Die jüdische Gemeinde von Aschersleben.*

Geschichte und Geschichten

Lars Bremer | Ausgabe 3-2021 | Kulturlandschaft

Front und Eingang der Aschersleber Synagoge  von Norden her im Jahr 1935. Sammlung Udi Nadiv,  Zürich.
Ausschnitt aus einer Luftbildaufnahme, auf der die Synagoge eher zufällig  zu sehen ist. Gut erkennbar ist die umgebende Bebauung,  u.a. rechts oben der Stumpfe Turm. Stadtarchiv Aschersleben.
Feodor Hirsch um 1960. Sammlung Bärbel Ballhorn, Aschersleben.
Else und Hedwig Bendix in ihrem Laden in der Aschersleber Taubenstraße 4. Sammlung Laurence Schultz, München.
William Frank beim Spielen im Hof des Hauses der Familie Spanier. Sammlung Bärbel Ballhorn, Aschersleben.

* In den Artikel fließen Forschungsergebnisse von Claudia Andrae, Dr. Udo Stephan und David Löblich ein

 

Der Straßenname „Jüdendorf“ im Süden des Aschersleber Stadtkerns weist heute noch auf eine Ansiedelung von Juden seit dem Mittelalter hin. Ab 1325 ist die Ansässigkeit von jüdischen Einwohnern urkundlich belegt. Sie mussten seinerzeit Schutzgeld an den Bischof von Halberstadt, später an die Stadt Aschersleben zahlen, um sich das Wohnrecht hier zu erkaufen. Die Höhe der Gesamtabgaben und die Erwähnung des Rabbis Isaak von Eilenburg lassen auf die Existenz einer funktionierenden jüdischen Gemeinde schließen.

Eine im Turmknopf der St.-Stephani-Kirche gefundene Urkunde bezeugt die Vertreibung der Juden aus Aschersleben durch das nahe gelegene „Sauthor“ im Westen der Stadt im Jahr 1494. Darin heißt es, dass die Aschersleber „zum Andenken an der Juden Vertreibung und den Juden zum Abscheu und in Warnung nicht wieder zu kommen“ eine steinerne Sau über dem Tor angebracht hätten. Damit endet das Bestehen der jüdischen Gemeinde in Aschersleben für mehrere Jahrhunderte.

Mitte des 18. Jahrhunderts sind wieder zwei jüdische Familien nachgewiesen, welche einen „Lehrer“ namens Moses Jacob beschäftigten, der im Jahr 1746 hier geboren wurde.

Die Besetzung Ascherslebens durch die Franzosen brachte deren Ideale von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ für alle Menschen unabhängig von ihrer Religion auch nach Aschersleben. Dies mag ein Grund für den Zuzug von jüdischen Familien gewesen sein, denn im Jahr 1852 zählte die Gemeinde genau 100 Mitglieder. Ins gleiche Jahr datiert die Weihe einer im klassizistisch-neoromanischen Stil erbauten Synagoge.

Das Gebäude war umgeben vom Haus des jüdischen Kantors, von einer Mikwe sowie von Geschäftshäusern und somit von außen nicht unmittelbar einzusehen. Es besaß eine Grundfläche von etwa 130 qm. Mit den großen Fenstern und dem Rundbogenportal erinnert es an Kirchenbauten. Durch die Angleichung an christliche Bauwerke erhoffte sich die jüdische Gemeinde möglicherweise einen Beitrag zur Emanzipation in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Tafeln links und rechts oberhalb der Tür zeigten in deutscher und hebräischer Sprache einen Segensspruch aus der Tora: „Gesegnet bist du bei deinem Eingang und gesegnet bist du bei deinem Ausgang“ (=5. Mose 28, 6).

Die nach Süden orientierte Innenarchitektur gibt Hinweise, dass es sich bei der Aschersleber Gemeinde um eine sogenannte Reformgemeinde gehandelt hat: so waren Toraschrein und Almemor zu einer Einheit zusammengefasst, die Frauenempore lediglich durch eine Brüstung vom Hauptraum abgetrennt und die Gemeinde selbst bezeichnet ihr Gebetshaus als „Tempel“.

Erhaltene Fotos aus den 1930er Jahren belegen, dass der zwischen Synagoge und Kantorenhaus gelegene Garten auch dem geselligen Leben der Gemeinde diente. Im Zuge der Reichspogromnacht vom 9. und 10. November 1938 wurde das Gebäude zerstört. Die Fundamente der Synagoge liegen heute unter einem Hügel verschüttet. Erkennbar sind nur noch Sockelreste aus Naturstein, die Simse des Portals sowie die untere Türangel des Eingangsportals.

Die Zahl der jüdischen Einwohner war im Verhältnis zur Gesamtzahl der Einwohnerschaft Ascherslebens gering. Dennoch zählten prominente Personen dazu, die das gesellschaftliche und geschäftliche Leben der Stadt mitprägten. Drei Beispiele mögen das belegen:

I) Der Kaufmann Feodor Hirsch (1888-1970) kam im Jahr 1910 nach Aschersleben und lernte hier seine spätere Frau Helene kennen. Sie trat zum jüdischen Glauben über. Feodor Hirsch fand Anstellung im Kaufhaus S. & M. Crohn, dessen Miteigentümer er war, als das Geschäft 1938 enteignet wurde. Feodor Hirsch wurde in der Folge zu einfachen Zwangs­arbeiten im Stadtgebiet verpflichtet. Er und seine Frau mussten ihre Wohnung verlassen und in sogenannten „Judenhäusern“

Seiner Bekanntheit in der Stadt und die Ehe mit seiner Frau, die aus der jüdischen Gemeinde wieder ausgetreten war, boten ihm einen gewissen Schutz vor der Verfolgung. Überlebt hat Feodor Hirsch die Zeit des untergehenden NS-Regimes jedoch versteckt.

Nach dem Krieg kümmerte er sich um die Rückgabe jüdischen Besitzes, der enteignet worden war. Feodor Hirsch starb 1970 und wurde neben seiner Frau auf dem jüdischen Friedhof in Aschersleben beigesetzt.

II) Die Schwestern Else Bendix (1882 – 1942) und Hedwig Bendix (1885– 1942) betrieben 31 Jahre lang ein Korsettwaren-Geschäft in der Innenstadt von Aschersleben. Im Angebot waren Miederwaren, Strümpfe und Luxuswäsche aus zum Teil US-amerikanischer Produktion. Zahlreiche stilvolle Anzeigen in der Aschersleber Lokal-Zeitung belegen den hohen Anspruch, mit dem die Schwestern ihr Geschäft führten.

An hohen jüdischen Feiertagen blieb ihr Laden geschlossen, was auf eine gewisse Religiosität der Geschwister hindeutet. Ihre Mutter Lina Bendix liegt auf dem Aschersleber jüdischen Friedhof begraben.

Unter Druck gesetzt, mussten Else und Hedwig Bendix ihr Geschäft im September 1938 an „arische“ Besitzer verkaufen, ihre Wohnung verlassen und nach Halberstadt umziehen, woher ihre Familie stammte. Am 12. April 1942 wurden sie von Halberstadt über Magdeburg nach Warschau deportiert. Dort verlieren sich ihre Spuren. Sie wurden ermordet.

III) William Frank (1937 – 1942) war der Sohn von Hermann und Elfriede Frank. Seine Eltern trennten sich früh. Während sein Vater Hermann in die USA emigrierte, zog seine Mutter mit William zurück ins Haus ihres Vaters, eines bekannten Immobilienhändlers am Wilhelmsplatz 8. Elfriede dokumentierte die Kindheit ihres Sohnes in einem Fotoalbum: Kindergeburtstag, Spielen mit Freunden, William und sein Kaninchen. Die Mutter versuchte ihrem Sohn ein behütetes Aufwachsen zu ermöglichen.

Während der Reichspogromnacht beschädigen Aschersleber das Haus der Spaniers und beschimpfen die Bewohner. Im April 1942 wurde die gesamte Familie aufgefordert, sich am Bahnhof in Aschersleben einzufinden. Von dort wurden sie ins Warschauer Ghetto deportiert. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Sie wurden ermordet.

 

Im Jahr 1928 ließ die jüdische Gemeinde durch den bekannten Stadtbaurat Hans Heckner eine neue Trauerhalle auf dem jüdischen Friedhof erbauen. Zu ihrer Weihe waren führende Politiker der Stadt sowie Geistliche der evangelischen Kirchen anwesend. Ein Beleg, wie gut die jüdische Gemeinde ins Stadtleben integriert war oder zumindest schien.

Der 1933 einsetzende Terror des NS-Regimes veranlasste zahlreiche jüdische Bürger zur Aufgabe ihrer Geschäfte und zur Flucht aus Deutschland. Nach der Reichspogromnacht 1938 erreichten die Drangsalierungen ihren vorläufigen Höhepunkt. Neben der Synagoge wurde auch die erst zehn Jahre alte Trauerhalle ein Opfer der Flammen. Wem es bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges nicht gelang zu emigrieren, hatte keine Möglichkeit mehr aus Deutschland zu fliehen. Verbliebene Familien und Gemeindeglieder mussten ihre Wohnungen verlassen und in Judenhäuser ziehen. Am 13. April und am 16. November 1942 wurden sie von Aschersleben aus mit Zügen deportiert und schließlich ermordet. Bekanntermaßen überlebten drei jüdische Mitbürger in Aschersleben, weil sie nichtjüdische Ehepartner hatten: Feodor Hirsch, Hedwig Bohne und Hanna Müller. Ein Gemeindeleben hat es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder gegeben. 1970 wurde Feodor Hirsch als letzter jüdischer Einwohner von Aschersleben auf dem jüdischen Friedhof bestattet. Heute weisen derzeit 70 in der Stadt verlegte Stolpersteine auf ihre ehemaligen jüdischen Mitbürger hin. Der jüdische Friedhof wird instand gehalten und kann besucht werden. Das Gelände der ehemaligen Synagoge ist im Rahmen von Stadtführungen begehbar, welche die Aschersleber Tourist-Information, Hecknerstraße 6, vermittelt.

 

Durch den Arbeitskreis „Geschichte jüdischer Mitbürger in Aschersleben“ wird das Leben vieler Menschen erforscht. Es entsteht puzzleartig ein Einblick in das jüdische Leben vor Ort. Und es wird deutlich, wie sich die große Geschichte in einer kleinen Stadt widerspiegelt. Die evangelische Kirchen­gemeinde versucht die Erinnerung ebenfalls wachzuhalten. Die Figuren­gruppe des Stephanus an der Westfront der Stephanikirche ist wie ein Weckruf und Anlass bei Führungen, auf die früheren Ungerechtigkeiten und die heutigen Gefahren hinzuweisen.

Die Aschersleber Kulturanstalt, der Arbeitskreis und die Kirchengemeinde verantworten und gestalten seit mehreren Jahren die Jüdischen Kulturwochen vor dem 9. November. Durch Lesungen, Diskussionen, Ausstellungen, Führungen für Schulen und Interessierte wird ein Bild des Judentums versucht zu zeichnen, dass die Vielfältigkeit darstellt. Besondere Höhepunkte sind Stolpersteinverlegungen des Arbeitskreises, oft auch mit Familienangehörigen. Sie nehmen die Aschersleber neu wahr und es gibt Versöhnung.

Anne Bremer