Steffen Wendlik: Graf Botho zu Stolberg- Wernigerode (1805 –1881).

Geschichte als Lebensmaxime. Konservatives und geisteswissenschaftliches Engagement eines nachgeborenen Adligen im Übergang zur Moderne

von Uwe Lagatz | Ausgabe 4-2017 | Rezensionen

Copyright: Verlag Janos Stekovics

(Veröffentlichungen der Stiftung Dome und Schlösser in Sachsen-Anhalt, 7)
Wettin-Löbejün OT Dößel 2016.
880 S., 38,00 €
ISBN 978-3-89923-369-8

Die historische Forschung ist reich an Biografien bedeutender Frauen und Männer; die Adelsforschung macht da keine Ausnahme. Vor diesem Hintergrund verwundert es schon, dass Steffen Wendlik sich die Aufgabe gestellt hat, mit dem Grafen Botho zu Stolberg-Wernigerode (1805 – 1881) die Vita eines – so jedenfalls sagt es der Klappentext des vorliegenden Buches – „Verlierers“ wissenschaftlich zu untersuchen. Was also weckte das Interesse des Historikers an einem adligen Lebensweg, der in der hiesigen Landes- und Regionalgeschichte bisher mehr oder weniger als Fußnote gehandelt worden ist?
Graf Botho stand aus unterschiedlichen Gründen im historiografischen Schatten anderer Vertreter des Hauses Stolberg-Wernigerode. Insbesondere Bothos Neffe, der 1890 in den Reichsfürstenstand erhobene Graf Otto zu Stolberg-Wernigerode (1837 – 1896) hatte ob seines sehr erfolgreichen politischen wie wirtschaftlichen Engagements in der Bismarck-Ära und der Tatsache, dass er als langjähriger (Um)-Bauherr auf seinem Stammsitz in Wernigerode der Stadt ein bis heute weithin bekanntes architektonisches Attribut bescherte, die Aufmerksamkeit solch anerkannter Historiker wie Heinrich Heffter und Konrad Breitenborn auf sich gezogen. Auch Bothos Vater, dem seit 1824 regierenden Grafen Henrich zu Stolberg-Wernigerode (1772 – 1854), wurde bereits eine differenziertere Betrachtung in neuerer Zeit gewidmet.
Graf Botho, viertes Kind der Eltern und dritter Sohn, schien schon aufgrund der Familiengesetze seines Hauses ein wenig zurückgesetzt; regieren würde einmal ein anderer. Er, der Nachgeborene, konnte allenthalben eine standesgemäße Karriere beim Militär oder im Staatsdienst anstreben. Doch beides tat er nicht. Botho entdeckte stattdessen die Geschichte für sich und mit ihr am Ende einen völlig eigenen Lebenszweck. Er wohnte ab 1863 zurückgezogen auf Schloss Ilsenburg am Fuße des Brockens und galt schon manch einem Zeitgenossen aufgrund seines besonders ausgeprägten Konservatismus und des damit korrespondierenden überaus großen historischen Interesses als ausgesprochener Eigenbrötler und Sonderling, der auf den ersten Blick wie dereinst Don Quijote die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben schien.
Steffen Wendlik hat sich glücklicherweise auf diesen ersten Blick nicht verlassen und stattdessen gründlich nachgeforscht. Seine fast 900 Seiten umfassende Studie belegt nicht nur eindrucksvoll, dass es aus landesgeschichtlicher Perspektive unbedingt lohnt, sich mit der Vita dieses weniger bekannten Stolbergs zu beschäftigen. Nein, sie leistet darüber hinaus auch einen kompetenten Beitrag zum Verständnis hochadeligen Denkens und Handelns in dem von der gesamtgesellschaftlichen Modernisierung geprägten 19. Jahrhundert, in welchem für die Vertreter des einst bevorrechteten Standes die zentrale Herausforderung darin bestanden hatte, gegen den drohenden Bedeutungsverlust anzukämpfen und sich in der entstehenden Industriegesellschaft zu behaupten.
Die vorliegende Biografie verdeutlicht, dass nicht nur regierende Fürsten vor jener schwierigen Aufgabe standen, sondern eben auch Nachgeborene wie Graf Botho. Um dessen Werdegang und die ganz persönlichen Reaktionen auf die Probleme der damaligen Zeit nachvollziehbar zu beschreiben, hat Wendlik die Studie in drei zentrale Abschnitte gegliedert: Den differenzierten Ausführungen zur „Persönlichkeitsentwicklung und Charakterprägung“, die hauptsächlich den Lebensweg des Grafen samt familiärer sowie außerfamiliäre Einflüsse betreffen, folgen ebenso ausführliche Erläuterungen zum politischen Denken und Handeln sowie zu den unmittelbar damit in Zusammenhang stehenden historischen Aktivitäten. Spätestens in diesem letzten großen Abschnitt wird spürbar, dass Graf Botho bisher völlig zu Unrecht unterschätzt worden ist. Nicht nur in der Funktion des Gründungsvorsitzenden des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde, sondern als „herausragender Vertreter des deutschen Geschichtsvereins­wesens“ (Steffen Wendlik) hatte der hochadelige Forscher, Sammler und – so würden wir heute sagen – Netzwerker Wichtiges geleistet. Dass sich diese intensive historische Beschäftigung bei seinem Protagonisten aus einer Art Selbstvergewisserung in einer völlig aus den Fugen geratenen Zeit entwickelt hatte, einer Zeit, die ihn und das Gros der Standesgenossen zu „Verlierern“ stempelte und gegen deren Auswüchse es sich folglich zu wehren galt, hat der Verfasser dabei richtigerweise immer im Blick.
Die sehr interessante und detailreiche Biografie des Grafen Botho basiert auf einer Dissertation, die Steffen Wendlik im vergangenen Jahr an der Universität Magdeburg erfolgreich verteidigen konnte. Allein das Quellen- und Literaturverzeichnis sowie der fast 150-seitige Dokumentenanhang verraten, dass hier ein Historiker „alter Schule“ mit großem Fleiß am Werk war, der nicht nur bekannte Quellen vor dem Hintergrund des aktuellen Wissenschaftsdiskurses neu bewertete, sondern seine Erkenntnisse hauptsächlich aus bisher unausgewerteten Quellen geschöpft hat. Allein dieser Umstand qualifiziert die vorliegende Studie zu einem Standardwerk landesgeschichtlicher Forschung.