Bürgerschaftliches Engagement am Grünen Band
Einmalig in Deutschland: Der Grenzerkreis Abbenrode
von Wolfgang Roehl und Lothar Engler | Ausgabe 3-2019 | Bürgerschaftliches Engagement
Dass dieser 3. Oktober 2013 für einige Personen eine nicht unerhebliche Veränderung der Freizeitgestaltung mit sich bringen sollte, konnte man an diesem Tag der deutschen Einheit noch nicht ahnen. Der Heimatverein von Abbenrode hatte zur Einweihung des Grenz-Infopunktes am ehemaligen Grenzverlauf geladen. Unter den Anwesenden waren neben Lokalpolitikern und Medienvertretern auch ehemalige Angehörige des Bundesgrenzschutzes (BGS), des Grenzzolldienstes (GZD) und der DDR-Grenztruppen (GrTr.).
Zur Zeit der deutschen Teilung war Abbenrode ein Grenzdorf direkt hinter den DDR-Sperranlagen. Dass hier einst die von der DDR errichtete menschenverachtende und todbringende innerdeutsche Grenze verlief, erinnerte bis dato nur noch die große Hinweistafel am Straßenrand, die – wie an der Straße von Lochtum nach Abbenrode – an vielen Straßenverbindungen zwischen den alten und neuen Bundesländern aufgestellt sind.
Mit einer Grenzschautafel und der Nachbildung einer DDR-Grenzsäule sollte veranschaulicht werden, wie es einst vor dem Ende der deutschen Teilung an der innerdeutschen Grenze vor Abbenrode ausgesehen hat. In ihren Festansprachen wurde von den Festrednern betont, dass mit dem Erinnern an die deutsche Teilung insbesondere die Mahnung an die zukünftigen Generationen verbunden ist, ein totalitäres, ihre Bürger unterdrückendes System nie wieder zu zulassen.
Im Anschluss an diesen „Festakt“ wurde zu Kaffee und Kuchen in das Heimatmuseum geladen. Bundesgrenzschützer und Zöllner tauschten sich intensiv über ihren einstigen Dienst an der innerdeutschen Grenze aus. Ebenso die ehemaligen Grenztruppenangehörigen. Und sowohl die „West“- als auch die „Ost-Grenzer“ hörten den Gesprächen der „anderen Seite“ zu.
So war es nicht verwunderlich, dass auch Kontakt untereinander aufgenommen wurde – jedoch mit einer gewissen Zurückhaltung auf beiden Seiten, denn man wusste ja nicht, wer einem da gegenüber saß. Für die „Westler“ stellten sich insbesondere die Fragen: Was hatte der „andere“ früher für eine Funktion ausgeübt? Hatte der Grenztruppenangehörige möglicherweise die Flucht eines DDR-Bürgers vereitelt? War er Stasi-Spitzel? Wie geht er mit seiner Vergangenheit als Angehöriger eines totalitären Systems um – 23 Jahre nach der Wiedervereinigung bzw. 24 Jahre nach der Grenzöffnung? Was denkt ein ehemaliger DDR-Grenztruppenangehöriger heute über seine damalige Tätigkeit am „antifaschistischen Schutzwall“?
Alle waren daran interessiert, mehr über den Gegner von einst zu erfahren. Wir standen uns oftmals nur wenige Meter gegenüber. Unser Gruß wurde nicht erwidert. Was dachte man über uns? Wie fühlten sie sich im Dienst an der Grenze, die eigenen Bürger bewachen zu müssen? Und schließlich stellte Lothar Engler (vormals BGS-Abteilung Goslar) die entscheidende Frage, ob Interesse bestehe, sich einmal zu einem Gedanken- und Meinungsaustausch im kleinen Kreis zu treffen.
Die Grenztruppenangehörigen waren spontan dazu bereit. Als Termin wurde der 30. Oktober 2013 festgelegt und wir „Westler“ gingen davon aus, dass es sich um ein einmaliges Treffen handeln würde. Das entpuppte sich als Fehleinschätzung und so nahm das Schicksal seinen Lauf!
Zehn Personen, die ehemals an der innerdeutschen Grenze ihren Dienst versahen, fanden sich am 30. Oktober 2013 nachmittags zu einem ersten Treffen im Heimatmuseum in Abbenrode ein. Vier Ehemalige des Bundesgrenzschutzes (BGS), drei des Grenzzolldienstes (GZD) und drei der DDR-Grenztruppen (GrTr.). Alle Teilnehmer hatten sich seinerzeit auf Dauer bzw. für mehrere Jahre zum Dienst verpflichtet, so dass zu erwarten war, dass es einen regen Austausch von Informationen geben würde.
Bei Kaffee und Kuchen stand das Kennenlernen im Vordergrund. Einige Teilnehmer hatten Bilder mitgebracht, die sie im Dienst an der innerdeutschen Grenze aufgenommen hatten. Wie sich herausstellte, waren auf einigen Fotos auch Anwesende des Treffens mit abgelichtet. Die von der „anderen Seite“ aufgenommenen Gegner hatten damit gleich einen neuen Anknüpfungspunkt für weitergehende Gespräche.
Insgesamt verliefen die Kennenlerngespräche in einer lockeren Atmosphäre. Jeder äußerte offen und ehrlich seine Meinung zum Dienst des ehemaligen Gegners, ohne dabei die anwesenden Personen herabzuwürdigen. Aber auch ein kritisches Hinterfragen der eigenen Tätigkeit war gewünscht. Beides gelang, auch weil geschilderte Ereignisse im Grenzdienst mit humorvollen Kommentaren und kleinen Seitenhieben versehen wurden.
Da sich alle Teilnehmer darin einig waren, eine gemeinsame Basis für weitere Gesprächsrunden gefunden zu haben, verständigte man sich darauf, die Aufarbeitung der deutschen Teilung für den Bereich des „Grenzdienstes“ gemeinsam zu versuchen. In der zweiten Januarhälfte 2014 sollte das nächste Treffen stattfinden, zu dem auch weitere Teilnehmer dazu kommen könnten, ohne den Kreis jedoch zu sehr auszuweiten.
Am 28. Januar 2014 fand das zweite Treffen statt, zu dem auch schon die ersten Gäste (keine ehemaligen Grenzer) begrüßt werden konnten. Zwei Pressevertreter hatten Interesse an diesem neu gebildeten Kreis bekundet und ein weiterer Gast wollte gern Informationen für ein Buchprojekt, das die innerdeutsche Grenze im Harz zum Inhalt haben soll, mitnehmen.
Umfangreiches Bildmaterial wurde auch dieses Mal gesichtet, ausgewertet sowie örtlich und zeitlich zugeordnet. Es konnte nur ein kleiner Teil dessen, was über fast vier Jahrzehnte in Dokumenten und Bildern festgehalten wurde, an diesem Nachmittag erfasst werden. Der Eiserne Vorhang im Gebiet der Harzregion wird den Grenzerkreis noch länger beschäftigen. Allen Teilnehmern wurde sehr schnell klar, welchen Wert dieses Material für die Aufarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte spielt. Auch wenn sich niemand die Zeit der Trennung zurück wünscht, dürfen diese Zeit und die damit verbundenen Leiden vieler Menschen nicht in Vergessenheit geraten. In einigen Jahrzehnten wird niemand mehr da sein, der so direkt die Teilung Deutschlands tagtäglich miterlebt hat. Deshalb sei es wichtig, so die einhellige Meinung, unser Wissen darüber an diejenigen weiter zu geben, die die Zukunft dieses Landes mitgestalten werden.
Die Idee, sich im Jahr der 25-jährigen Wiederkehr der Grenzöffnung als Zeitzeugen für Schulprojekte in der Region zur Verfügung zu stellen, war geboren. Ein Konzept dafür sowie das Anschreiben an einige Gymnasien in der näheren Umgebung sollte bei einem gesonderten Treffen erarbeitet werden. Auch diesmal sorgte die eine oder andere „Grenzgeschichte“ für Kopfschütteln, Erheiterung und ungläubiges Staunen. Durch beiderseitiges Wissen wurden diese Geschichten „rund“ und sind auf der Internetseite von – www.WolfgangRoehl.de/bgs.htm – unter Grenzgeschichten veröffentlicht.
Über das Zusammentreffen der ehemaligen Grenzer aus Ost und West berichtete die Presse, so dass von nun an auch der Grenzerkreis im nördlichen Vorharzgebiet bekannt wurde.
Erinnern – Gedenken – Mahnen. Unter dieses Motto wurde das „Projekt Schule“ gestellt. Eine kleine Arbeitsgruppe des Grenzerkreises bereitete am 24. Februar 2014 das Projekt vor und bot mehreren Schulen an, eine Doppelstunde des Geschichtsunterrichts zu gestalten. Je ein Bundesgrenzschützer, ein Zöllner und ein Grenztruppenangehöriger wollten sich den Schülern als Zeitzeugen und Gesprächspartner zur Thema „Die Zeit der deutschen Teilung“ zur Verfügung stellen, begleitet von einem 30minütigen Film, der einen Überblick über die Entwicklung der DDR-Grenzsperranlagen vermittelt.
Das Ratsgymnasium Goslar, das Stadtfeld Gymnasium Wernigerode sowie das Fallstein-Gymnasium Osterwieck nahmen das Angebot dankend an, da es sich sehr gut in deren Geschichtsunterrichtsprojekt „25 Jahre Grenzöffnung“ integrieren ließ. Das Fallstein-Gymnasium Osterwieck war zudem daran interessiert, auch für folgende Klassenjahrgänge Projekt fortzuführen. Aus der Zusammenarbeit mit dem Gymnasium entwickelte sich ein weiteres Projekt zwischen dem Gymnasium und dem Grenzerkreis, nämlich die Pflege und Übernahme der Patenschaft für ein Teilstück der erhalten gebliebenen Grenzsperranlagen (Zaun und Sperrgraben) bei Wülperode. Dieses Teilstück ist ca. 60 m lang und war als ehemalige Grenzsperranlage im Oktober 2013 nicht mehr zu erkennen. Der Wiedelahrer Lothar Engler nahm sich dieses Projektes an. Zunächst sorgte er dafür, dass es in Zusammenarbeit mit den Behörden und Ämtern im Landkreis Harz freigeschnitten wurde. Dieses gelang im November 2014 rechtzeitig zu den Feierlichkeiten „25 Jahre Grenzöffnung“. Da die Anlage wieder zuzuwachsen drohte, konnte Engler das Fallsteingymnasium für die Pflege dieser Grenzsperranlage gewinnen. Am 9. November 2016 stellte die Landeskonservatorin für Denkmalpflege, Frau Ulrike Wendland, die Anlage unter Denkmalschutz und das Fallstein-Gymnasium Osterwieck übernahm offiziell die Patenschaft zur Pflege. Am 10. September besichtigte der Chef der Staatskanzlei, Rainer Robra, die ehemalige Grenzsperranlage, die jetzt „Grenzdenkmal Wülperode“ heißt. Im Herbst 2018 wurden zwei Info-Tafeln sowie eine Schautafel am Grenzdenkmal aufgestellt und eingeweiht, die von Teilnehmern aus dem Grenzerkreis entworfen wurden. Das Fallstein-Gymnasium pflegt dreimal im Jahr das Grenzdenkmal mit Unterstützung aus dem Grenzerkreis Abbenrode.
Wolfgang Roehl und Lothar Engler führen jedes Jahr zwei Grenzwanderungen an der ehemaligen Grenze durch. Zu diesen Wanderungen kommen die Teilnehmer von weit her angereist. Regelmäßig halten wir Vorträge mit unterschiedlichen Themen zur ehemaligen innerdeutschen Grenze.
Wir treffen uns fünfmal im Jahr, insgesamt gab es schon 29 Treffen. Aktuell sind wir damit beschäftigt, das Grenzzimmer im Heimatmuseum Abbenrode neu zu gestalten. Weitere Aktivitäten am Grünen Band sowie zu den Feierlichkeiten zur 30-Jahrfeier werden den Grenzerkreis Abbenrode in diesem Jahr beschäftigen.
Fazit: Der Grenzerkreis Abbenrode im Heimat-Kultur und Museumsverein Abbenrode hat sich in den letzten Jahren einen Namen gemacht.