Mühlenland Sachsen-Anhalt, Teil 9
Wassermühlen an der Bode – die Wassermühle Neugattersleben
Henry Bergmann (Federführung), Rolf Markgraf, Helmut Notzke und Gerhard Papsch, Arbeitskreis Mühlen Sachsen-Anhalt e.V. und Institut EUT an der Hochschule Anhalt | Ausgabe 1-2019 | Geschichte | Kulturlandschaft
Dieser Beitrag entstammt einer Arbeitsgruppe aus vielen Helfern, die sich auf Initiative von Gerhard Papsch, Nienburg, die Erforschung der Wassermühlen an der Bode zur Aufgabe gemacht hat. Er ist eine Kurzfassung einer kürzlich erschienenen Broschüre [1] zum selben Thema. Zuvor hatte es schon Versuche der Geschichtsaufbereitung gegeben, ohne aber auf technische Details stärker einzugehen [2,3].
Im an Windmühlen armen Gebiet des Harzes waren es vor allem die Wassermühlen, die hier früher an vielen Orten wirtschaftlichen Zwecken dienten. Zu den antreibenden Flüssen zählte die Bode mit einem Einzugsgebiet von 3.292 km², die, ca. 800 Höhenmeter überwindend, über 170 km bis zur Mündung in die Saale vor Nienburg zurücklegt und dabei Wassermengen von über 100 Kubikmeter pro Sekunde führen kann – ausreichend, um Mühlenbetriebe mit Leistungen von über 100 kW zu versorgen. An 60 Tagen im Jahr zwischen April und September herrschte allerdings oft Wassermangel.
Die Geschichte der Wassermühle Neugattersleben (Bild 1) ist eng mit der des Schlosses Neugattersleben verbunden. Das Schloss hatte in früheren Jahrhunderten den Charakter eines Wasserschlosses mit einem weitläufigen Areal von Park- und Nutzflächen, die von einem gut durchdachten und regulierten Kanalsystem durchflossen wurden. Die Wassermühle Neugattersleben wurde zuletzt durch einen (inzwischen zugeschütteten) Ringgraben sowie durch einen von der Bode abgezweigten Mühlkanal mit Wasser gespeist (Bild 2). Flussaufwärts in dem zwischen 1905 und 1907 gebauten Flutkanal befand sich bis 1980 ein Walzenwehr mit einem 17,40 m langen Walzenkörper. Ein Streichwehr hinter dem Rittergut Neugattersleben (Bild 3) diente der Regulierung der Hauptwassermenge von der Bode in den Mühlkanal, der weiter mit Rechenanlage und Schützenwehr ausgestattet wurde. Das verfallene Streichwehr bildet heute einen Werder.
Zur Geschichte der Wassermühle
Die erste urkundliche Erwähnung des Ortes erfolgte im Jahr 1164. Bis 1928 bestand der Ort aus zwei selbständigen Gemeinden, dem Gutsbezirk Neugattersleben und der Gemeinde Hohendorf. Der Name Neugattersleben geht auf das Geschlecht derer von Gatersleben zurück. Zur Unterscheidung zum alten Geschlecht Gatersleben wurde der Namenszusatz „Neu“ hinzugefügt. Zeitweilig gehörte das Schloss der Altstadt Magdeburg, die sich aber durch einen hohen Schuldenbetrag gezwungen sah, es 1573 an Ludolf X. von Alvensleben für 93.000 Reichstaler zuzüglich 4.000 Taler für milde Zwecke zu verkaufen. 1589 wird oft als Baujahr der Wassermühle angegeben. Der dekorative Wappenstein (Bild 4) an der Wassermühle Neugattersleben zeigt ebenfalls die Jahreszahl 1589. Dies ist offenbar aber nur das Jahr des Neuaufbaues durch Ludolf X., denn ein Kaufbrief von 1573 erwähnt auch eine Mühle. Leider sind nur wenige Abbildungen überliefert. Eine Zeichnung des Schlossbezirks, die auf 1650 – 1660 datiert wird, lässt eine Mühle mit einem Wasserrad erkennen (Bild 5). Rechts im Vordergrund fließt unter der Brücke die Bode hindurch. Die Mühle stellt ein massives mehrstöckiges Gebäude dar, das mehrere Mahlgänge besaß. Die alte Heerstraße verläuft zwischen Mühle und Schloss und ist über die Bodebrücke mit der Ortslage Neugattersleben verbunden. Hinter dem Wasserrad ist ein größeres Gestell zu erkennen – wahrscheinlich eine so genannte Panstermühlenkonstruktion. Über eine Zugvorrichtung konnte man in Abhängigkeit vom Wasserstand des Flusses das Wasserrad anheben oder absenken. Bild 6 zeigt als Ausschnitt eine Panstermühlenkonstruktion mit drei Wasserrädern in Neugattersleben um 1865. Ein Plan von Bernoulli aus dem Jahre 1782 zeigt ebenfalls drei Wasserräder an der Giebelseite des Mühlengebäudes. Die Karte enthält noch die wichtige Information, dass zu dieser Zeit Getreide und Ölfrüchte vermahlen wurden. Um 1900 wurden die Wasserräder durch eine Turbine ersetzt. 1800 wurde die Mühle erneuert. Weitere Renovierungen erfolgten 1869, 1878 bzw. 1897. Mühlen im Besitz von Grundherren wurden oft durch Pächter betrieben. Es werden frühere Pächter mit Namen Lange und Müller in den vorhandenen Unterlagen genannt. Nach Archivangaben (LHA Magdeburg) war ab dem 8. Dezember 1856 bzw. ab dem 1. Mai 1857 Gottlieb Conrad der Pächter. Die ersten neun Jahre betrug der Pachtzins 9.000 Mark jährlich, die nächsten neun Jahre 12.000 Mark. Zum Vergleich: Gegen 1880 verdiente ein einfacher Arbeiter zwischen einer und drei Mark pro Tag bei zwölfstündiger Arbeitszeit. Conrad baute die Mühle um bzw. erbaute das noch heute vorhandene Wohnhaus neben der Mühle. In Unterlagen aus dem Jahre 1878 heißt es: „Da sich im Verlauf einer 18-jährigen Pachtperiode die Mühleneinrichtung als nicht mehr zeitgemäß er-wies, auch eine Erneuerung des Mühlengebäudes wünschenswert war, so erbaute Herr Gottlieb Conrad im Jahre 1878 ein neues Mühlengebäude, legte das Werk nach dem neuen amerikanischen System mit 8 Mahlgängen und baute gleichzeitig zwei neue Wasserräder“ [4]. Die Renaissancegiebel sind heute nicht mehr vorhanden. Das neue Wohnhaus trägt aber noch eine Tafel mit den Worten:
„Oh Gott, wie groß sind deine Taten, du lässt mir alles wohl geraten,
du machst, dass mir mein Bau gelingt, der dir Ruhm, Ehr und
mir den Segen bringt. Erbaut im Jahre 1864 von Gottlieb Conrad,
Psalm 127“.
In alten Plänen erkennt man in den Mahlgängen noch Mühlsteine, die erst später gegen Walzenstühle ausgetauscht wurden. Manchmal wurden aber auch bis in die Neuzeit in industriellen Mühlen noch mit Mühlsteinen gearbeitet, wenn man besondere Mehlqualitäten erhalten wollte. Heute sind in der Mühle noch einzelne Mühlsteine und ein Walzenstuhl vorhanden (Bilder 7 und 8).
Am 1. Mai 1885 wurde der Sohn Franz Conrad im Alter von 32 Jahren Mitpächter der Wassermühle. Ein neuer Pachtvertrag mit Franz Conrad wurde am 4. Dezember 1895 unterzeichnet. Gleichzeitig wurde das Wohnhaus durch einen Anbau vergrößert. Die Conrads waren offensichtlich reich geworden. Der Pachtzins von 1878 bis 1898 betrug jährlich 10.800 Mark. 1877 besaß die Ausstattung der Mühle einen Wert von 80.618,30 Mark. 1896 waren es 83.105,40 Mark und 1907 66.105 Mark. Der Wert der Turbine wurde 1896 mit 11.668,80 Mark angesetzt [1].
Die Mühle hat auch nach Aussagen von Zeitzeugen den Wohlstand der Familie stark genährt, der stolz in Bild 9 mit dem Fuhrpark und den Kutschen zur Schau gestellt wird. Wenig später erfolgten weitere bauliche Veränderungen. Das Mühlengebäude erhielt ein aufgelegtes Fachwerk, in das auch der Leitspruch der Familie von Alvensleben eingeprägt wurde: Stryde, Lyde, Myde Vorworde, Vorhorde, Vorborde (Streite, leide, meide – für das gegebene Wort, für den Hort des Überlieferten, für die angestammte Erde).
Die Conrads blieben fast 50 Jahre Pächter. Franz Conrad starb am 30. 12. 1906. Am 24. Januar 1907 erfolgen Konkursanmeldung und Eröffnung des Konkursverfahrens. Rentmeister Krause berichtet [1], dass Gottlieb Conrad die Bürgschaft über Schulden eines Bruders übernommen hatte, für die nun mit der Erbschaft eingetreten werden musste. Der neue Pächter ab dem 15. April 1907 und bis zum 1. April 1913 war ein Herr Wilhelm Borges aus Salbke. Pachtzins und tägliche Mahlleistung betrugen 7.500 Reichsmark bzw. 10 Tonnen. In den Silos konnten 222 Tonnen Getreide gelagert werden. Weil
sich danach kein Pächter fand, der bereit war, einen höheren Zins zu zahlen, fiel die Bewirtschaftung wieder an das Schloss zurück.
In der DDR war die Wassermühle bis 1958 der Stadt Nienburg als Zweigbetrieb der VEB Mühlenwerke (K) Nienburg zugeordnet. Danach gehörte sie zu den Vereinigte Mühlenwerke VEB Saalemühlen Bernburg, Alsleben und Calbe. Sie arbeitete noch bis 1969. Dann funktionierte das existierende Stausystem nicht mehr und das Wasser der Bode wurde größtenteils über den Umflutkanal in Richtung Nienburg abgeleitet. Da in der DDR chronischer Wohnungsmangel herrschte, wurde das Mühlengebäude teilweise noch als Wohnraum genutzt.
Zur Technik der Wassermühle
Eine ausführliche Beschreibung der Technik ist der erwähnten Schrift [1] zu entnehmen. Hervorhebenswert ist allerdings, dass im Rahmen des Umbaus 1877/78 ein neues fünfstöckiges Mühlengebäude entstanden war. Damit wurden die Voraussetzungen für die Einrichtung des amerikanischen Vermahlungssystems geschaffen. Auch die Antriebstechnologie wurde grundlegend verändert. Anstelle der Königswellen wurde im Erdgeschoss eine waagerecht liegende Transmissionswelle (Bild 10) installiert. Die gesamte Mehlherstellung wurde von zwei Wasserrädern (Durchmesser 4,10 und
4,30 m; Breite 2,30 m) angetrieben. Das dritte Rad arbeitete für die Ölmühle ebenfalls auf die Haupttransmission. Mit dem späteren Einbau der Turbine folgte Franz Conrad dem Trend seiner Zeit. Alte (unterschlächtige) Wasserräder hatten deutlich schlechtere Wirkungsgrade (oft nur ca. 40 %) als Turbinen und so setzten sich Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Turbinenantriebe in Wassermühlen durch. Bei der Modernisierung 1896/97 wurde die Mühle mit einer Francis-Doppelkranzturbine anstelle der Wasserräder ausgestattet. Noch heute ist das alte Glockenrad der Turbine erhalten (Bild 11). Nach Angaben von Otto Rogoska, des letzten Müllers in Neugattersleben, ließ sich die Ausstattung der Mühle in den letzten Betriebsjahren rekonstruieren. Um 1917 ist wahrscheinlich der Beginn einer Elektrifizierung zu sehen. Es wurde Gleichstrom zur batteriegestützten Beleuchtung erzeugt, der auch von der Kirche und dem Schloss genutzt wurde.
Der gegenwärtige Zustand
Nach der politischen Wende wurde die Mühle durch eine kostenintensive Dachsanierung zunächst gesichert. Die Böden wurden weitestgehend entkernt und bis auf einzelne Reste von der Technik befreit. Einer Nutzung als Mühle oder Wasserkraftanlage stehen aber die Europäische Wasserrahmenrichtlinie und fehlende Staumöglichkeiten im Wege. Damit ist eine technische Nutzung des imposanten Bruchsteinbaues wenig wahrscheinlich. Es ist zu befürchten, dass das denkmalgeschützte Gebäude allmählich dem Verfall preisgegeben wird. Auf einer Auktion im Jahre 2012 wurde die Wassermühle für 125.000 Euro angeboten. 2014 betrug das Mindestgebot 49.000 Euro. Dieses Mal fand sich ein Käufer. Derzeit steht die Mühle aber wieder zum Verkauf, ohne dass Veränderungen erfolgt sind.
Quellenverzeichnis
[1] Bergmann, H., Papsch, G., Notzke, H., Markgraf, R.: Aus der Geschichte der regenerativen Energien in Sachsen-Anhalt – Wassermühlen an der Bode: Die Wassermühle in Neugattersleben, Hochschule Anhalt, Dessau und Köthen 2018, ISBN 978-3-96057-035-6.
[2] Pittner, J., Wissenswertes rund um die historische Wassermühle in Neugattersleben, Bernburger Heimatblätter (2001) 20 – 26.
[3] Pittner, J., Ein historischer Ausflug an die Bode in Neugattersleben, Bernburger Bär 39 (2001) 106, 9 – 15.
[4] Werth Taxe des gangbaren Werkes in der Mahl- und in der Oehlmühle des Müllermeisters Herrn Gottlieb Conrad in Neugattersleben, Sondershausen, d.1. November 1878, Landesarchiv Magdeburg-LHA- Rep H Neugattersleben Nr. 32.