Der Löbejüner Tondichter Carl Gottfried Loewe (1796 – 1869)
Ein Kürzestporträt aus Anlass des 150. Todestages
von Christian Kuhlmann | Ausgabe 3-2019 | Geschichte
In seiner Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) bestimmt Schiller den neuen, modernen und sentimentalischen Dichter als denjenigen, der nicht mehr Natur ist, sondern Natur sucht. Weil die „sinnliche Harmonie“, die dem „reinen Menschen“ zu eigen sei, in der Gegenwart aufgehoben sei, könne sich der Dichter „nur noch als moralische Einheit, d.h. als nach Einheit strebend, äußern. Die Übereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken […] existiert jetzt bloß idealisch.“[1] Diese theoretische Bestimmung sollte im sogenannten Balladenjahr 1797 eine praktische Erprobung finden. Die Zusammenarbeit von Goethe und Schiller in Weimar, die theoretische Reflexion und die Veröffentlichung zahlreicher Balladen im Musenalmanach für das Jahr 1798 markiert einen Höhepunkt dieser Gattung. Der Zauberlehrling, Der Schatzgräber, Der Gang nach dem Eisenhammer – diese wie auch früher und später entstandenen Balladen Goethes – Der Erlkönig (1782), Der Totentanz (1813) oder auch Die wandelnde Glocke (1813) – mögen als beliebige Beispiele aus dem Balladenkanon gelten. Sie alle eint hingegen, dass sie von dem am 30. November 1796 geborenen Löbejüner Carl Gottfried Loewe[2] vertont wurden, der zugleich ihre ‚idealische‘ Qualität zu wahren suchte. So avancierte der vor 150 Jahren in Kiel verstorbene Loewe zum „pommersche[n] König der Balladen[3] “, mithin aufgrund seiner langen Wirkungszeit in Stettin (1820 – 1866) zu einem Pommern. Dabei prägte den tondichtenden Balladentenor vor allem seine Zeit in der Provinz Sachsen; in Löbejün, Köthen und Halle, wo er die ersten 24 Jahre seines Lebens verbrachte und den Grundstein für seine spätere musikalische Karriere legte.
Die Geburt in Löbejün ist also keine geographische Marginalie. Das maßgebliche musikalisch-ästhetische und religiös-sittliche Gepräge eignete er sich hier an, was er auch in seiner Selbstbiographie festhielt.[4] Schon früh wurde er dabei mit der Umsetzung von Sprache in Musik bekannt gemacht. Eine Anekdote aus den Gottesdiensten seines Vaters, des Kantors Andreas Loewe, illustriert dies; anlässlich des Karfreitagsgottesdienstes in Löbejün habe der Vater eine eigentümliche Anweisung an den Chor erteilt: „Jeder Sänger musste […] das Gesangbuch in die Hand nehmen und im Anhang desselben die abgedruckte Leidensgeschichte aufschlagen, dann aber die ihm übertragene Person selbst in Musik setzen.“ Auf diese Weise erhielt Loewe schon früh seine maßgeblichen musikalischen Anlagen im Hause des Vaters, wobei aus seiner Sicht auch die Heimatregion essenziell ist: „Wie tief musste der musikalische Sinn in dem innersten Wesen der Provinz Sachsen wurzeln, da dort diese eigenthümlichen Charfreitags-Aufführungen möglich waren und Eingang fanden. Hier in Pommern würde man mich gar nicht verstanden haben, wenn ich von meinen Schülern etwas Aehnliches verlangt hätte.“ [5] Die aufgenötigte Improvisation, das verlangte ‚In-Musik-Setzen‘ gerade von Personen charakterisieren auch die spätere Liebe Loewes für die Ballade. 1820 preist er gegenüber Goethe dessen Erlkönig: „Ich hielte schon deshalb den Erlkönig für die beste deutsche Ballade, weil die Personen alle redend eingeführt seien.“ Dagegen bleibt seine Zeit als Chorschüler in Köthen, in das er 1807 übersiedelte, ambivalent. Einerseits erinnert sich Loewe wohlwollend an diese Zeit: „Köthen, wo einst Seb. Bach unter einem kunstsinnigen Fürsten, dessen Freund er war, seine glücklichsten Jahre verlebt hatte, ist ein lieblicher, gartenähnlicher Ort, idyllisch schön, weil eine Menge von Lustwäldchen mit Fasanerien, anmuthigen Baumparthien, mit einer üppigen Vegetation und dem Schmucke bunter Wiesen und Felder das Auge erfreut.“ Andererseits bekommt man eine Ahnung davon, welche Beschwerlichkeiten diese (napoleonische) Zeit mit sich brachte: nach Löbejün kam der junge Loewe nur zu Fuß; ständig gab es nur eine „magere Beköstigung“, ja man habe „vor den Thüren der wohlhabenderen Einwohner seine Existenz ersingen“ müssen; auch der Lernerfolg in der Schule habe sich nicht eingestellt, weil „[d]er Rector […] für das Schulwesen gar keinen Beruf [hatte]“ – er sei ein „träger Mann“ gewesen. Gleichwohl blieb die Freude an der Musik („Wir waren ihnen [den Leuten in Köthen, C. K.] die Repräsentanten der Kunst.“[6] ) – trotz der Widrigkeiten der obligaten gelehrten Laufbahn. Musik und ‚ordentliche‘ Ausbildung sollten auch zum entscheidenden Gegensatz der Hallenser Jahre ab 1809 werden. Der Universitätsmusikdirektor Daniel Gottlob Türk (1750 – 1813), der Loewe zunächst weiter ausbildete, und der eigene Vater erscheinen dabei als personifizierte Lebensmodelle: „Fast verzweifelte ich an der Möglichkeit, ohne ihn [den kurz zuvor verstorbenen Türk, C. K.] die Musik zu meinem allgemeinen Lebensberuf machen zu können. Wie man sich denken kann, suchte mein Vater diese Stimmung seinen Wünschen nutzbar zu machen. Er hoffte noch immer, dass sein Lieblingsplan, mich neben der Musik auch mit einer Universitäts-Gelehrsamkeit ausgestattet zu sehen, werde verwirklicht werden können.“[7] Zwar nahm Loewe ab 1817 ein Theologie-Studium auf, zugleich aber komponierte er in dieser Zeit die ersten Balladen (u. a. den erwähnten Erlkönig). Als vermittelndes Element blieb die Religion, eingedenk der väterlichen Erziehung eine immerwährende Inspirationsquelle; so schrieb er seiner Frau: „Alle meine Melodien feiern entweder Gott oder Dich.“[8] 8 Die ‚sächsischen‘ Jahre können insofern als ästhetisch und sittlich entscheidend aufgefasst werden, wenngleich Loewe ab 1820 als Gymnasial- und Seminarlehrer in Stettin, wo er 46 Jahre lang lebte, seine eigentliche Reputation gewinnt. Dort entstanden die meisten seiner Balladen, gar Opern, Sinfonien und Klavierstücke, zu deren Vorführungen mitunter zahlreiche Loewe-Enthusiasten pilgerten. Nach einem Schlaganfall im Jahr 1866 musste Loewe indes seine Ämter aufgeben, ging darauf nach Kiel und verstarb dort 1869.
Fast man den Lebensweg Loewes mithilfe dieser fraglos leicht biographistischen Schlaglichter zusammen, so ist die Redeweise vom ‚pommerschen‘ Balladenkönig mit Blick auf seine musikalische Produktivität verständlich. Die substanziellen Grundlagen wurden dennoch – ausweislich seiner eigenen Einschätzungen – in Löbejün, Köthen und Halle gelegt. Im Jubiläumsjahr sollte man sich also diesem kulturellen Erbe verpflichtet fühlen und Carl Loewe (wieder)entdecken!
[1] Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Rolf-Peter Janz (Hg.): Friedrich Schiller. Theoretische Schriften. Frankfurt/Main (= DKV im Taschenbuch, Bd. 32) 2008, S. 732 bzw. S. 733 f.
[2] Eine hinreichende, d.h. historische und musiktheoretische Ansätze vereinende Biografie steht m. E. noch aus.
[3] Die Ostsee-Zeitung erwies ihm diese Reverenz. Vgl. den Artikel Udo Jürgens war Fan: Carl Loewe – der pommersche König der Balladen, in: Ostsee-Zeitung (18. 04. 2019). Abrufbar unter: https://www.ostsee-zeitung.de/Vorpommern/Greifswald/Udo-Juergens-war-sein-Fan-Der-Balladenkoenig-Carl-Loewe (Zugriff: 01. 08. 2019).
[4] Carl Loewe: Selbstbiographie. Für die Öffentlichkeit bearbeitet von C.H. Bitter. Berlin 1870 [verwendet: 2. ND, Hildesheim 2013].
[5] Beide Zitate, ebd., S. 6.
[6] Zitate zur Köthener Zeit, vgl. ebd., S. 77, 19, 23, 22.
[7] Ebd., S. 55.
[8] Brief Loewes an seine Frau, in: ebd., S. 220.