Endlich eine Kirche im Dorf. Die Umsetzung der Fachwerkkirche aus Klein Chüden ins Freilichtmuseum Diesdorf

Jochen Alexander Hofmann | Ausgabe 3-2020 | Kulturlandschaft

Die Kirche am ursprünglichen Standort Klein Chüden 2017. Foto: FLM Diesdorf
Museumsgelände in Diesdorf vor der Umsetzung Foto: FLM Diesdorf
Fundamentarbeiten am neuen Standort der Kirche im Winter 2019 Foto: FLM Diesdorf
Kirche mit neuem Pfarrgarten, August 2020 Foto: FLM Diesdorf
Arbeiten an der Kirche im Mai 2020 Foto: FLM Diesdorf
Jochen Alexander Hofmann – Landrat Michael Ziche (v. l.) bei der Abnahme der Glocke in Chüden im November 2019 Foto: FLM Diesdorf
Abnahme der Glocke. Foto: FLM Diesdorf
DIe Glocke ist wieder am angestammten Ort. Foto: FLM Diesdorf

Einfach, fast unscheinbar, von außen auf den ersten Blick als sakrales Gebäude nicht unbedingt zu erkennen, stand eine kleine Fachwerkkirche über 220 Jahre am Dorfrand von Klein Chüden, wenige Kilometer nordöstlich von Salzwedel, dicht an der Grenze zum Hannoverschen Wendland. Seit diesem Sommer ist sie nun das „jüngste“ Gebäude im Freilichtmuseum Diesdorf. Damit ging ein lange gehegter Wunsch in Erfüllung: Sachsen-Anhalts einziges volkskundliches Freilichtmuseum hat nun endlich eine Kirche im Dorf.

Errichtet wurde das Gotteshaus 1793, nachdem der mehrfach geflickte mittelalterliche Vorgängerbau – der früheste Beleg für eine Kapelle in Klein Chüden stammt aus dem Jahre 1388 – endgültig nicht mehr zu retten war. Die spannende Baugeschichte ist durch Archivalien dicht belegt, und ein in Vorbereitung der Translozierung erstelltes baukundliches Gutachten konnte diese Quellen bestätigen. Die Gläubigen in Klein Chüden setzten den Neubau mit Unterstützung des preußischen Königs gegen den Willen der Kirchenverwaltung durch und streckten sogar einen großen Teil der Baukosten vor. Sicher wurde auch deshalb schlicht und sparsam gebaut, auf einen Turm oder eine reiche Ausstattung verzichtet.[1]

Wohl über 500 Kirchen gibt es in der Altmark,[2] und der Gedanke, das Ensemble ländlicher Nutz- und Wohngebäude im Freilichtmuseum Diesdorf mit der altmarktypischen „Kirche im Dorf“ zu komplettieren, trieb bereits den langjährigen Museumsleiter Peter Fischer (1943 – 1996) um. Aus verschiedenen Gründen ließ sich dieser Plan aber weder zu Fischers Lebzeiten noch später verwirklichen.

Eine Kirche lässt sich nun einmal nicht so einfach in ein Freilichtmuseum transferieren wie ein altes Bauernhaus. Zwar sind Kirchen nach evangelischem Verständnis – und die Altmark war seit 1539 lutherisch – anders als nach katholischer Auffassung keine durch Weihe geheiligten Räume, sondern in gewissem Sinne ‚Nutzgebäude‘ für die Gemeinde, aber es handelt sich eben doch nicht um profane Bauten, die man nach dem Ende der Nutzung ohne weiteres aufgeben könnte.[3] Zudem stehen historische Kirchenbauten in der Regel unter Denkmalschutz, der für die Translozierung vom ursprünglichen Standort auf ein Museumsgelände zunächst eine Hürde darstellt. Nicht überraschend sind daher Kirchen und Kapellen bisher eher selten in Freilichtmuseen zu finden.[4] Es bedurfte auch in Diesdorf besonderer Umstände und überzeugter Entscheidungsträger, um dieses wirklich nicht alltägliche Projekt zu verwirklichen. Es wurde ermöglicht durch die Unterstützung aus dem Förderprogramm „ländliche touristische Infrastruktur“ nach der Richtlinie zur Förderung der regionalen ländlichen Entwicklung des Landes Sachsen-Anhalt in der EU-Förderperiode 2014 bis 2020 (RELE 2014 – 2020). Einen großen Teil der Baukosten übernahm jedoch auch der Altmarkkreis Salzwedel als Träger des Museums.

Zur Chronologie der Ereignisse: Der Kirchenkreis Salzwedel hatte bereits 2014 die Umsetzung der seit langem baufälligen und nicht mehr zu Gottesdiensten genutzten Kirche von Klein Chüden ins Freilichtmuseum Diesdorf auf die Lokale Entwicklungsstrategie (LES) 2014 – 2020 der zuständigen LEADER-Aktionsgruppe (LAG Mittlere Altmark) setzen lassen. Im Sommer 2017 konkretisierte das Kirchenbaureferat das Vorhaben mit einer Anfrage an den Altmarkkreis Salzwedel, die bei Kulturdezernent, Kulturausschuss und nicht zuletzt bei Landrat Michael Ziche auf offene Ohren traf. Das Kreisbauamt konnte den Planungsprozess anstoßen, ein Fördermittelantrag wurde formuliert und eingereicht, und die weiteren administrativen Schritte zur Übertragung des Kirchengebäudes an den Landkreis in die Wege geleitet. Es waren durch die engagierten Mitarbeiterinnen des Bauamtes, der Stabstelle Kultur und anderer Bereiche der Kreisverwaltung noch einige Hindernisse aus dem Weg zu schaffen, die hier nicht detailliert geschildert werden sollen. Es scheint aber angemessen, an dieser Stelle allen Beteiligten für die resolute und professionelle Durchführung des Gesamtprojektes zu danken.

In einem sehr bewegenden und überaus gut besuchten „letzten“ Gottesdienst wurde die Kirche in Klein Chüden am 24. März 2019 entwidmet und der Kirchenschlüssel symbolisch übergeben. Die Menschen aus Klein Chüden, auch wenn sie nicht zu den regelmäßigen Kirchgängern gehört hatten, betonten an diesem Tag immer wieder die enge Verbindung zu ihrer Kirche, in der sie getauft und konfirmiert wurden, und die sie tagtäglich am Ortseingang begrüßt hatte. In die Wehmut mischte sich allerdings auch die Zuversicht, dass das Kirchlein im Diesdorfer Museum eine dauerhafte Heimat und viele interessierte Besucher finden könne.

Noch einen langen Sommer über blieb die Kirche an ihrem angestammten Platz, Mitte Oktober rückten schließlich die Zimmerleute und Maurer an, um das Fachwerkgebäude Stück für Stück auseinanderzunehmen. Alle Bauteile, von den Dachsteinen über die hölzernen Riegel, Ständer und Streben, bis zu den zur Ausfachung und als Bodenbelag verwendeten Ziegelsteinen wurden kritisch begutachtet, wiederverwendbares Material ordentlich sortiert und nach Diesdorf transportiert. Das Ziel war natürlich, so viel originale Bausubstanz zu erhalten, als möglich. Nicht zu retten war leider der stark schädlingsbefallene Dachstuhl, wie auch einige der in früheren Jahren pragmatisch mit Beton und „Sauerkrautplatten“ sanierten Gefache. Diese Teile wurden bei der Rekonstruktion im Museum weitgehend mit Altholz bzw. zeittypischen Baumaterialien ergänzt. Große Aufmerksamkeit erfuhr die Abnahme der auf das Jahr 1488 datierten Kirchenglocke, deren bemerkenswerte Geschichte den historischen Wert der Kirche geradezu verdoppelt: Sie stammt von der Kirche des direkt an der innerdeutschen Grenze gelegenen Nachbarortes Jahrsau, dessen Einwohner 1952 bis 1966 vertrieben und umgesiedelt, und dessen Gebäude 1970/71 abgerissen wurden.[5] Durch die Jahrsauer Glocke ist die Klein Chüdener Kirche auch ein Mahnmal der deutschen Teilung, und es war ein passender Zufall, dass sie am 7. November 2019 – fast auf den Tag genau 30 Jahre nach dem Mauerfall – unter Aufsicht des Landrates demontiert und sicher verladen wurde.

Parallel zu den Arbeiten in Klein Chüden wurde auf dem Museumsgelände in Diesdorf der Bauplatz vorbereitet und das Fundament gegossen. Zu Beginn der Adventszeit 2019 war die Kirche vollständig abgebaut, die Einzelteile sicher zwischengelagert, und in Diesdorf alles zum Wiederaufbau bereit. Dann kam der Winter, und nach dem Winter kam Corona. Trotz der schwierigen Zeit, die damit begann, konnten die Bauarbeiten Ende März 2020 wieder aufgenommen werden, und die Handwerker schritten rasch voran. Kurz vor Ostern stand der Fachwerkrohbau – auf das traditionelle Richtfest musste während des lockdown freilich verzichtet werden – und zu Pfingsten waren die Dacheindeckung und die Ausmauerung der Gefache abgeschlossen. Der Frühsommer ging mit dem Innenausbau dahin: Lehmverputz an Decken und Wänden, Neuverlegung des Ziegelfußbodens, Einpassen der Fenster und Türen und – Zugeständnis an die museale Nutzung des Gebäude  – Installation von Licht und Steckdosen.

Dass am 17. Juni 2020, dem 67. Jahrestag des Aufstandes in der DDR, der in Westdeutschland bis 1990 als „Tag der deutschen Einheit“ gefeiert wurde, die Glocke aus Jahrsau an den Giebel der Kirche aus Klein Chüden zurückkehren konnte, war wiederum nicht geplant, sondern einem günstigen Zeitfenster im Terminkalender des Landrates und des Sparkassenvorstandes zu verdanken. Beide ließen es sich nicht nehmen, bei diesem Ereignis vor Ort zu sein und mit kräftigen Zügen am Glockenseil die mit finanzieller Unterstützung der Sparkasse Altmark West inzwischen restaurierte Glocke hell erklingen zu lassen.

Seit längerer Zeit steht hingegen der 3. Oktober 2020 als Termin für den ersten Gottesdienst in der „neuen“ Kirche fest. Beim anschließenden Festakt zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit wird natürlich auch die „Einheitsglocke“ aus Jahrsau zu hören sein.

Bis dorthin bleibt natürlich noch einiges zu tun: das Außengelände und der barrierefreie Zugang müssen angelegt, Altar und Bänke an ihren Platz gestellt, die Baustelleneinrichtung entfernt werden. Für das Museum beginnt erst danach der zweite Abschnitt des Projektes: das zuletzt fast leere Kirchengebäude soll wieder so eingerichtet werden, wie es in kleinen altmärkischen Dorfkirchen zwischen ca. 1900 und 1920 üblich war, um den Museumsbesuchern das kirchliche Leben von einst anschaulich zu vermitteln. Ergänzend sollen hierzu auch ausgewählte Exponate in Vitrinen gezeigt und vertiefende Informationen über analoge und digitale Medien angeboten werden.

Mit der Kirche aus Klein Chüden und dem unmittelbar daneben angelegten neuen „Pfarrgarten“[6]  verfügt das Freilichtmuseum Diesdorf nicht nur über zwei weitere „Attraktionen“, es erfüllt damit auch seinen Auftrag, die Alltagskultur der ländlichen Altmark zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert zu dokumentieren und zu präsentieren: denn dieser Alltag war eben bis weit ins letzte Jahrhundert hinein christlich geprägt und die Institution „Kirche“ ordnete und beeinflusste das Leben in vielfältiger Weise. Der säkularen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts erscheint diese Welt des gelebten Glaubens oft sehr fremd und fern. Das Wissen darüber kann jedoch nicht nur zum besseren Verständnis der eigenen Geschichte, sondern auch zu größerer religiöser Toleranz in der Gegenwart beitragen. Es ist daher nur zu wünschen, dass die Kirche aus Klein Chüden nicht nur der musealen Aufbahrung einer dahingeschiedenen religiösen Kultur dient, sondern auch wieder für Andachten und Gottesdienste genutzt wird. Lebendiger Ort des Glaubens und lebendiges Museum – das ist kein Widerspruch, sondern eine hoffentlich segensreiche Ergänzung.

 

[1] Die bisherigen Forschungsergebnisse zur Bau- und Nutzungsgeschichte der Kirche harren leider noch der Ergänzung und Veröffentlichung. Diese soll in einem der nächsten Jahresberichte des Altmärkischen Geschichtsvereins erfolgen.

[2] Sie sind übersichtlich dargestellt bei Thomas Hartwig, Alle Altmarkkirchen von A bis Z, Kuhlhausen 2012.

[3] Die unterschiedlichen Eigenschaften katholischer und evangelischer Gotteshäuser schildert anschaulich Kathrin Ellwardt, Evangelischer Kirchenbau in Deutschland, Petersberg 2008, S. 9 – 12.

[4] Dem Autor sind u.a. Kirchen/ Kapellen im niedersächsische Museumsdorf Cloppenburg, auf der oberbayerischen Glentleiten und im fränkischen Freilandmuseum Fladungen bekannt. Für Hinweise auf weitere Beispiele ist er dankbar.

[5] Mit der Geschichte Jahrsaus und der Glocke hat sich der Salzwedeler Glockenforscher Gerhard Ruff eingehend beschäftigt, die Ergebnisse sind in den Altmark-Blättern 31 Nr. 1, S. 1 – 4 nachzulesen.

[6] Der neue ‚botanische Garten auf dem Lande‘ konnte im Sachsen-Anhalt Journal 2/2020 bereits vorgestellt werden.