Der Ostturm im Süden Sachsen-Anhalts

Ein Beitrag zur Frage der Chorturmkirchen

von Martin Beitz | Ausgabe 1-2017 | Geschichte

Typische Ostturmkirche – Daspig; Foto: M. Beitz
Typische Westturmkirche –  Großgräfendorf; Foto: M. Beitz
Amsdorf; Foto: M. Beitz
Bennstedt; Foto: M. Beitz
Eisdorf; Foto: M. Beitz
Köchstedt; Foto: M. Beitz
Bennstedt: romanischer Turm mit gotischem Chor; Foto: M. Beitz

In der letzten Ausgabe des „Sachsen-Anhalt-Journals“ war zu lesen, dass die Kirche von Eisdorf (Gemeinde Teutschenthal, Saalekreis) zusammen mit denen der Nachbarorte Bennstedt und Köchstedt „eine Sonderstellung gegenüber dem regional vorherrschenden Westturmkirchentypus“ genieße, da sie einen Ostturm besitzt. Zudem heißt es dort: „In einer sonst durch slawische Ortsnamen bestimmten Gegend weisen die drei Ortschaften mit den Endungen -stedt und -dorf auf deutsche Gründungen hin.“ Auf diesen Vorannahmen aufbauend mutmaßt der Autor, dass die genannten Orte ihre kirchenbauliche „Sonderstellung“ der Gründung durch deutsche Ostsiedler im Hochmittelalter verdanken.[1]

Nun ist es zwar richtig, dass Ostturmkirchen im Umkreis von Halle rein rechnerisch seltener sind als solche mit Westtürmen, eine dermaßen überhöhte Stellung der drei Dörfer ist aber bei weitem nicht gegeben. Auch ein Zusammenhang mit der deutschen Ostsiedlung scheint fraglich.

Denn bei dem Gebiet zwischen Saale und Südostharz handelt es sich um Altsiedelland, das schon seit dem frühen Mittelalter Bestandteil des Frankenreiches war. Darüber hinaus gibt es noch weitere, über etliche Jahrtausende hinwegreichende Siedlungsbelege, erinnert sei stellvertretend nur an das Sonnenobservatorium von Goseck, den Siedlungshügel bei Niederröblingen, die Himmelsscheibe von Nebra, die Rössener oder die Salzmünder Kultur sowie die Relikte des Thüringerreiches. Folgerichtig tragen die meisten Nachbarorte deutsche Ortsnamen (besonders oft -stedt, -dorf, aber auch -leben und -ingen), slawische Orte, insbesondere alte, stellen hier hingegen eine eher seltene Erscheinung dar. Die Mehrzahl der „deutschen“ Dörfer zwischen Saale, Unstrut und Harz war nachweislich bereits vor der ottonischen Zeit vorhanden, die Mehrzahl der „slawischen“ Orte desselben Raumes taucht in den Urkunden erst ab dem zwölften Jahrhundert auf. Es ist daher auch wenig verwunderlich, dass die deutschen Siedlungen zuerst Kirchen erhielten, denn sie hatten einige Jahrhunderte mehr Entwicklungszeit hinter sich. Nur auf diese Weise dürfte ein Zusammenhang zwischen der Erbauung der Gotteshäuser und dem jeweilige Ortsnamen bestehen.

Was nun die Verbreitung der Ostturmkirchen im südlichen Sachsen-Anhalt angeht, so ist hier durchaus Forschungsbedarf gegeben, denn eigentlich gelten Chorturmkirchen als typische Erscheinung Süddeutschlands, aber auch Thüringens.[2] Während die romanischen Westturmkirchen im Grundgerüst aus Turm im Westen, Schiff in der Mitte und/oder Chor und/oder Apsis im Osten bestehen, sind die romanischen Ostturmkirchen in Sachsen-Anhalt allesamt Chorturmkirchen gewesen, das heißt, das bei ihnen der Turm östlich des Schiffes über dem Chor erbaut wurde, weshalb man sie auch Chorjochtürme nennt.

Im Bereich zwischen den Mansfelder Seen und der Goethestadt Bad Lauchstädt finden wir nun Ostturmkirchen nicht nur in Bennstedt, Eisdorf und Köchstedt, sondern auch in Seeburg und Amsdorf sowie in Lauchstädt selbst.[3] In den direkten Nachbarorten der genannten Dörfer gibt es zwar keine Ostkirchen mehr. Allerdings sollte man dabei in Rechnung stellen, dass die meisten dieser Kirchen jüngeren Datums sind. Dass ihre Vorgängerbauten über einen Ostturm verfügt haben, ist also nicht in allen Fällen auszuschließen. In Einzelfällen – hier ließe sich das Beispiel Rollsdorf nennen – lässt sich dies sogar mit Sicherheit nachweisen.[4] Zusammenfassend lässt sich für den Raum zwischen Lauchstädt und Seeburg feststellen, dass die Chorturmkirchen eine durchaus gewichtige Stellung gegenüber den Westturmkirchen einnehmen: Insgesamt findet man sieben Vertreter dieses Baustils, von denen alle bis auf eine Ausnahme – der Ostturm in Lauchstädt ist eine barocke Zutat – auf die Zeit zwischen 1150 und 1250 zu datieren sind. Im Übrigen lässt sich hier die baugeschichtliche Entwicklung der Ostturmkirchen auf engstem Raum nachvollziehen, denn während in Amsdorf noch der romanische Urtypus einer Kirche mit dem Schiff im Westen, dem Turm im Osten und der Apsis an dessen Ostseite steht, besitzen die anderen Dorfkirchen in Relation zum Turm unterschiedlich große Chorbauten anstelle der Apsis.

Betrachten wir nun den Raum etwas größer gefasst, dann dominieren die Westtürme durchaus. Dennoch finden bzw. fanden sich auch hier Ostturmkirchen, bisweilen sogar schon im nahen Umfeld. So ist in Schlettau (Teutschenthal), sechs Kilometer östlich von Eisdorf, ein ehemaliger Chorturm nachweisbar.[5] In Bischdorf, kaum drei Kilometer südöstlich von Lauchstädt, steht ein schönes ursprüngliches Exemplar mit noch erhaltener Turmapsis am Ostturm, in Krakau, ähnlich weit südwestlich gelegen, besteht die barock veränderte Kirche nur aus Schiff und Ostturm. Südlich davon, zwischen Saale, Geiseltal und Unstrut, finden sich mindestens weitere 18 Vertreter mit zumeist romanischem, seltener barockem Ostturm. Auch in und um Querfurt und Sangerhausen sind erneut größere Zahlen von Chorturmkirchen nachweisbar. Die höchste Dichte lässt sich aber entlang der unteren Unstrut zwischen Artern und Naumburg beobachten, wo sich gleich zwölf Vertreter befinden.[6] Das entspricht im Schnitt einer solchen Kirche aller drei Kilometer, wenngleich nicht alle Fälle der Romanik zuzuordnen sind. Im Übrigen ist hier wie in den anderen Regionen davon auszugehen, dass eine Reihe von Kirchen ursprünglich einen Ostturm besaßen und erst im Zuge von Umbauarbeiten einen Westturm erhielten. Die ‚Dunkelziffer‘ ursprünglicher Chorturmkirchen dürfte nicht unbeträchtlich sein.

Mit einigen Recht ließe sich also sagen, dass im Süden Sachsen-Anhalts – im Gegensatz zu den tatsächlich sehr stark von Westturmkirchen dominierten nördlichen und östlichen Landesteilen – in dieser Hinsicht wechselhafte Verhältnisse herrschen. Die Aussage, dass die Ostturmkirchen hier eine seltene Ausnahme darstellten, lässt sich jedenfalls in dieser Form kaum aufrechterhalten. Schwierig wird es jedoch bei der Frage, wie sich das vermehrte Auftreten dieses Kirchentyps in dieser Region erklären lässt.

Historische Bezüge, die zwischen den hier genannten Kirchen einen Zusammenhang herstellen würden, sind kaum zu finden. Bei den Patronatsverhältnissen beispielsweise lassen sich keine Gemeinsamkeiten feststellen, die über Zufälle hinausreichen. Auch die kirchlich-administrative Ebene lässt sich nicht als Erklärung für den vermehrten Ostkirchenbau heranziehen, denn die hier betrachteten Orte waren verschiedenen Bistümern zugeteilt (Halberstadt, Merseburg und Naumburg-Zeitz), die noch dazu zwei unterschiedlichen Erzbistümern unterstellt waren (Magdeburg und Mainz). Weitere klassische Ansätze – eine etwaige Dominanz von Haupt- oder Nebenkirchen (Parochial- bzw. Filialkirchen); die Bedeutung des jeweiligen Ortes; die Rolle von Klöstern bei den Gründungen usw. – scheiden ebenfalls aus.

Eine Antwort könnte hingegen ein Blick auf die weltlichen Herrschaftsverhältnisse im Hochmittelalter bieten. Denn die Verbreitung der Ostturmkirchen deckt sich in auffälliger Weise mit den Einflussgebieten der Querfurter und Seeburger Edelherren und der Ludowinger. Erstere hatten seit dem 11. Jahrhundert ihre Macht sukzessive ausbauen können, seit dem 12. Jahrhundert stellten sie schließlich die Burggrafen von Magdeburg. Darüber hinaus gelang es nicht wenigen der Querfurter und Seeburger Edelherren, zu Naumburger oder Merseburger Bischöfen aufzusteigen. Zum einflussreichsten Kirchenfürsten stieg Wichmann von Seeburg auf: Seit 1149 Bischof von Naumburg-Zeitz, wurde er 1154 Magdeburger Erzbischof. Seine Erhebung ging wesentlich auf das Betreiben des späteren Kaisers Friedrich I. Barbarossa zurück, dessen Unterstützung er sich also sicher sein konnte.

Parallel zu den Querfurter und Seeburger Edelherren erlangten die Ludowinger eine vergleichbare Position im nordthüringischen Übergangsgebiet nach Sachsen. Im Jahr 1131 wurden sie von Kaiser Lothar III. von Supplinburg sogar als Landgrafen von Thüringen in den Reichsfürstenstand erhoben. Auch unter ihnen lassen sich Vertreter finden, die es bis zu den Naumburger Bischofsweihen brachten. Ihren Zenit erreichten sie unter der Regentschaft des Landgrafen Ludwig IV. (1200 – 1227), dessen Ehefrau Elisabeth (1207 – 1231) als Heilige Weltruhm erlangte.

Zu den frühen Stützpunkten der Ludowinger gehörten Freyburg und Sangerhausen. Von hier aus könnten sie, gestützt auf ihre einflussreiche Stellung als Thüringer Reichsfürsten, wesentlich an der Verbreitung der Chorturmkirchen beteiligt gewesen sein. Und auch die Querfurter und Seeburger Edelherren könnten eine Brückenfunktion ausgeübt haben, indem sie die Verbreitung des im benachbarten Thüringen üblichen Kirchbautypus in ihrem Einflussgebiet förderten. Dies erscheint umso naheliegender, als beide Geschlechter in kirchenpolitischer Hinsicht sehr aktiv und ihre Mitglieder nicht selten Kirchenfürsten von beträchtlichem Format waren.

Auf dieser Ebene ließe sich im Gegenzug auch erklären, warum sich im Norden und Osten des heutigen Sachsen-Anhalts kaum Ostturmkirchen finden lassen, denn hier endete der politische Einfluss der Querfurter Edelherren und der Ludowinger zugunsten der Askanier und Wettiner – zwischen Verbreitung des Kirchenbautyps und weltlichen Herrschaftsverhältnissen lassen sich also auffällige Parallelen feststellen.

Vor diesem Hintergrund gewinnt ein Detail im Zusammenhang mit der Deutschen Ostsiedlung an Bedeutung: Vom Ludowinger Udo I., 1125 bis 1148 Bischof von Naumburg-Zeitz, ist bekannt, dass er die Ansiedlung von Flamen förderte. Sehr viel stärker noch ist die Rolle des bereits genannten Magdeburger Erzbischofs Wichmann belegt, der im Rahmen der Ostsiedlung Holländer und Flamen hinzuzog.[7] Dies ist vor allem deshalb von Interesse, weil Chortürme auch in den Orten flämischer Siedler an Helme und Unstrut wie zum Beispiel in Martinsrieth, Flemmingen oder Nikolausrieth vorkommen. Auch hier lassen sich demzufolge Indizien finden, die zumindest auf eine Koinzidenz von querfurt-seeburgischem respektive ludowingischem Einfluss und Verbreitung der Ostturmkirchen hindeuten.

Versucht man sich an einem Resümee, so lässt sich zum ersten festhalten, dass allein in dem von Halle, Weißenfels, Nebra und Eisleben umrissenen Gebiet von vielleicht 900 Quadratkilometern über vierzig Ostturmkirchen nachweisen lassen. Im nur wenig größer gefassten Raum (bis zur Helme, bis an den Südharz heran, entlang der Hauptflüsse) sind es bereits um die sechzig. Von einer Sonderstellung sollte daher nicht die Rede sein, auch wenn sie zahlenmäßig hinter den Westturmkirchen zurückstehen sollten. Darüber hinaus sind die Hintergründe dieser kirchenbaulichen Durchmischung noch nicht vollständig geklärt. Gleichwohl lassen sich von der Beantwortung dieser Frage Erkenntnisse nicht nur für die Architekturgeschichte des südlichen Sachsen-Anhalts, sondern für die gesamte Landesgeschichte erwarten.

 

[1] Leske, Mike: Die St.-Johannis-Kirche zu Eisdorf, in: Sachsen-Anhalt-Journal 26 (2016) 4, S. 8 – 9.

[2] Vgl. u. a. Erich Bachmann: Art. Chorturm, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. III (1953), Sp. 567 – 575.

[3] Vgl. u. a. Dehio, Georg: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Sachsen-Anhalt II Regierungsbezirke Dessau und Halle, München, Berlin 1999 (Neubearbeitung.

[4] In diesem Fall ist der Verfasser dieses Beitrags auf eine Abbildung der alten Kirche von Rollsdorf gestoßen, und zwar bei Düll, Gottlieb Sebastian: Auch ein Jubiläum, in: Mansfelder Heimatkalender 8 (1929), S. 42 – 44, hier S. 43. Die kurz vor dem bedauerlichen Abriss des romanischen Gotteshauses im Jahr 1903 gemachte Aufnahme beweist, dass auch diese Kirche eine Chorturmkirche darstellte.

[5] Vgl. Höhne, Dirk: Die romanischen Dorfkirchen des Saalkreises. Eine baugeschichtliche Untersuchung, Halle 2016, der Dutzende romanische Kirchen des Altkreises Saalkreis vorstellt. Hier dominieren Westtürme mit zirka 60 Exemplaren (vgl. Bd. 1, S. 78).

[6] Nausitz, Bottendorf, Kleinwangen, Großwangen, Dorndorf, Golzen, Plößnitz, Hirschroda, Weischütz, Zscheiplitz, Balgstädt, Großwilsdorf. Artern selbst besitzt eine Kirche mit Vierungsturm, ebenso Sangerhausen und Beyernaumburg.

[7] Vgl. Wießner, Heinz: Das Bistum Naumburg, Bd. 1.2: Die Diözese (Germania Sacra, N.F. 35.2). Berlin, New York 1998, S. 764, 773.