Vom Vergessen zum Erinnern. Das Mahnmal zum Strafgefangenenlager „Elberegulierung“ Griebo

Johanna Keller | Ausgabe 1-2020 | Geschichte

Das Strafgefangenenlager  „Elberegulierung“ Griebo,  amerikanische Luftbild­aufnahme vom März 1944. Luftbilddatenbank Dr. Carls GmbH.
Die feierliche Eröffnung am 8. Mai 2015. Foto: Klaus Peter Menzel
Auszug aus einer Häftlingspersonalakte. Der Gefangene verstarb an den Folgen der Lagerhaft. Landesarchiv Sachsen Anhalt, Abt. Dessau, Z 259, Nr. 2339.
Schmierereien, unter anderem mit verfassungsfeindlicher Symbolik. Foto: privat
RadtouristInnen während eines Vortrages am  Mahnmal. Foto: Klaus Peter Menzel.

Historische Hintergründe

Im Frühjahr 2015 entstand im Stadtgebiet Wittenberg zwischen den Ortschaften Apollensdorf und Griebo ein Mahnmal, das an das ehemalige Strafgefangenenlager „Elberegulierung“ Griebo erinnert. Das Lager wurde bereits ein Jahr nach seiner Errichtung 1936 in Coswig (Anhalt) nach Roßlau und schließlich im August 1939 auf das Haldengelände der Bayerischen Stickstoffwerke Piesteritz nach Griebo verlegt.[1] Zu diesem Zeitpunkt waren hier 400 Männer aus dem gesamten Deutschen Reich in fünf Holzbaracken untergebracht.[2] Zudem ließ das Reichsjustizministeriums ein ehemaliges Ausflugsschiff zum auf 150 Häftlinge ausgelegten Gefangenenschiff „Biber“ umrüsten, das sich entlang der Baustellen an der Elbe bewegte.[3]

Die insgesamt 550 Inhaftierten waren aufgrund der damals geltenden Gesetzeslage von nationalsozialistischen Gerichten zu längeren Zuchthausstrafen verurteilt worden. Unter ihnen waren Männer, die auch nach heute geltendem Recht als „Kriminelle“ gelten würden – solche etwa, die Sexual- oder Eigentumsdelikte begangen haben sollen. Daneben ist eine geringere Anzahl von Häftlingen nachweisbar, die wegen Vorbereitung zum Hochverrat oder aufgrund von homosexuellen Handlungen angeklagt worden waren.[4]

Die Aufgabe der Gefangenen bestand darin, Stromregulierungsarbeiten an der Elbe vorzunehmen. Mit Ausbruch des Krieges traten jedoch weitreichende Veränderungen ein, die auch das Strafgefangenenlager betrafen. Die Häftlinge wurden nunmehr in den großen Rüstungsbetrieben der Region zur Arbeit gezwungen, d. h. in den Bayerischen Stickstoffwerken Piesteritz, Junkers Flugzeug- und Motorenwerken Dessau, der Westfälisch-Anhaltischen-Sprengstoff-Actien-Gesellschaft (WASAG) Hauptwerk Reinsdorf sowie in der Arado Flugzeugwerke GmbH Wittenberg. Des Weiteren wurden immer mehr Gefangene aus den vom Deutschen Reich okkupierten Ländern im Lager inhaftiert. Ausgehend von der Aktenlage über tschechische Häftlinge ist anzunehmen, dass der Anteil der Widerstandskämpfer bzw. politischen Häftlinge unter den ausländischen Gefangenen vergleichsweise hoch war. Hinzu kamen Personen – ab 1940/41 auch Frauen – die wegen Verstößen gegen die Kriegswirtschaftsverordnung (z. B. „Schwarzschlachtungen“) oder gegen die Wehrkraftschutzverordnung (z. B. „verbotener Umgang mit Kriegsgefangenen“) zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt wurden.[5]

Im Verlauf des Krieges nahmen die Unternehmen durch die zunehmenden Einberufungen ihrer Mitarbeiter zur Wehrmacht bei gleichzeitig geforderter Produktionssteigerung immer stärker die billige Zwangsarbeit der Strafgefangenen in Anspruch. So wurde für die WASAG Reinsdorf eigens die Frauenabteilung des Lagers eingerichtet; sowohl die Bayerischen Stickstoffwerke Piesteritz als auch Junkers Flugzeug- und Motorenwerke Dessau investierten in die Errichtung weiterer Baracken, sodass das Lager spätestens ab 1942 für 1.400 bis 1.500 Inhaftierte ausgelegt war. Diese Anzahl blieb bis zur Auflösung des Lagers Ende April 1945 etwa gleich.

Die harte körperliche Arbeit im Freien oder mit Chemikalien, mangelhafte Ernährung und körperliche Züchtigungen führten dazu, dass einige Häftlinge erkrankten und lagerunfähig wurden – viele von ihnen starben. Allein unter den 400 auf dem sogenannten „Ausländerfriedhof“ in Apollensdorf Nord beigesetzten Personen, sollen sich rund 150 Strafgefangene befunden haben.[6]

 

Entstehung des Mahnmals

Im Laufe des Jahres 1945 wurde das Barackenlager geplündert bzw. demontiert und das Gelände später durch eine nahegelegene sowjetische Garnison genutzt. Zudem wurde die Halde, an deren Rand sich das Lager einst befand, durch Zuführung von Industrieschutt ständig erweitert, sodass der ehemalige Lagerstandort fast vollständig überformt wurde. Über Jahrzehnte erinnerte an diesem Ort nichts an das nationalsozialistische Gefangenenlager und die hier Inhaftierten. Allein die Überlebenden des Lagers gedachten in ihren Erinnerungsberichten den dort begangenen Verbrechen.[7]

Friedrich Schulze, der ehemalige Ortschronist von Griebo, forschte – angeregt durch Anfragen früherer Häftlinge – im Landes­archiv Sachsen-Anhalt am Standort Dessau und führte Zeitzeugenbefragungen unter den EinwohnerInnen Griebos durch. Im Jahr 2007 informierte er in einem am Tag des offenen Denkmals gehaltenen Vortrag über seine gewonnenen Erkenntnisse und regte die Errichtung eines Gedenksteines an, die zu diesem Zeitpunkt nicht umgesetzt wurde.

Im September 2014 fand in den Räumlichkeiten des Kultur- und Traditionsvereins Apollensdorf e. V. eine Präsentation von Forschungsergebnissen der Verfasserin statt. Die Resonanz der Dorfgemeinschaft auf diesen Vortrag, der unter älteren EinwohnerInnen die Erinnerung an vorbeiziehende Häftlingskolonnen weckte, war bemerkenswert und führte dazu, dass die BewohnerInnen von Apollensdorf, zu dessen damaliger Gemeinde das Strafgefangenenlager ab 1940 gehörte, ihre historische Verantwortung wahrnahmen und der Ortschaftsrat den Bau eines Mahnmals forcierte.

Nach der Genehmigung des durch die Ortsbürgermeisterin Angela Menzel gestellten Antrages auf die Errichtung eines Mahnmals fanden sich verschiedene private Unternehmen, die das Bauprojekt mit Baufahrzeugen und -materialien unterstützten. Zudem waren zahlreiche HelferInnen des Kultur- und Traditionsvereins Apollensdorf sowie der Freiwilligen Feuerwehr an den Bauarbeiten beteiligt. So gelang es, ca. 50m2 städtischen Geländes bautechnisch so vorzubereiten und mit einer Splittschicht zu versehen, dass darauf dreizehn Sandsteinquader platziert werden konnten.

Am 8. Mai 2015, als sich das Kriegsende zum 70. Mal jährte, wurde das Mahnmal in einem feierlichen Akt eingeweiht, dem zahlreiche BesucherInnen, darunter auch Angehörige ehemaliger Häftlinge und VertreterInnen verschiedenster Parteifraktionen, beiwohnten. Das Programm wurde von SchülerInnen des Lucas-Cranach-Gymnasiums Wittenberg künstlerisch untermalt. Neben Ansprachen des Oberbürgermeisters Eckhard Naumann, der Ortsbürgermeisterin Angela Menzel und der Verfasserin sprach auch die Enkelin einer ehemaligen Strafgefangenen. Des Weiteren wurden die Grußworte eines Überlebenden übermittelt, der im Februar 2015 in Tschechien interviewt werden konnte.

 

Kleines Mahnmal mit großer Reichweite

In der Planung des Mahnmals wurde eine bewusste Abgrenzung von „standardisiert“ anmutenden Gedenksteinen, wie sie etwa zu DDR-Zeiten aufgestellt wurden, vorgenommen. Bei dem Mahnmal in Griebo handelt es sich um eine Installation von Sandsteinquadern, deren Anordnung der Lagerstruktur nachempfunden ist. Die einzelnen Steinquader symbolisieren Baracken, die einen spitz auf die mutmaßliche Lagerkommandantur zulaufenden Innen­hof bilden.

Daneben ist eine etwa zwei Meter hohe Stahlplatte senkrecht in den Boden eingelassen, auf der eine Informationstafel mit weiterführenden Informationen angebracht wurde. Zudem ist ein QR-Code abgedruckt, der – mit dem Handy gescannt – auf die zum Forschungsprojekt „Vom Vergessen zum Erinnern“ gehörende Website führt.

Direkt am Elbe-Radweg gelegen, soll das Mahnmal auch RadtouristInnen ansprechen und diese zur Rast und zur Auseinandersetzung mit einem auf dem Weg gelegenen historischen Ort einladen. Auch Schulklassen des Lucas-Cranach-Gymnasiums Wittenberg, die an Projekttagen Regionalgeschichte mit dem Fahrrad erkunden, haben das Mahnmal bereits besucht.[8] Die zum Forschungsprojekt „Vom Vergessen zum Erinnern“ gehörende, derzeit im Aufbau befindliche Website[9]  soll vor Ort, aber auch nachträglich über den Ort hinausgehend eine Beschäftigung mit den historischen Hintergründen ermöglichen. Statistiken der Website belegen, dass der mobile Zugriff über das Handy und den QR-Code tatsächlich häufig in Anspruch genommen wird.

Neben dem ehemaligen Strafgefangenenlager in Griebo sollen zukünftig auch andere Zwangslager thematisiert werden, um u. a. einen Eindruck über die mit ihnen verknüpfte Zwangsarbeit in den nationalsozialistischen Rüstungsbetrieben der Region zu vermitteln. Des Weiteren dient die Website der Kontaktaufnahme von Interessierten und Angehörigen ehemaliger Häftlinge mit der Forschenden. In den vergangenen Jahren sind auf diese Weise Anfragen aus Deutschland, Polen, Tschechien, Österreich, Frankreich, Belgien und den Niederlanden eingegangen. Die Angehörigen erhalten nicht nur Informationen, sondern werden auch auf einen Erinnerungsort hingewiesen, der für viele hoch emotional ist, suchen viele von ihnen doch nach Anhaltspunkten zu Familienmitgliedern, die sie nie kennenlernen durften. Die Verlinkung von Website und Mahnmal stellt also eine wechselseitige Verschränkung des historischen Raums mit dem virtuellen Raum, zwischen Gedenken und Information dar.

So ist das Mahnmal zum Strafgefangenenlager „Elberegulierung“ Griebo auch ein Beispiel dafür, wie Erinnerungskultur und politische Bildung auch ohne die Unterstützung einer größeren Institution verwirklicht werden kann. Es bildet einen Kristallisationspunkt sowohl der Information von Ortsansässigen und TouristInnen als auch einen Anhaltspunkt der Regionalgeschichte für SchülerInnen der Region. Zudem dient es zur Mahnung an die Toten und als Ort des Gedenkens und der Trauer sowie zur Kontaktaufnahme für Angehörige und Interessierte.

Gepflegt wird der Gedenkort auf private Initiative mit Unterstützung des Ortschaftsrates Apollensdorf.

Leider wurde das Mahnmal im Spätherbst 2019 mehrfach geschändet. Illegale Partys wurden veranstaltet, wobei eine Pflanzschale auf dem Gedenkstein zerschlagen und ein Lagerfeuer in der Mitte der Installation entfacht wurde. Schien es sich anfangs um rücksichtlosen, jugendlichen Übermut zu handeln, kamen später eindeutig als politisch zu wertende Schmierereien hinzu – ein klares Alarmsignal dafür, dass weiterhin Aufklärungsbedarf besteht und die Arbeit des Forschungsprojektes „Vom Vergessen zum Erinnern“ bei Weitem nicht beendet ist.

 

[1] Vgl.: Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Merseburg, I 526, Nr. 81, Bl. 266.

[2] Vgl.: Bundesarchiv, R2/27611, Bl. 29.

[3] Vgl.: ebenda, Bl. 3 ff.

[4] Vgl.: Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Dessau, Z 259.

[5] Vgl.: ebenda.

[6] Vgl.: Städtische Sammlungen der Lutherstadt Wittenberg/Ratsarchiv, LN 6067.

[7] 7 Der unveröffentlichte, mit “Historická dokumentace” überschriebene Erinnerungsbericht von Jaroslav Fryčka aus dem Jahr 1963. Pavelek, Juraj [Hrsg.]: Plamienky šťastia. Venované pamiatke Ruženy Jilemnickej, Bratislava 1979. Jong, Jan de: De man die niet gezien werd. De (oorlogs)geschiedenis van Piet de Jong, Asperen 2019.

[8] Vgl.: Fuchs, Kurt: Klasse 11 – „Ja wir san mit’n Radl da“, Wittenberg 27.03.2019, in: Lucas Cranach Gymnasium Wittenberg. URL: https://www.lucas-cranach-gymnasium.de/schule/geschichtsprojekte.html (letzter Zugriff: 07.01.2020).

[9] Webadresse: www.vom-vergessen-zum-erinnern.com.