Neues Bauen in Sachsen-Anhalt

Das Werk des Architekten, Konstrukteurs und Merseburger Stadtbaurats Friedrich Zollinger: kreativ - pragmatisch - zukunftsfähig

von Karin Heise | Ausgabe 1-2019

Abb. 1: Friedrich Zollinger, 1937/38. Foto: privat.
Abb. 2: Luftbild des Neubaugebiets nordwestlich der Merseburger Innenstadt mit Gagfah-Siedlung. Im Vordergrund die Siegfriedstraße als frühes Beispiel für die Kombination von Schüttbetonwänden und gewölbtem Lamellendach. Die Lauchstädter Straße westlich davon (ganz vorne) noch nicht im Bau. Foto: Kulturhistorisches Museum Schloss Merseburg.
Abb. 3: Die Errichtung des wohl ersten Lamellendaches im Merseburger Ulmenweg, 1922. In dieser Erprobungsphase waren die Bretter noch an beiden Längsseiten gekrümmt geschnitten, Repro: Kulturhistorisches Museum Schloss Merseburg.
Abb. 4: Oberrealschule in der Lessingstraße, genannt "Glaskasten", 1929. Foto von Maximilian Herrfurth im Kulturhistorischen Museum Schloss Merseburg.
Abb. 5: "Merseburger Bauschiff" bei der Errichtung der Gagfah-Siedlung, 1928-30. Repro im Kulturhistorischen Museum Schloss Merseburg.
Abb. 6: Ehemaliges Arbeits- und Wohlfahrtsamt in der Christianenstraße, 1926/27. Blick nach Südwesten. Im Vordergrund der Gesundheitsamt-Anbau, 1929. Foto: Kulturhistorisches Museum Schloss Merseburg aus der Sammlung Werner Wolff.
Abb. 7: Albrecht-Dürer-Schule mit Turnhalle, 1927/28, Foto 1029, Repro im Kulturhistorischen Museum Schloss Merseburg.

Die große Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg führte den Wiesbadener Architekten und Stadtplaner Friedrich Zollinger während seiner Merseburger Amtszeit (1918 – 1930) dazu, typisierte Dachkonstruktionen zu entwickeln und zu perfektionieren, die materialsparend und preiswert errichtet werden konnten. Gleichzeitig entwickelte er anstelle herkömmlicher Mauertechniken das Schüttbetonverfahren weiter und konnte Reihenhäuser fließbandartig hochziehen – beide Erfindungen wurden von der Deutschen Zollbau-Licenz-Gesellschaft und der Europäischen Zollbau-Syn­dikat A.G. vertrieben und weltweit verbreitet. Wegweisend ist Zollinger vor allem als Konstrukteur, der zumindest einen Teil der immensen Probleme seiner Zeit vor dem Hintergrund der Knappheit aller Materialressourcen mit seinem Einfallsreichtum und Pragmatismus zu lösen versuchte.

1880 in Wiesbaden geboren, studierte Friedrich Zollinger (Abb. 1)an der Technischen Hochschule Darmstadt von 1900 bis 1906 die Fächer Architektur und Städtebau mit den Schwerpunkten „Städtebau“ und „kommunalwissenschaftliche Spezialgebiete“, die ihn befähigten, in Bauverwaltungen verschiedener öffentlicher Körperschaften leitende planerische Aufgaben zu übernehmen. Nach beruflichen Stationen unter anderem in Völklingen, Dieburg, Darmstadt, Frankfurt / Main, Aschaffenburg und Berlin-Neukölln bekleidete er ab 1918 zwölf Jahre lang das Amt des Stadtbaurats in Merseburg und leitete das gesamte Hoch- und Tiefbauwesen mit der Verkehrsplanung, der Gartenbauverwaltung und der Verwaltung der städtischen Werke. Sein weitsichtiger Generalbebauungsplan für die Stadt Merseburg (1922) bildete noch in den 1960er Jahren die Grundlage für die Verkehrsplanung.

„Zollinger-Stadt“ Merseburg
Ein Schwerpunkt der Merseburger Tätigkeit Friedrich Zollingers lag in der Planung kleinerer Wohngebiete in den unterschiedlichsten gestalterischen Varianten. Merseburg kann geradezu als Zollingers Experimentierfeld betrachtet werden, und hier sind noch heute seine Siedlungen und Bauwerke in einzigartiger Fülle und Vielfalt zu erleben( Abb 2).
Um seine Siedlungspläne umzusetzen, verschaffte sich Zollinger Schlüsselpositionen in wichtigen Wohnungsbaugremien, die er auch zumeist (mit)gegründet hatte. Die Merseburger Baugesellschaft (seit 1919) war nicht nur selbst planerisch und bauausführend tätig, sondern organisierte auch die Vergabe von Bauland und günstigem Material für Selbsthilfesiedler. Die gelungene Organisation städtischen Bauens in Merseburg unter Beteiligung weiterer Siedlungsgesellschaften wie der Merseburger Rentengutsgesellschaft und der Gemeinnützigen Aktiengesellschaft für Angestellten- und Fabrikarbeiterheimstätten (Gagfah) war im Wesentlichen Zollingers Verdienst.
Seine Siedlungspläne vermeiden Durchgangsstraßen, Vor- und Rücksprünge der Hauszeilen schaffen verbreiterte Straßenräume und kleine Plätze und bewirken einen Eindruck von Beschaulichkeit und Geborgenheit. Scharnierstellen im Straßenraum oder Querwege werden oft durch polygone Erker an den Haus­ecken betont. Reihenhausfassaden zeichnen sich vielfach durch geschossübergreifende Erker oder vorspringende Fenster aus (Abb. s. o.). Die meist spitzbogigen Giebel an Doppelhäusern können reich gestaffelt sein, die Höhe der Traufe wird am Giebel durch einen um die Ecke geführten Gesimsansatz sichtbar. Die Farbigkeit der Fensterrahmen, -läden und Haustüren war auf Dunkelbraun, Rotbraun, Grün und Weiß beschränkt. Durchgehende Glasfassaden wendet Zollinger erstmals 1929 beim Bau der Merseburger Oberrealschule in der Lessingstraße, genannt »Glaskasten«, an.

Schüttbetonverfahren des Systems Zollbau
Mit dem Ziel der schnellen und preiswerten Errichtung von Gebäuden hatte Friedrich Zollinger seit 1906 (Patent 1910) an einem Verfahren gearbeitet, Hauswände aus einer Mischung aus Sand, Kies, Schlacke und Asche – also aus leicht zu beschaffenden Baustoffen – sowie einem nur geringen Anteil des teuren Zements zu gießen. Die Masse wurde geschossweise in eine hölzerne, normierte, leicht zusammensteckbare Gussform gefüllt, die bis zu 35 Mal wiederverwendet werden konnte, was sich bei häufigem Gebrauch günstig auf die Herstellungskosten der Gebäude auswirkte. Türen und Fensteröffnungen wurden ausgespart, indem entsprechende Holzkästen in die Schalung eingepasst wurden, deren Zargen nach Abbau der Schalung als Tür- oder Fensterrahmen gleich dort verblieben. Für Fundamente, Keller- und Hauswände wurden die Mischungsverhältnisse unterschiedlich gewählt, so dass nur der unbedingt nötige Zementanteil aufgewendet werden musste. Die Verwendung von typisierten Bauelementen und Schalungen ermöglichte einen fließbandartigen Bauablauf. Im Taktverfahren wurden nacheinander die verschiedenen Einheiten und Geschosse eines Reihenhauses errichtet. Durch die gleichzeitige Ausführung verschiedener Arbeitsgänge mithilfe angelernter Hilfskräfte konnten in hohem Tempo ganze Straßenzeilen fertiggestellt werden (Abb. 5). Zollinger stand dabei in der Nachfolge von Thomas Edison, der jedoch gusseiserne Hohlformen und eine stark zementhaltige Gussmasse verwendet hatte, so dass dessen Verfahren wegen der hohen Kosten nicht für den massenweisen Wohnbau geeignet war.

Zollbau-Lamellendach
Am 14. Oktober 1921 meldete Friedrich Zollinger seine Dachkon­struktion aus Brettlamellen zur Patentierung an (ausgegeben 28. Dezember 1923). In der Patentschrift „Raumabschließende, ebene oder gekrümmte Bauteile“ wird sowohl die Ausbildung gerader Dachflächen aus geraden Brettern als auch die ungleich häufiger zur Anwendung gebrachte Konstruktion der gewölbten Dachhaut aus gekrümmt zugeschnittenen Brettern dargelegt. Das gewölbte Zollingerdach besteht in der Regel aus zweieinhalb Zentimeter dicken Brettern von zwei Metern Länge, deren eine Längsseite gekrümmt zugeschnitten ist und so die Wölbung des Daches bestimmt. Diese Bretter werden rautenförmig zu einer netzartigen Dachfläche aneinandergesetzt und verschraubt (Abb. 3).
Der Vorteil des Zollingerdachs bestand darin, dass auch sehr große Spannweiten überdacht werden konnten. Aufgrund der biegungsfesten Konstruktion konnten nach freier Gestaltung Öffnungen für Fenster, Gauben und ähnliches aus der Dachkonstruktion ausgeschnitten werden. Der Holzverbrauch war bis zu vierzig Prozent geringer als beim konventionellen Sparrendach, denn anstelle massiver Bohlen und Sparren wurden lediglich dünne Bretter benötigt. Die Lamellen besaßen typisierte Abmessungen und ließen sich ohne Rücksicht auf ein bestimmtes Gebäude in großen Mengen maschinell im Sägewerk vorfertigen. Da die Montage der Lamellen relativ einfach zu handhaben war, waren die zukünftigen Bewohner in der Lage, bei der Errichtung der Dächer ihrer Häuser mitzuhelfen und somit Kosten zu sparen.
Außer beim Wohnungsbau wurde diese geniale Gewölbekonstruktion auch beim Bau öffentlicher Gebäude wie Schulen (zum Beispiel Dürerschule in Merseburg, Abb. 7), aber auch großer Flugzeug- und Eisenbahnhallen, Stadien, Scheunen, Markthallen etc. und im Kirchenbau angewendet.
Die Statik der so konstruierten Dächer ließ sich damals noch nicht berechnen, sie beinhalteten aber offenbar ausreichende Tragereserven. Ein Unsicherheitsfaktor konnte – nach Dipl.-Ing. Klaus Winter – die eventuell mangelhafte Pflege der Dächer sein, die eine regelmäßige Kontrolle der Schraubverbindungen erforderte. Gefahrenquellen lagen außerdem im möglichen Durchhängen zu flach konstruierter Gewölbe und in der hohen Brandgefahr der dünnen Bretter.

Die ersten Zollinger-Lamellendächer wurden 1922 in Merseburg errichtet; in den Jahren bis 1926 bildete das Lamellendach in Merseburg die Standardkonstruktion für die verschiedensten Bauaufgaben – jedoch nicht ausschließlich. Zwei Großprojekte mit gewölbtem Dach konnten wohl wegen Geldmangels nicht mehr ausgeführt werden: Zollingers Entwurf der Stadthalle mit Schwimmbad am Südufer des Gotthardteichs und der geplante Umbau der Sixtikirchenruine zum Theater. Nach Zollingers Weggang 1930 wurde die Lamellendach-Konstruktion in Merseburg kaum noch angewendet. Aber auch andernorts kam das Zollingerdach außer Gebrauch; vermutlich war die Konstruktion wegen ihres ausdrücklichen Sparcharakters verpönt.
Aktuell erlebt die Zollingerkonstruktion geradezu eine Renaissance. Bereits errichtete Bauten bestechen durch die Großzügigkeit ihrer Gewölbe und ihre ganz eigene Ästhetik. Experten an verschiedenen Hochschulen, z. B. der HTWK in Leipzig, entwickeln bautechnisch genehmigungsfähige Varianten und loben den im Verhältnis zu Sparrenkonstruktionen sparsamen Materialverbrauch. So bleibt Zollingers Dachkonstruktion ein Dach der Zukunft.

Einen Merseburger Kulturschatz entdecken: Höhepunkte im Zollinger-Jahr 2019
Eines der durch das Landesnetzwerk „Das Bauhaus Dessau und die Moderne in Sachsen-Anhalt“ hervorgehobenen Beispiele des Neuen Bauens ist Zollingers Entwurf für das ehemalige Arbeits- und Wohlfahrtsamt der Stadt Merseburg in der Christianenstraße (Abb. 8), das in den letzten Jahrzehnten als Gesundheitsamt des Landkreises diente und jetzt von privater Hand zu Wohnungen umgebaut worden ist. Dieses Bauwerk ist auch Bestandteil der durch das Kulturhistorische Museum Schloss Merseburg organisierten Stadtführungen, die per Bus, Fahrrad oder zu Fuß angeboten werden (www.saalekreis.de). Das Kulturhistorische Museum präsentiert ab dem 31. August 2019 die Ausstellung „Das Dach der Moderne. Zollbau Merseburg. Konstruktion und weltweite Verbreitung“ sowie gleichzeitig eine Präsentation zum historischen Kontext „Merseburg in der Weimarer Republik“. Der hohen Bedeutung des Themas entspricht, dass die Stadt Merseburg das Jahr 2019 als Zollinger-Jahr ausgerufen hat. Inhaltlich eingeleitet wird es durch die vom Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e. V. am 23. März 2019 geplante öffentliche Tagung „Modernes Bauen – Friedrich Zollinger in Merseburg“ (www.lhbsa.de). Der geschärfte Blick auf die prägnanten Dachgewölbe kann dazu führen, sich in vielen Orten Sachsen-Anhalts und darüber hinaus mit Stadtgeschichte während der Weimarer Republik zu beschäftigen und die Bedeutung Friedrich Zollingers für das Bauen jener Zeit zu erkennen.

Weiterführende Literatur (chronologisch):
Klaus Winter / Wolfgang Rug: Innovationen im Holzbau – Die Zollinger-Bauweise.
In: Bautechnik 69, 1992, Heft 4, S. 190 – 197.
Charlotte Bairstow: Friedrich Zollinger, Ein Beitrag zur Architektur von Gestern und Heute. Diplomarbeit FH Stuttgart 1995.
Florian Zimmermann (Hrsg.): Das Dach der Zukunft, Zollinger Lamellendächer der 20er Jahre, Konstruktion, Statik, Ästhetik, Verbreitung, Nachfolge, Beispiele in Bayern. Ausstellungskatalog TH München, 2003.
Karin Heise: Die gewölbten Lamellendächer in Merseburg und ihr Konstrukteur Friedrich Zollinger. In: Merseburger Kreiskalender 2004, S. 30 – 32.
Karin Heise: Friedrich Reinhardt Balthasar Zollinger. Städtebauer und Konstrukteur des gewölbten Lamellendachs. In: Deutsche Bauzeitung 2, 2004, S. 68 – 75.