Was passiert in Kalbe Milde?

Einblick in die Aktivitäten eines Vereins, der am Projekt „Vereinsdialoge“ teilnahm

von Corinna Köbele | Ausgabe 4-2016 | Bürgerschaftliches Engagement | Projekte

Karola Pfandt während ihres Projekt­stipendiums in Kalbe (Milde), 2016. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Tuchakrobatik von Luka Zimmer in Künstlerstadt Kalbe (Milde), 2016. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Corinna Köbele auf ihren Gang durch Künstlerstadt Kalbe (Milde). Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Elvira Chevalier im Gespräch mit Corinna Köbele. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Elvira Chevalier bei der Vorführung ihrers beweglichen Raumobjektes, Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Luzia Rux in Künstlerstadt Kalbe (Milde), 2016. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Orte der Begenung. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltungegegnung
Kalbe (Milde), Stadt der 100 Brücken. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
bunte Stadt Kalbe (Milde). Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung

Jeden Abend bog ich, wenn ich von der Arbeit nach Hause fuhr, in die Straße ein, die in die Altstadt führt und fragte mich, wie würde sie in fünf, in zehn Jahren aussehen? Wer würde dann noch hier wohnen, wer wäre dann nicht mehr hier, gestorben oder weggezogen? Würde ich dann in einer Geisterstadt leben? Müsste ich dann auch wegziehen? Aber wieso?! Kalbe liegt inmitten der Altmark, im Norden von Sachsen-Anhalt. Die Stadt verfügt mit ihren 2.800 Einwohnern (7.800 Einwohner mit den gesamten 34 Ortschaften als Einheitsgemeinde) über eine noch gute Infrastruktur, da sie schon lange Stadtrechte hat. Und Kalbe ist eine lebenswerte Stadt, eine Stadt mit Geschichte, Natur und freund­lichen Menschen, die einfach zu schade ist, um dem demografischen Wandel zum Opfer zu fallen. Wieso also wegziehen? Eine Lösung musste her. Warum nicht Menschen, die sonst nie den Weg nach Kalbe finden, einladen, mal das Leben hier zu erproben, mal hinein zu schnuppern und es lieben zu lernen? Warum nicht Künstler*innen die leeren Häuser und Wohnungen nutzen lassen für ein phantastisches Atelier? Wie würde die Stadt sich verändern, wenn 100 Künstler*innen hier wären? Was wäre, wenn man all den depressiven Prognosen ein lebendiges Denk-mal! entgegensetzte? Das waren die Gedanken, die mich dazu brachten, ein Konzept zu schreiben, es dem Bürgermeister vorzustellen, mit allen Vereinen zu sprechen und schließlich 2013 die „Künstlerstadt Kalbe“ ins Leben zu rufen.

Mit dem Motto “Fülle in die Hülle!“ rief ich dazu auf, den Leerstand zu beseitigen und der wunderschönen, mittelalterlich geprägten Stadt neues Leben einzuhauchen. Im Juni 2013 gründete sich der Verein und die ersten Mitwirkenden fanden sich ein. Inzwischen ist die Künstlerstadt Kalbe eine soziale Skulptur, ein nachhaltiges Stadt- und Regionalentwicklungskonzept, das den Folgen des demografischen Wandels im ländlichen Raum mittels Kunst und Kultur begegnet. Wir wollen die Lebensqualität der hier Lebenden verbessern, Anreize für einen Zuzug schaffen und Bleibeperspektiven eröffnen. Wir wollen nach Ahrenshoop und Worpswede die künftige Künstlerkolonie werden und kreatives Potential in Kalbe und in der Altmark sammeln, aber auch wecken. Inzwischen sind wir 10-fach mit Preisen und Auszeichnungen für unsere Arbeit, die nur ehrenamtlich geschieht, bedacht worden. Unter anderem erhielten wir den Demografie-Preis von Sachsen-Anhalt und wurden im Rahmen der Initiative „Deutschland – Land der Ideen“ ausgezeichnet. Seit Dezember 2015 werden wir aus dem „Fonds Neue Länder“ der Kulturstiftung des Bundes gefördert. Wir sind sehr stolz darauf, nur zweieinhalb Jahren nach unserer Gründung diesen „Oskar“ der Kulturförderung erhalten zu haben. Seit Dezember 2016 werden wir als Neuland-Gewinner von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert. Wir laden national und internationale Kunststudierende und Künstler*innen ein, im Rahmen eines Stipendiums bei uns zu wohnen und zu arbeiten. Ca. 180 Stipendien konnten wir bisher an Künstler*innen u.a. aus Süd-Korea, Portugal, Island und China vergeben. Seit zwei Jahren betreiben wir eine Galerie für zeitgenössische junge Kunst. Und wir bereichern das kulturelle Leben hier vor Ort durch Workshops (Tanzen für Kinder, Schreiben für Jugendliche u. a.) und vielfältige Veranstaltungen. So boten wir in den 51 Tagen des Sommercampus 2015 an 45 Tagen Veranstaltungen wie Konzerte, Ausstellungen, Kino, Theater, Performances, Lesungen etc. an. Inzwischen kam ein Team aus den Niederlanden und aus Großbritannien auf uns zu und wollte wissen, wie man eine Künstlerstadt macht. Kooperationen konnten nach Polen, Süd-Korea und Portugal aufgebaut werden. Daneben engagiert sich die Künstlerstadt in der Migrationsarbeit und kümmert sich auch um die Verschönerung des Stadtbildes.

Seit 2013 finden jährlich ein Sommercampus mit 50 Tagen und ein Wintercampus mit 30 Tagen während der Semesterferien der Hochschulen in der Künstlerstadt Kalbe statt. Die Kunststudierenden bewerben sich mit einem Portfolio ihrer Arbeiten, ihrem Lebenslauf, einem Empfehlungsschreiben eines Professors und der Skizze zu einem Projekt, mit dem sie sich während ihres Aufenthaltes beschäftigen wollen. Je nachdem, wie viele Atelier- und Wohnmöglichkeiten der Künstlerstadt zur Verfügung stehen – das hängt jeweils davon ab, wie viele bisher ungenutzte Häuser die Vereinsmitglieder für solche Zwecke „umnutzen“ konnten – variiert die Zahl der aufgenommenen Stipendiaten. Zwischen 8 – 52 von ihnen werden in einem Campus aufgenommen und leben schließlich für 2 – 4 Wochen in der Künstlerstadt. Besonders genießen sie die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten, die wir ihnen hier in Kalbe bieten können. Eine Vielzahl von sehr anregenden Räumen, aber auch die Offenheit der Menschen hier vor Ort für ihre Projekte begeistern sie. Daneben ergibt sich in entspannter Atmosphäre, abends beim Lagerfeuer oder durch die Aktivitäten, die den Stipendiaten noch angeboten werden, ein reger Austausch zwischen den Künstler*innen. Sie genießen es, sich frei von Konkurrenzdruck zu begegnen und von den Aktivitäten an anderen Hochschulen zu hören. Auch, dass man in Kalbe wirklich mit seiner Kunst wahrgenommen wird, schätzen alle Gäste sehr.

Die Atelierräume befinden sich in bisher nicht genutzten Häusern. Ebenso wurden die Wohnmöglichkeiten in zuvor leerstehenden Wohnungen mit gespendeten Möbeln geschaffen. Die Stipendiaten lieben das ungewöhnliche, liebevoll eingerichtete Ambiente. Der Kontakt zur heimischen Bevölkerung wird durch ein Patenschaftsmodell sichergestellt. Jeder Stipendiat bekommt einen Bewohner aus Kalbe als Ansprechperson zur Seite gestellt. Diese kümmern sich um ihren Schützling, ob durch Bereitstellen eines Hammers, oder gemeinsames Kaffeetrinken. Selbst veganes Grillgut und veganen Kuchen bekommen unsere Stipendiaten in Kalbe inzwischen angeboten. Und nicht selten entstehen so Kontakte, die weit über die Stipendiatenzeit hinaus andauern. Bis Dezember 2015 konnten wir auch Künstler außerhalb der Campuszeiten beherbergen. Als „Artist in Residence“ konnten sie bis zu drei Monate in der Künstlerstadt leben und arbeiten. Seit April 2016 besitzen wir inmitten der Altstadt einen seit vielen Jahren leerstehenden Hof. Dieser wird gerade umgebaut, und wir hoffen, ihn bald für unsere Angebote nutzen zu können. Bedarf ist allemal da. Wir erhalten Anfragen aus Bangladesh, Nigeria, Panama und den USA – kurzum aus der ganzen Welt. Dadurch, dass die „Welt“ es so spannend in Kalbe findet, haben auch die Bürger von Kalbe ihren Ort und ihre Region neu betrachten gelernt. Es wird viel über Kunst diskutiert, und die bunt bemalten Fahrräder der Stipendiaten sind aus dem Sommer von Kalbe schon nicht mehr wegzudenken. Man mag sie nicht missen unsere jungen Gäste, die immer wieder etwas Neues, Besonderes hervorzaubern, das zum Staunen einlädt und an das man sich gerne in der campusfreien Zeit erinnert. Zeitgenössische Kunst im ländlichen Raum – das geht und zieht seine großen Kreise, in den Köpfen der Menschen, in Kalbe und der Region der Altmark.