendem und starkem Totholz. Ein weiterer Grund für das Zulassen von Naturdynamik ist die besondere Waldstruktur, die sich in unbewirtschafteten Wäldern einstellt. Störungen wie Windwürfe und Insektenbefall sind im Wirtschaftswald eine unwillkommene Beeinträchtigung der Holzproduktion. Im Nationalparkwald erzeugen sie, ebenso wie der Zusammenbruch alter oder kranker Bäume, an vielen Stellen des Waldes wertvolle Strukturen. Hier gelangt Licht an den Boden, was für eine rasche Begrünung dieser Flächen durch Gräser und Kräuter sorgt. Auch die Naturverjüngung der umliegenden Bäume stellt sich meistens schnell wieder ein. Außerdem ergeben sich Lebensräume für lichtbedürftige Arten aus unserer Fauna.

Die aktuelle Baumartenverteilung lässt im Nationalpark Harz jedoch zurzeit noch nicht überall das ungestörte Laufenlassen natürlicher Prozesse zu. Von Natur aus würden die heute weitverbreiteten Fichtenwälder im Harz erst oberhalb einer Höhenlage von ca. 700 bis 800 m über dem Meeresspiegel dominieren. Darunter liegt das Reich der Buche, die auf fast allen Standorten vorherrschen würde. Sie ist wie keine zweite Baumart weltweit in der Lage, durch ihre hohe Schattenerträgnis und einen ebenso hohen Schattenwurf andere Baumarten zu verdrängen. Diese Arten müssen sich zum Überleben auf Nischen im Buchenwald oder auf extreme Standorte zurückziehen, an denen die Konkurrenzkraft der Buche nachlässt. Das können äußerst trockene oder nasse Standorte sein, oder auch extrem kalte, wie z.B. die Hochlagen, in denen dann die Fichte zum Zug kommt. Nur einer hat es geschafft, die Kraft der Buche zu brechen: der wirtschaftende Mensch. Über Jahrhunderte hat er die Fichte favorisiert, die besser die wirtschaftlichen Bedürfnisse befriedigte. Das hat die Baumartenzusammensetzung im Nationalparkgebiet stark verändert. Während von Natur aus im Nationalpark auf ca. zwei Dritteln der Fläche Buchenwälder zu erwarten wären, dominiert aktuell die Fichte mit mehr als 80% Anteil am Waldaufbau. Die Rückkehr der Buche aus eigener Kraft ist selbst für diese konkurrenzstarke Art kaum möglich. Dazu fehlen in weiten Bereichen einfach die Samenbäume, und außerdem werden die Buchenkeimlinge in Fichtenwäldern besonders gern vom Wild verbissen, das heutzutage in hohen Dichten unsere Wälder durchstreift. Im Nationalpark werden deshalb auf vielen Flächen, auf denen die ursprünglichen Buchenwälder durch Fichtenreinbestände ersetzt wurden, in großem Umfang Buchen als Initialmaßnahme gepflanzt. Diese dienen allerdings nicht der Holzproduktion, sondern sollen sich zu Samenbäumen entwickeln, die der Natur helfen, die künftigen Waldgenerationen wieder nach ihren eigenen Regeln wachsen zu lassen. Ein waldbauliches Ziel gibt es daher nicht, die weitere Entwicklung der Wälder nach Abschluss der Initialmaßnahmen darf unbeeinflusst vom Menschen ablaufen. Ab diesem Zeitpunkt werden diese Wälder in die sogenannte Naturdynamikzone (= Kernzone) eingeordnet, in der sich bereits die sehr naturnahen Buchenwälder und die naturnahen Fichtenwälder der Hochlagen befinden. Insgesamt ergibt sich für diese Zone ein Flächenanteil von aktuell ca. 60 %; bis zum Jahr 2022 werden nach Vorgabe der Nationalparkgesetze 75 % erreicht sein, und das Fernziel liegt bei einem Anteil von ca. 95 % an der gesamten Nationalparkfläche.

In dieser Naturdynamikzone darf sich also die Natur ungestört entwickeln, und in Fichtenwälder gehört als natürliches Element auch der „Buchdrucker“ genannte Borkenkäfer. Seine Larvenentwicklung findet unter der Borke statt, wobei die Leitungsbahnen zerstört werden, was die Fichten absterben lässt. Während der Käfer im Normalfall nur kranke oder geschwächte Bäume befällt, kann er unter günstigen Bedingungen auch in eine Massenvermehrung eintreten. Dann ist er in der Lage, auch gesunde Bäume in großer Zahl zu befallen. Und genau das beobachten wir im Harz seit einigen Jahren. Bäume, die durch Windwürfe oder Trockenheit und Wärme geschwächt sind, können sich einbohrende Käfer nicht mehr mit Harzfluss abwehren und werden erfolgreich besiedelt. Bei der momentanen Häufung von warm-trockenen Witterungsphasen geschieht das auf riesigen Flächen, auch dort, wo sich die Fichte auf ihrem natürlichen, kühl-feuchten Standort befindet, z. B. am Brocken.

Obwohl der Buchdrucker nur ältere Bäume ab ca. 60 Jahren besiedelt, kommt es an vielen Stellen zum Eindruck, dass der Wald großflächig abstirbt, hervorgerufen durch die enorme Anzahl an toten alten Fichten. Glücklicherweise täuscht dieser Eindruck jedoch gewaltig! Borkenkäfer und Fichten sind aufeinander eingespielt, und obwohl das derzeitige Ausmaß des Befalls sehr ungewöhnlich ist, stellt es keine Gefahr für das Überleben der Wälder dar. Die Fichte verjüngt sich in den meisten Fällen sehr rasch, und es entsteht eine junge Waldgeneration, die strukturreicher und vielfältiger ist als vorher, in den Hochlagen ergänzt durch andere Baumarten wie Eberesche, Birke, Weide und andere Arten. Und wenn auf einigen Standorten vorübergehend eine starke Graskonkurrenz das Ankommen der jungen Bäume verzögert, so erhält das nur wichtige Refugien für lichtbedürftige Arten über einen längeren Zeitraum. Außerdem ergeben sich durch Kleinstrukturen wie Wurzelteller umgestürzter Bäume auch hier Chancen für den Nachwuchs.

Spätestens wenn nach einigen Jahren die nach und nach umstürzenden toten Fichten vermodern, ergeben sich auf diesen Stämmen wieder gute Keimbedingungen für den Baumnachwuchs. Bis dahin profitieren viele Organismen vom reichen Angebot an stehendem und liegendem Totholz. Vor allem Insekten, andere Kleintiere und Pilze sind am Prozess der Mineralisierung beteiligt, was zu einer Erhöhung der natürlichen Biodiversität führt. Aber auch höhere Tiere nutzen die neuen Strukturen und das Nahrungsangebot in der lichtliebenden Freiflächenvegetation. Viele Arten können die Kleinstrukturen direkt am Totholz nutzen, ein gutes Beispiel ist hier die Mopsfledermaus. Sie bezieht gern ihre Quartiere an geschützten Stellen hinter der Borke abgestorbener Fichten.

Auch die Artenzahl vorkommender Vogelarten kann örtlich durch die Erhöhung der Strukturvielfalt stark ansteigen. Auf einer Probefläche von 100 ha wurden beim Vogelmonitoring im Jahr 2008 zwanzig Arten festgestellt. Damals war der Wald noch überwiegend dicht geschlossen, nur an wenigen Stellen vom Borkenkäfer besiedelt und dementsprechend dunkel. Im Jahr 2018 waren auf dem überwiegenden Teil der Fläche die alten Fichten abgestorben, viele lichte Stellen mit entsprechender Vegetation und eine stufige Baumverjüngung bestimmen heute das Bild, und die Zahl der festgestellten Vogelarten stieg auf dreiunddreißig!

Die Fichte als Hauptbaumart der Hochlagen verjüngt sich also ausreichend auf natürlichem Wege. Wie sieht es aber in den tieferen Lagen aus, wo die Buche natürlicher Weise dominiert und auf besonderen Standorten von anderen Baumarten begleitet wird? Auch in diesen Wäldern haben wir oft Fichtenreinbestände als Folge langjähriger Bewirtschaftung. Auch hier verjüngt sie sich erfolgreich, es sollen sich jedoch auch andere Arten vermehrt am Aufbau der nächsten Waldgenerationen beteiligen können. Wenn in dieser Situation aus Mangel an Samenbäumen keine natürliche Rückkehr der Buche erwartet werden kann, wird sie durch die bereits erwähnten Initialpflanzungen ergänzt. Dazu kommen eine Reihe sogenannter Pionierbaumarten, die sich aufgrund ihrer leichten Samen oder der effektiven Verbreitung durch Vögel allein anfinden. Dazu gehören wiederum vor allem Birken, Ebereschen und andere Arten. So entsteht als Nachfolge von ehemaligen Reinbeständen ein echter Mischwald, der sich dann langfristig wieder unbeeinflusst vom Menschen entwickeln kann.

Besonders willkommen sind die Pioniere unter den Bäumen, die sehr lichtbedürftig sind, auf den Flächen, wo im Nationalpark als Folge von Borkenkäferbekämpfungen Freiflächen entstehen. Das ist vor allem dort der Fall, wo Nationalparkfichten an den Wirtschaftswald angrenzen. Hier wird konsequent zum Schutz der Nachbarwälder gegen den Käfer vorgegangen. Und auch diese Freiflächen regenerieren sich sehr schnell, innerhalb weniger Jahre entsteht wieder ein dichtes Blätterwerk.

Grund genug für Nachfragen zum Waldzustand im Nationalpark gibt es also, aber die Antwort lautet: Der Wald ist nicht tot, sondern höchst lebendig, er ist nur in einer Phase dynamischer Verjüngung!