Das Kriegsgefangenenlager Kleinwittenberg.

Bericht über ein Projekt im Rahmen des Bundesprogramms ‚Demokratie leben!‘

von John Palatini | Ausgabe 4-2018 | Geschichte

Propagandapostkarte, 1916, Privatbesitz
Umschlag von „The Horrors of Wittenberg“, London 1916. Privatbesitz

Die Wanderausstellung „Heimat im Krieg“ gastierte zu Beginn des Jahres in Merseburg. Der Schwerpunkt dieser sechzehnten Station der Ausstellung waren die Kriegsgefangenenlager des Ersten Weltkriegs, von denen es zwischen 1914 und 1921 zwölf auf dem Territorium Sachsen-Anhalts gab. Seitens des Landesheimatbundes wurde aus diesem Anlass im Vorjahr mit der Vorbereitung einer Tagung begonnen, die schließlich am 03. März 2018 in Merseburg stattfand. Schnell hatte sich gezeigt, dass die Geschichte dieser Lager, in denen hunderttausende Gefangene untergebracht waren, weithin unerforscht war. Lediglich zum Lager in Quedlinburg ließen sich wissenschaftliche Untersuchungen nachweisen.
Ein weiteres Lager befand sich in Wittenberg, wo sich das vom PFLUG e. V. getragene ‚Haus der Geschichte‘ seiner Erforschung annahm. Erste Recherchen förderten Erstaunliches zu Tage: Offenkundig war dem Lager in Folge einer Fleckfieber-Epidemie 1915 besondere Aufmerksamkeit in den englischen Medien zu Teil geworden, wofür besonders eine Schrift mit dem reißerischen Titel „The Horrors of Wittenberg“ verantwortlich schien. Hinzu kamen die Memoiren des amerikanischen Botschafters James W. Gerard, der das Lager 1915 besucht hatte. Schon 1918 erschien eine Verfilmung seines Buches als Teil der amerikanischen Kriegspropaganda, wobei auch die Geschehnisse im Wittenberger Lager dargestellt wurden. In der letzten Szene werden Gefangene unter dem Vorwand ihrer Freilassung auf ein Feld geführt und von diabolisch grinsenden Pickelhaubenträgern erschossen. Könnte das wirklich geschehen sein? Die ersten Funde führten zu mehr Fragen als Antworten. Was hatte sich wirklich in dem Lager nahe der Christuskirche zugetragen? Wodurch war das enorme Interesse englischer und amerikanischer Zeitungen zu erklären?
Als die Partnerschaft für Demokratie des Landkreises Wittenberg nach neuen Projekten suchte, die aus Mitteln des Bundesprogramms ‚Demokratie leben!‘ gefördert werden sollten, stellte auch der PFLUG e. V. einen erfolgreichen Antrag. Unter dem Titel „German Horror“ – der Überschrift eines englischen Zeitungsartikels von 1916 – wurde zwischen März und Juni nach weiteren Quellen gesucht, u. a. im Nationalarchivarchiv Großbritanniens, in internationalen Zeitungsarchiven, im ‚Imperial War Museum‘ Australiens, und im Archiv des Comité International de la Croix-Rouge. Entdeckt wurden hunderte Namen von Gefangenen und hunderte Zeitungsartikel, Unterlagen des britischen Außenamtes von erheblichem Umfang sowie Interviews und Erinnerungsbücher von ehemaligen Gefangenen, die das Geschehen im Lager thematisieren. Die Suche in den lokalen Archiven war ebenfalls erfolgreich. Im Archiv der evangelischen Stadtkirche St. Marien fand sich ein detaillierter Lageplan aus dem Jahr 1915, der die Ausmaße des Lagers begreiflich macht. Im Kreisarchiv Wittenberg wurde eine Totenliste gefunden, die wertvolle Hinweise über den Verlauf der Fleckfieber-Epidemie liefert und im Ratsarchiv konnten sämtliche Zeitungsmeldungen zwischen 1914 und 1919 identifiziert werden.
Die Präsentation der Funde erfolgte am 12. Juni in der Christuskirche. In einem Folgeprojekt wurde auf der Grundlage der Ergebnisse inzwischen eine Ausstellung erarbeitet, die auch in Schulen zu sehen sein wird. Die wissenschaftliche Auswertung des gefundenen Materials dauert indes noch an. Eine Monographie über das Lager ist in Vorbereitung. Und die Frage, wie künftig an das Lager, in dem 1205 Menschen starben, erinnert werden soll, wird noch zu stellen sein.