Von Stendal nach Arkadien

Zum 300. Geburtstag von Johann Joachim Winckelmann

von Christian Kuhlmann | Ausgabe 2-2017 | Geschichte

Porträt Winckelmanns von Anton Raphael Mengs, 1755, Bild: Metropolitan Museum of Art, online collection, CC0 1.0 Universal, https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/legalcode
Ludwig Wilhelm Wichmann, Winckelmann-Denkmal Stendal, Bronze, 1859, Foto: John Palatini
Titelblatt der Erstausgabe, 1764, Bild: Universitätsbibliothek Heidelberg, CC BY-SA 3.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/
Titelkupfer der 2. Auflage der "Geschichte der Kunst des Alterthums" von 1776, Bild (Ausschnitt): Winckelmann-Museum Stendal auf www.museum-digital.de, Lizenz: CC BY-NC-SA, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/de/

In den „Gesprächen mit Goethe“ berichtet Johann Peter Eckermann für den 16. Februar 1827 das Folgende: „Ich erzählte Goethen, dass ich in diesen Tagen Winckelmanns Schrift ‚Über die Nachahmung griechischer Kunstwerke‘ gelesen, wobei ich gestand, dass es mir oft vorgekommen, als sei Winckelmann damals noch nicht völlig klar über seine Gegenstände gewesen. ‚Sie haben allerdings Recht‘, sagte Goethe, ‚man trifft ihn mitunter in einem gewissen Tasten; allein, was das Große ist, sein Tasten weiset immer auf etwas hin; er ist dem Columbus ähnlich, als er die neue Welt zwar noch nicht entdeckt hatte, aber sie doch schon ahndungsvoll im Sinne trug.‘“ Dass Goethe den am 9. Dezember 1717 in der Altmark in bescheidenen Verhältnissen als Sohn eines Schuhmachers geborenen Winckelmann[1] so ausnehmend charakterisiert  – nachdem er ihn bereits 1805 in seinem Sammelwerk Winkelmann und sein Jahrhundert als maßgeblichen Protagonisten einer Epoche gewürdigt hatte – steht in einem deutlichen Kontrast zu der nur noch geringen Präsenz Winckelmanns im öffentlichen Bewusstsein der Gegenwart.

Winckelmanns Lebensgang lässt anfangs nicht erwarten, dass ihm im Leben Außergewöhnliches gelingen könnte.  Nach gymnasialen Lehrjahren in Stendal, Salzwedel und Berlin zog es ihn 1738 zum Theologiestudium nach Halle. Nachdem er dieses 1740 abgebrochen hatte, ging er als Hauslehrer nach Osterburg, um 1741 ein Medizinstudium in Jena aufzunehmen. In Hadmersleben wurde er im Jahr darauf abermals Lehrer, übernahm dann allerdings – wiederum nur ein Jahr später – die Stelle eines Konrektors an der Lateinschule in Seehausen. Der Abschied von der Altmark folgte 1748: Nach einigen Jahren in Sachsen, auf Schloss Nöthnitz als Sekretär von Heinrich von Bünau bzw. in Dresden, ging er nach seiner Konversion zum Katholizismus 1755 nach Italien, wobei in diesem Jahr auch seine berühmte Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst erschien. In Dresden erstmals unmittelbar mit antiken Artefakten in Berührung gekommen, formuliert diese Schrift gleich zu Beginn die grundlegende, wenn man so will: klassizistische Programmatik: „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten […]“ – neben der wohl berühmteren Formel von der edlen Einfalt und stillen Grösse, die hier bereits für die griechischen Statuen proklamiert wird, markiert diese Schrift auch einen wichtigen Beweggrund und weiteren Anreiz für Winckelmann, die Gedanken später in Rom in seinem Hauptwerk Die Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) zusammenfinden zu lassen. Als international geachteter und bekannter ‚Kunsthistoriker‘ fiel Winckelmann 1768 in Triest vermutlich einem Raubmord zum Opfer.

Der Lebensweg führte Winckelmann mithin aus dem begrenzten Kosmos der altmärkischen Provinz hinaus in die große Welt, wobei diese kolumbische Reise sich zunächst in einer spezifischen Form vollzieht, nämlich als akademische Wanderung. Als Buchgelehrter trieb Winckelmanns Leben – vor allem in den Jahren bis 1748 – „von einer Buchwanderung zur nächsten.“[2] Populär ist vor allem sein Fußmarsch nach Hamburg im Jahre 1741 anlässlich der Auflösung der Bibliothek des Gelehrten Johann Albrecht Fabricius (1668–1736). Zwar entstand im 18. Jahrhundert allmählich ein Buchmarkt, der sich nun den Lesebedürfnissen des Publikums anpasste, gleichwohl waren Bücher immer noch so kostbar und limitiert, dass man zu ihnen hingehen musste. So kannte der rastlose Winckelmann ‚die‘ Antike vorerst nur aus Büchern, die er las und vor allem exzerpierte, um das darin vermittelte Wissen zu speichern. Diese Exzerpierkunst als methodisch abgestimmte, an festen Ordnungsprinzipien orientierte Sammlung von Lesefrüchten war noch im 17. Jahrhundert eine weithin praktizierte Technik der Wissensaneignung. So widmete etwa Daniel Georg Morhof (1639–1691) in seinem universalen Wissensverzeichnis mit dem Titel Polyhistor dem Exzerpieren ein eigenes Buch, weil es als Vorbereitung jeder wissenschaftlichen Bildung erachtet werden müsse. Getreu dieser Devise erlas sich der Stendaler Winckelmann nicht nur die Antike, sondern klassifizierte und ordnete seine immensen Lesefrüchte, um sich so auch eine Vorratskammer für sein eigenes Lehrgebäude und Schreiben anzulegen; eine Praxis im Übrigen, von der er sich später zwar distanzierte – sie galt im 18. Jahrhundert zunehmend als pedantisch, mechanisch und geistfeindlich, widersprach daher dem aufkommenden Ideal des weltmännisch-klugen, selbstdenkenden Gelehrten –, die er gleichwohl zeitlebens fortführte.

Dieser Zeit der gelehrten Bücherreise folgte die Phase der ‚realen‘ Entdeckungen, welche er in Dresden (1754/55), vor allem aber in Rom machte (ab 1755). Schon in einem Brief an Johann Michael Francke vom 7. Dezember 1755 aus Rom finden sich Worte eines neuen Selbstverständnisses: „Man hat nichts wunderbares, nichts erstaunendes [sic!] gesehen, wenn man nicht dieses Land mit demjenigen Auge, mit welchem ich es betrachtet habe, gesehen hat.“ In der Tat sollte dieses spezielle Auge etwas sehen, was anderen bislang verborgen blieb, was sie vielleicht auch nicht ‚sehen‘ konnten, weil die Imaginationskraft des immer schon manisch Lesenden durch die marmorharten Relikte antiker Kultur spielend hindurchging. Gerade seine ungemein plastische, einfallsreiche und einbildungsstarke Sprache weist Winckelmann dabei auch als einen Schriftsteller sui generis aus, dessen Programm nicht nur auf Vergegenwärtigung, sondern Erleben der Antike abzielte:

„In der That bilde ich mir ein, in dem olympischen Stadio aufzutreten, wo ich glaube, Statuen junger und männlicher Helden und zwey und vierspännige Wägen aus Erzt mit der Figur des Siegers auf denselben, und so viel Wunderwerke der Kunst zu tausenden zu sehen; ja in diesem Traume hat sich meine Einbildung mehrmal vertiefet, weil ich mich mit jenen Ringern vergleiche  Denn ich muß mich mir selbst also vorstellen, da ich mich an die Bahn wage, von so vielen Werken der Kunst, die ich vor Augen sehe, und von den hohen Schönheiten derselben die Gründe und Ursachen zu erklären, wo ich, wie in den Wettspielen der Schönheit nicht einen, sondern unzählige erleuchtete Richter vor mir sehe.“[3]

Diese poetisch-imaginative Fähigkeit gibt die Form an, in der sich seine vornehmlich wissenschaftlichen Entdeckungen kundgaben, die zunächst auf dem Gebiet der modernen Kunstgeschichte liegen. Das gilt in einem doppelten Sinn: Als Autor einer Geschichte der Kunst des Alterthums verband Winckelmann Geschichte und Kunst miteinander, zwei ehedem getrennte Bereiche im System der Wissenschaften. Weder der einzelne Künstler noch diese oder jene Kunst im Besonderen sind dabei entscheidend, sondern ‚die‘ Kunst als solche. Damit ging eine spezifische Form der Geschichtsschreibung einher, die nicht „bloße Erzählung der Zeitfolge“ sein wollte, sondern ein System forderte, „das den Leser anhand der geschichtlichen Erzählung in die konstanten Grundsätze der Kunst einführen soll.“[4] Historische Entwicklungsprozesse werden thematisch, das Athen des Perikles mit seinen illustren ‚Künstlern‘ aus verschiedenen Disziplinen (man denke etwa an die attische Tragödie des Aischylos und Sophokles mit ihren irgendwie für alle Zeiten sterbenden Helden) gilt ihm als Beleg für den Zusammenhang von politischer Freiheit und künstlerischer Blüte. Nietzsche wird hundert Jahre später von der Vereinigung des Apollinischen mit dem Dionysischen sprechen, das sich insbesondere in der frühen griechischen Tragödie artikuliere – auch das eine völlig unverständliche These ohne den Wegbereiter und Antipoden Winckelmann. Damit verbreitet Winckelmann zugleich eine ästhetische Kunde, die sich nicht nur in einzelnen Fachdisziplinen vernehmen lässt (wenngleich seine Verdienste für die Entstehung der Archäologie hier nicht unterschlagen werden sollen). Als Künder eines neuen alten Schönheitsideals – Harmonie, Maß und Mitte, ‚Einfalt‘ sind nur einige, wenngleich äußerst wirkmächtige Parameter ebenjener Ästhetik – gewinnt er seine Ideen zwar überwiegend an den Werken der Plastik, gleichwohl bezeugen Goethes und Schillers klassische Dramen mit ihrer temperierten und gezähmten Sprache exemplarisch die allumfassende Strahlkraft ebenjener ästhetischen Vorstellungen. Dieses ‚neue Sehen‘ führte demnach zu einer intellektuellen Eruption in Europa, deren Nachwirkungen bis in die heutige Zeit reichen. Das lediglich ‚Ahndungsvolle‘, das Winckelmann dabei nach Goethe „im Sinne trug“, ist so wohl eher als strategische Zuschreibung aufzufassen, die ‚der‘ Klassiker Goethe mit dem Wissensvorsprung von 60 Jahren lässig formulieren konnte – im Jahr 2017 gilt es aber, sich an jenen Stendaler Kolumbus zu erinnern, auf dessen Schultern eben auch Goethe steht.

[1]Einige Biographien informieren über den Lebensgang Winckelmanns, wobei Carl Justis Biographie gewissermaßen den Auftakt macht (Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen. Mit Skizzen zur Kunst- und Gelehrtengeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1866.). Hinzu kommen die etwas älteren Biographien von Wolfgang Leppmann (Winckelmann. Ein Leben für Apoll. Berlin 1971.) und Wolfgang von Wangenheim (Der verworfene Stein. Berlin 2005.). Unlängst erschien von Klaus-Werner Haupt: Johann Winckelmann. Begründer der klassischen Archäologie und modernen Kunstwissenschaften. Weimar 2014.

[2]Elisabeth Décultot: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert. Aus dem Franz. v. Wolfgang von Wangenheim u. René Mathias Hofter. Ruhpolding 2004 [Org. Johann Joachim Winckelmann: enquête sur la genèse de l’histoire de l’art. Paris 2000.]. Zum Folgenden vgl. ebd. 

[3] Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Nach dem Tod des Verf. hg. v. Friedrich Justus Riedel [Kaiserliche königliche Akademie der Künste], Wien 1776, S. 245.

[4] Elisabeth Décultot u. Martin Dönike: Das Werk des Historikers. Die „Geschichte der Kunst des Alterthums.“ In: dies. et al. (Hg.): Winckelmann. Moderne Antike. Ausstellungskatalog zur Ausstellung im Neuen Museum in Weimar vom 07.04.2017–02.07.2017. München 2017, S. 170.  Auch die vorherigen Ausführungen beziehen sich darauf bzw. auf Daniel Fulda u. Elisabeth Décultot: Historisierung mit Widersprüchen. Zu Winckelmanns ‚Geschichte der Kunst des Alterthums‘. In: ebd., S. 41–52.