Wendeerlebnisse – Schlaglichter auf den 9. November 1989

| Ausgabe 3-2019 | Geschichte

Erfurter gegensätze 1989, Foto: Carsten Passin
Carsten Passin 1990 beim Interview für "Das Volk", Foto: privat
Konrad Breitenborn  in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 am Berliner  Grenzübergang Bornholmer Straße auf Westberliner Seite, Foto: privat
Versammlung des Neuen Forums in der Jacobikirche Sangerhausen im Nobember 1989. Foto: Archiv Verein für Geschichte von Sangerhausen und Umgebung e. V.
Herbst 1989 in Sangerhausen. Foto: Archiv Verein für Geschichte von Sangerhausen und Umgebung e. V.
Versammlung in der Jacobikirche, Sangerhausen 1989. Foto: Archiv Verein für Geschichte von Sangerhausen und Umgebung e. V.
Herbst 1989 in Sangerhausen. Foto: Archiv Verein für Geschichte von Sangerhausen und Umgebung e. V.

Meine Erinnerungen an den 9. November 1989

von Hildegard Uhden, Heimatverein Reesen e. V.

Spätestens seit den Worten Gorbatschows wussten wir, dass es in absehbarer Zeit große Veränderungen geben wird. Meistens wurde nach der Arbeit sofort der Fernseher angeschaltet, um Nachrichten zu sehen und zwar auf beiden Kanälen. Danach telefonierte ich fast immer mit meinen Eltern. Da viele Bürger unser Land auf zum Teil abenteuerlichste Weise verließen, waren auch sie offensichtlich sehr besorgt, dass das auch unser Ziel sein könnte. Und so meldete sich meine Mutter immer mit den Worten: „Schön, dass Du anrufst. Ihr seid also noch da.“ Ich antwortete dann immer: „Natürlich sind wir noch da. Denkst Du wir lassen alles stehen und liegen und Euch allein hier zurück?“ Das erzählte ich auch meinen Verwandten und beklagte mich schon etwas darüber, dass diese Frage immer wieder kam. Am 9. November hatte mein Onkel Geburtstag und so rief ich ihn als erstes an. Schon fast sarkastisch meldete er sich mit den Worten: „Schön, dass du anrufst. Ihr seid also noch da.“ Da meine Eltern auch auf der Geburtstagsfeier waren, wusste ich, dass er den Lacher auf seiner Seite hatte. Während wir uns nun so amüsierten, rief meine Tochter, die damals 14 Jahre war: „Mutti komm schnell zum Fernseher. Ich glaube die machen die Grenze auf.“ Ich habe also diesen historischen Satz des Herr Schabowski nicht live gehört, war aber ganz nah dran. Meine Familie ging erst einmal ganz nüchtern an die Sache heran. Wir freuten uns und hofften, dass doch alles ein gutes und friedliches Ende nehmen wird.

 

Verpennt

Carsten Passin, Projektleiter Spindestube Dübener Heide, zur Maueröffnung 29 Jahre alt

Am 9. 11. 89 bin ich, ermüdet von der Arbeit und den vielen Diskussionen der letzten Monate, früh ins Bett gegangen. Erst am nächsten Vormittag bekam ich mit, dass die Mauer gefallen war.

Die Bilder von den in den Westen strömenden Massen waren aufwühlend. Innerlich war ich zerrissen: „Endlich die langersehnten Freiheiten: Bücher, Musik, Reisen …“ – andererseits die bange Gewissheit über die Ungewissheit: Sehr vieles wird sich ändern, schnell und unvorhersehbar, mit wenig Maß und Besinnung im dreisten Gedrängel der Interessen und Wünsche.

Manche Freunde waren schon unterwegs zum nächsten offenen Grenzübergang, andere noch fassungslos. Sofort in den Westen zu fahren widerstrebte mir: Jemand drückt einen Knopf und alle rennen in die gleiche Richtung und zudem auch noch so, als ginge es auf die glückseligen Inseln. Nein. Bleiben oder gehen war ja nun auch – endlich – keine existenzielle alternativlose Frage mehr.

Es brauchte lange – und gute Freunde im Westen –, ehe mir diese laute bunte schnelle Welt vertrauter wurde. Viele suchten wie ich nach Orientierung und ernsthaftem Gespräch. Daher gründete ich damals mit 30 Thüringer Jugendlichen den philoSOPHIA e. V., zum gemeinsamen Nachdenken in verworrener Lage. Bis heute setzen wir unser praktisches Philosophieren fort.

Erstaunt war ich, dass im Herbst / Winter ’89 so wenig Blut floss. Selbstverständlich war das nicht – aber vielleicht das historisch Wichtigste an diesem Systemabsturz.

 

„Junge, Du läufst in die falsche Richtung!“

Prof. Dr. Konrad Breitenborn, Präsident des Landesheimat­bundes Sachsen-Anhalt e. V.

Am 5. November 1989 fuhr ich mit der „Deutschen Reichsbahn“ der DDR von Wernigerode nach Berlin – und sogar erstmals nach Westberlin. Die jahrelangen Bemühungen meines Buchverlegers beim DDR-Kulturministerium, mir dort im Geheimen Preußischen Staatsarchiv einen Forschungsaufenthalt zu ermöglichen, hatten endlich Erfolg gehabt. Und so trat ich voller Spannung eine Reise an, von der ich keinesfalls annehmen konnte, dass sie mir das bisher größte Abenteuer, aber vor allem auch einen der schönsten Glücksmomente meines Lebens bescheren würde.

Die Passkontrolle an der Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße, die im Volksmund „Tränenpalast“ hieß, verlief problemlos. Das sonst so gefürchtete Wachpersonal machte auf mich sogar einen etwas geknickten Eindruck.

Am 8. November zeigte mir ein befreundeter Kollege die Stelle, die an die missglückte Flucht von Peter Fechter erinnert, der am 17. August 1962 beim Überklettern der „Mauer“ nach Westberlin durch Schüsse von DDR-Grenzsoldaten tödlich verletzt wurde.

Einen Tag später fiel diese „Mauer“, und ich erlebte deren Öffnung – ein Witz der Geschichte! – von der Westberliner Seite aus. Der Ankündigung einer neuen „Reiseregelung“ durch Günter Schabowski in der „Aktuellen Kamera“ des DDR-Fernsehens, die ich in Westberlin tatsächlich sah, schenkte ich keine weitere Beachtung. Als man bei meinem folgenden Kabarettbesuch die Besucher gegen 21 Uhr heiter ermunterte, „Leute kauft Bananen, die Ostberliner kommen!“, hielt ich dies für einen Scherz. Doch dann wurde schnell bekannt, dass am Grenzübergang Bornholmer Straße Ostberliner ab etwa 21.30 Uhr nach Westberlin gelassen worden waren. Dort und am Grenzübergang Invalidenstraße überschritt ich gemeinsam mit einem Freund, der einige Jahre vorher die DDR verlassen hatte, zunächst äußerst zaghaft die Grenze zwischen West- und Ostberlin. Auf Westberliner Seite traf ich dabei auf viel Prominenz, zum Beispiel auf Walter Momper, Regierender Bürgermeister von (West-)Berlin, dessen „berühmter“ roter Schal sich in der dunklen Novembernacht deutlich abhob, und die Fernsehjournalistin Lea Rosh.

Menschenmassen fluteten uns aus östlicher Richtung entgegen. Als ich schließlich nach Westberlin zurückkehrte, war ich keinesfalls davon überzeugt, in dieser Nacht den endgültigen Fall der Mauer miterlebt zu haben. Und doch war es so!

Am Sonnabend, dem 11. November, passierte ich mit Rucksack und Koffer erneut den Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße, diesmal von West nach Ost. Dabei riefen mir entgegenkommende Ostberliner immer wieder zu: „Junge, Du läufst in die falsche Richtung!“

 

Wie ich den 9. November 1989 erlebte

Helmut Loth, Verein für Geschichte von Sangerhausen und Umgebung e.V.

Der Donnerstag, 9. November 1989, begann wie immer. Zunächst war die tägliche Arbeit mit ihren Höhen und Tiefen zu bewältigen. Ich musste mit dem Betriebs-LKW nach Halle, um dort bestellte Ersatzteile abzuholen. Als technischer Leiter eines volkseigenen Dienstleistungsbetriebes gingen mir auf dem Weg viele Gedanken durch den Kopf. Würden die bestellten Teile da sein? Was würde, wie so oft, nicht geliefert werden können?

Und da waren die Gedanken an die Bürgerversammlungen unter Leitung des Neuen Forums Sangerhausen in der Jacobikirche. Gerade die letzte Veranstaltung vor zwei Tagen zum Thema „Medien und Öffentlichkeit“ war beeindruckend und gut besucht. Viele fanden keinen Platz mehr in der Kirche. An der anschließenden friedlichen Demonstration durch Sangerhausen hatten mehr als 20.000 Menschen teilgenommen.

Zurück aus Halle hatte ich am Abend noch um 20 Uhr einen Termin in der Geschäftsstelle der CDU, um einen elektrischen Defekt zu reparieren. Dort tagte gerade die Führung des Neuen Forums, um die nächsten Aktionen zu beraten. Gegen 21.30 Uhr kam die Ehefrau des Hauseigentümers die Treppe herunter gesaust, um mich atemlos zu fragen, ob ich schon mitbekommen hätte, dass die Mauer in Berlin offen sei. Sie hätte es gerade im Fernsehen gesehen. Ich bat sie, das noch einmal zu wiederholen, ich dachte, ich hätte mich verhört. Dann ging ich umgehend in der Beratungsraum und verkündete den Anwesenden die Nachricht, was neben Überraschung große Freude auslöste.

Ich begab mich schleunigst auf den Heimweg, um die Nachricht meiner Familie mitzuteilen. Auf meinem Weg konnte ich noch nicht so recht begreifen, dass dieses auf ewig gedachte Bollwerk, das so viele Jahre unser Land geteilt hat, auf einmal von Ost nach West durchlässig geworden ist.

Rückblickend stelle ich fest, dass der 9. November einer der wichtigsten Tage in meinem Leben war. Alles änderte sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Ich bin froh, dass ich diese, inzwischen schon wieder historisch gewordene Zeitepoche, miterleben konnte.