Das Stadion Neue Welt in Magdeburg: „Mitteldeutschlands größte und neueste Sportanlage“*
Von Ralf Regener | Ausgabe 4-2019 | Geschichte
Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Bund der republikanischen Kriegsteilnehmer wurde 1924 in Magdeburg gegründet und war der größte Wehrverband in der Zeit der Weimarer Republik. Die Polarisierung der deutschen Gesellschaft in Folge des Ersten Weltkrieges (1914 – 1918) machte es aus Sicht einiger einflussreicher Demokraten nötig, den nationalistischen und radikalen Kreisen und ihren Vereinen, hier sei vor allem der ebenfalls in Magdeburg gegründete Wehrverband Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten genannt, etwas entgegenzusetzten. Politiker der Parteien der Weimarer Koalition aus SPD, katholischem Zentrum und linksliberaler DDP hatten sich zusammengefunden, um die republikanische Ordnung gegen rechts und links zu verteidigen.
Neben vielen anderen Aktivitäten, die bis zum Verbot der Organisation im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung prägend waren, ist eine wichtige Errungenschaft der Bau und der Betrieb des Stadions Neue Welt in Magdeburg. Nach den Plänen, die im Jahr 1928 auf der Bundesgeneralversammlung des Reichsbanners beschlossen wurden, sollte das Areal zwei wesentliche Funktionen abdecken. Zum einen sollte eine Sport- und Freizeitstätte entstehen, inkl. Stadion und Schwimmbad.[1] Zum anderen sollte dort eine Bundeschule zur systematischen Ausbildung von Funktionären eingerichtet werden.[2] In der Hochphase hatte das Reichsbanner mehr als eine Million Mitglieder, eine Anzahl, die mit persönlichem Engagement und ohne besondere Fähigkeiten schwerlich zu organisieren war.
Der Bundesvorsitzende des Reichsbanners, Otto Hörsing (1874 –1937), leitete die Umsetzung der Pläne damit ein, dass vor den Toren Magdeburgs ein leerstehendes Ausflugslokal erworben wurde. An der Berliner Chaussee, östlich der Elbe gelegen, bot es eine gute Verkehrsanbindung, die für künftige Großveranstaltungen sehr wichtig erschien. Die Namenswahl war durch das Ausflugslokal und eine benachbarte Schrebergartenanlage beeinflusst, die ebenfalls Neue Welt hieß.[3] Der Bau der Anlage zog sich bis ins Jahr 1930 hin. Derweil war es für die politischen Gegner ein willkommener Angriffspunkt. Den sozialdemokratischen Mitgliedern im Magdeburger Magistrat wurde von den rechten Parteien im Oktober 1929 unterstellt, das Reichsbanner-Prestigeobjekt aus öffentlichen Geldern mitzufinanzieren. Zu dieser Zeit befand man sich mitten im Wahlkampf für die Wahl zur Stadtverordnetenversammlung. Die Verwendung von städtischen Steuergeldern war ein bestimmendes Thema.[4]
Kritik kam aber nicht nur vom politischen Gegner. Auch innerhalb des Reichsbanners waren nicht alle überzeugt von der Notwendigkeit eines solchen Vorhabens. Der Redakteur der Reichsbanner-Zeitung Franz Osterroth (1900 –1986) erblickte darin wenig, was die Kernanliegen des Reichsbanners wirkungsvoll unterstützen könnte und bezeichnete es als ein unnötiges Prestigeobjekt des bereits umstrittenen Vorsitzenden Otto Hörsing.[5]
Trotz aller Widrigkeiten konnte die Anlage zu Himmelfahrt 1930 eröffnet und eingeweiht werden. Der 29. Mai war ein warmer und sonniger Tag. Das trug sicherlich dazu bei, dass die Eröffnung als voller Erfolg gewertet wurde, über 20.000 Menschen zählte man bei den Veranstaltungen am Nachmittag. Aus allen Gauen des Reichsbanners waren Abordnungen gekommen, die sich mit ihren Farben und Wappenzeichen geschmückt hatten; daneben waren überall schwarz-rot-goldene Fahnen zu sehen. Zur Eröffnungen hielten Reichsbannerführer Otto Hörsing und Reichsminister a. D. Carl Severing (1875 – 1952) Ansprachen, es folgten diverse Sportveranstaltungen und Wettkämpfe: Handball, Fußball, Stafettenläufe, Turmspringen und vieles andere. Gemäß der Reichsbanner-Idee, ein überparteilicher Verband zu sein, sollte die Anlage fortan allen republikanischen Organisationen offen stehen.[6]
Einem Wehrverband eher untypisch trat hier wie auch bei anderen Veranstaltungen das Militärische in den Hintergrund. Zwar war der erklärte Auftrag des Reichsbanners, sich um das Wohl und die Anerkennung der Kriegsteilnehmer zu kümmern, doch wollte man den Krieg nicht wie die Konkurrenz von rechts heroisch erscheinen lassen oder militärischen Attitüden den Weg bereiten. Solche Veranstaltungen, organisiert als Familienfeste mit Sport und Spiel, waren deshalb ein willkommener Anlass, das Volkstümliche neben dem Einstehen für die Republik in den Vordergrund zu rücken.[7]
In der Folgezeit, besonders in den nächsten eineinhalb Jahrzehnten, gab es durchaus große und bedeutende Veranstaltungen und sportliche Wettkämpfe. Doch das Stadion Neue Welt sollte auch Kulisse einiger markanter Ereignisse in der Magdeburger Stadtgeschichte werden.
Zunächst folgte zu Pfingsten 1930 mit dem Bundestreffen eine weitere große Veranstaltung des Reichsbanners. Freilich war das Stadion Neue Welt nicht der einzige Ort der mehrtägigen Zusammenkunft. Rathaus, Domplatz und Stadthalle wurden genauso genutzt, beispielsweise für Kundgebungen und Theateraufführungen. Im Stadion Neue Welt wurden wieder sportliche Wettkämpfe ausgetragen, die als Rahmung eines Volksfestes dienten.[8] Die genaue Ausformung der sportlichen Veranstaltungen war immer wieder Diskussionspunkt innerhalb der Mitglieder des Reichsbanners. Einige sahen Wettkämpfe, bei denen das Gewinnen und die Konkurrenz im Vordergrund standen, eher kritisch und wollten Sportangebote in erster Linie im Sinne der körperlichen Ertüchtigung und Geselligkeit ausgestalten.[9]
Die mit der Weltwirtschaftskrise 1929 und der davon geprägten Reichstagswahl 1930 einsetzenden Krise der Weimarer Republik wurde auch im Umkreis des Stadions Neue Welt deutlich. Das Erstarken der NSDAP hatte eine gesteigerte Präsenz der SA zur Folge. Anfang der 1930er Jahre kam es in Magdeburg wie auch in anderen Städten immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Republikanern und Feinden der Republik bzw. den Extremisten untereinander. Das Stadion Neue Welt war Schauplatz einer Schießerei zwischen Kommunisten und Nazis, die sich am 19. März 1931 zutrug. Erst durch das Einschreiten der Polizei konnte der Gewalt ein Ende gesetzt werden.[10] Das Reichsbannertreffen Anfang 1932 stand ganz im Zeichen dieser Entwicklung. Sport und Spiel traten nun in den Hintergrund, der neue Bundesvorsitzende Karl Höltermann (1894 – 1955) mahnte in einer langen Ansprache zur Wachsamkeit und Kampfbereitschaft gegen die Feinde der Republik.[11]
Um das Reichsbanner gegen die brutalen Angriffe der Extremisten vorzubereiten, wurde neben der Bundesschule auch eine Wehrsportschule eingerichtet. Dort fand die Ausbildung der neuen Kampfgruppen des Reichsbanners statt, allem voran der Schutzformationen (Schufo), jene Einheit, die auch gewaltsam die Republik verteidigen sollte.[12] Weiterer Ausdruck der starken Polarisierung war die Gewaltbereitschaft auf allen Seiten. Dort hinein passt ein fast abenteuerlicher Versuch, einen Auftritt Hitlers in der Elbestadt zu verhindern. Im November 1932 gab es in Höhe des Stadions Neue Welt einen Anschlagsversuch auf den Führer der NSDAP. Einige Reichsbannermitglieder hatten sich zusammengefunden, um kurz vor der Durchfahrt Hitlers ein Stahlseil über die Berliner Chaussee zu spannen. Das sollte den Wagen zum Anhalten zwingen und posierte Schützen die Möglichkeit geben, auf Hitler zu feuern. Das Vorhaben misslang, da die Melder nicht schnell genug reagierten.[13] Spontan wurden Steine geworfen, auch eine Reitpeitsche soll aufseiten der Nazis benutzt wurden sein.[14]
Alle Aktionen des Reichsbanners halfen letztlich nicht, die Errichtung der Nazi-Diktatur zu verhindern. Anfang März 1933 kam es in Magdeburg zu vielen antisemitischen Gewalttaten; Oberbürgermeister Ernst Reuter und sein Stellvertreter Herbert Goldschmidt wurden am 11. März gewaltsam bedrängt, gedemütigt und misshandelt. Nur mithilfe der Polizei konnte Schlimmeres verhindert werden.[15] Am gleichen Tag wurde des Bundeshaus des Reichsbanners von SA-Leuten gestürmt, Ernst Wille (1894 – 1944), Chef des Gaus Magdeburg-Anhalt, und andere wurden zusammengeschlagen. Das Stadion Neue Welt wurde ebenfalls von der NSDAP vereinnahmt. Für die Zeit von Frühjahr bis Sommer 1933 wurde dort ein provisorisches Gefangenenlager eingerichtet, in dem viele lokale politische Gegner, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Reichsbannermitglieder, inhaftiert wurden.[16]
Mit Etablierung der Nazi-Diktatur und der scheinbaren politischen Beruhigung wurde das Stadion Neue Welt unter anderen Vorzeichen wieder seinem ursprünglichem Zwecke als Sportstätte zugeführt. Im August 1934 fanden dort die Europameisterschaften im Schwimmen statt. Es wurde extra ein neues Becken, die Europakampfbahn, errichtet. Bis zu 15.000 Besucher täglich sahen Sportler aus über 20 Nationen bei diversen Schwimmdisziplinen, Turmspringen, Wasserball usw.[17]
Kurz vor Kriegsende beging die SS ein Massaker auf dem Gelände des Stadions. Am 13. April 1945 mussten sich mehrere Tausend Häftlinge, zumeist Frauen, auf einen Todesmarsch Richtung Osten machen, sie waren bis dato in der Munitionsfabrik Polte, einem Außenlager des KZ Buchenwalds, zur Arbeit gezwungen wurden. Als man im Stadion Neue Welt kurz Halt machte, erfolgte ein Angriff durch alliierte Flieger und Geschütze, die nicht weit von der Stadt entfernt lagen. Einige Häftlinge versuchten zu fliehen, weshalb die Wachmannschaft das Feuer eröffnete. Nur wenige konnten sich retten und flüchten. Ein Gedenkstein, im August 1985 eingeweiht, erinnert noch heute an diesen Vorfall.[18]
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gelände wieder als Sport- und Erholungsstätte genutzt. Die Europakampfbahn diente dem örtlichen Schwimmverein als Trainingsanlage. Daneben war es spätestens ab der Einweihung des Gedenksteins außerdem ein Ort, an dem Veranstaltungen der FDJ und anderer Organisationen stattfanden, um an die Schrecken der Nazi-Herrschaft zu erinnern.[19]
Die letzten Jahrzehnte waren eine Leidensgeschichte. Im Jahr 1988 kam es zu einer Überflutung des Geländes, es folgte zwei Jahre später die Schließung des Schwimmbads aufgrund hygienischer Mängel und fehlender Verkehrssicherheit. Eine letzte ernsthafte Belebung wurde dadurch erreicht, dass das Stadion im Sommer als Spielstätte der freien Kammerspiele genutzt wurde, letztmalig allerdings schon im Jahr 1998. Zudem brannte im Jahre 2012 das Gaststättengebäude ab, das gesamte Gelände verwilderte. Ob der Kauf durch einen Investor im Jahr 2016 langfristig zur Belebung des Geländes beitragen kann, bleibt abzuwarten. Seitdem kursieren einige Ideen, wie die Anlage zum Golfplatz umzubauen oder auch ein Naturschutzforum, inkl. eines Zentrums für Baumpflege, umweltpädagogischer Bildungsangebote, Schaugärten und Tiergehegen, einzurichten.[20]
*Magdeburger Volksstimme vom 31. Mai 1930.
[1] Vgl. Magdeburger Volksstimme vom 20. April 2019.
[2] Vgl. Beatrix Herlemann: 75 Jahre Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Dokumentation zur Ausstellung „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ anläßlich des 75. Gründungsjubiläums vom 24. Februar bis 16. April 1999 im Landtag von Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1999, S. 51.
[3] Vgl. https://www.stadion-neue-welt.de/geschichte/ (18. Juli 2019).
[4] Vgl. Manfred Wille: Die goldenen Zwanziger. Magdeburg vom Ausgang des Ersten Weltkrieges bis zum Beginn der NS-Diktatur, Magdeburg 1994, S. 112.
[5] Vgl. Beatrix Herlemann: Der Gau Magdeburg-Anhalt des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 35 (1999) 2, S. 225 – 248, hier S. 230.
[6] Vgl. Magdeburger Volksstimme vom 31. Mai 1930.
[7] Vgl. Beatrix Herlemann: Das Reichsbanner Schwarz Rot Gold in Magdeburg, in: Neues Bauen, neues Leben. Die 20er Jahre in Magdeburg, hg. v. Christian Antz, Christian Gries, Ute Maasberg, Regina Prinz, München 2000, S. 193 – 210, hier S. 197.
[8] Vgl. Magdeburger Volksstimme vom 11. Juni 1930.
[9] Vgl. Benjamin Ziemann: Die Zukunft der Republik? Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold 1924 – 1933, Bonn 2011, S. 28f .
[10] Vgl. Magdeburger Volksstimme vom 21. März 1931.
[11] Vgl. Magdeburger Volksstimme vom 4. Januar 1932.
[12] Vgl. Helmut Asmus: 1200 Jahre Magdeburg. Von der Kaiserpfalz zur Landeshauptstadt. Eine Stadtgeschichte, Bd. 3: Die Jahre 1848 bis zur Gegenwart, Halberstadt 2005, S. 537 f.
[13] Vgl. Herlemann: Magdeburg-Anhalt (wie Anm. 6), S. 243 f.
[14] Vgl. Asmus: 1200 Jahre Magdeburg, Bd. 3 (wie Anm. 13), S. 542 f.
[15] Vgl. Maik Hattenhorst: Magdeburg 1933. Eine rote Stadt wird braun (Magdeburger Schriften 3), Halle (Saale) 2010), S. 135 – 138.
[16] Vgl. Herlemann: Magdeburg-Anhalt (wie Anm. 6), S. 246.
[17] Vgl. Magdeburger Volksstimme vom 21. August 1994; http://archiv.magdeburg-kompakt.de/mut-am-sprungturm-und-schwimmerhochburg/ (18. Juli 2019).
[18] Vgl. Magdeburger Volksstimme vom 25. Januar 1996.
[19] Vgl. Magdeburger Volksstimme vom 11. April 1987.
[20] Vgl. Magdeburger Volksstimme vom 29. August 2018, 12. Februar 2019 und 18. Februar 2019.