Der Salzwedeler Baumkuchen

von Manfred Lüders | Ausgabe 1-2018 | Lebendiges Kulturerbe

Salzwedler Baumkuchen. Foto: Matthias Behne.
Einblicke in die Baumkuchenherstellung. Foto: Matthias Behne.
Einblicke in die Baumkuchenherstellung. Foto: Matthias Behne.
Einblicke in die Baumkuchenherstellung. Foto: Matthias Behne.
Der Baumkuchen wird verpackt. Foto: Matthias Behne.
Verkaufsraum. Foto: Matthias Behne.
Bettina Hennig und die Belegschaft der Ersten Salzwedler Baumkuchenfabrik zusammen mit der Gründerin. Foto: Matthias Behne.
„Baum Kuchen“-Rezeptniederschriften des Johann A. C. D. Schernikow. (Ausschnitt). Archiv M. Lüders.
Baumkuchenrezeptur „Salzwedeler Typ“ – Fritz Kruses im Zeitraum 1917 – 1940 notierten Baumkuchenrezepte. Archiv M. Lüders.
Werbung aus der Geschichte der Salzwedler Baumkuchenfabrik im Ausstellungsbereich des Verkaufsraums. Foto: Matthias Behne.
Messeausweis 1955. Archiv M. Lüders.
Teigrührmaschinen. Foto: Matthias Behne.

Vorweg: Diese weit über die Grenzen der Altmark hinaus bekannte Spezialität ist ursächlich keine Erfindung hiesiger Bäcker; sie widerspiegelt lediglich Entdeckertum, Kreativität ihrer Spezialisten und eine gehörige Anzahl von Zufällen.

 

Wer seinen Gästen einen Blickfang und eine Gaumenfreude der besonderen Art bieten möchte, präsentiert einladend einen Salzwedeler Baumkuchen auf der eingedeckten Kaffeetafel.

Seinen Ursprung verdankt dieses Gebäck der Aufmerksamkeit des hiesigen Bäckergesellen Johann Andreas Carl Daniel Schernikau[1] (1786 –1852). Während seiner gildebestimmten Wanderschaft begann er 1807 in der Backstube eines Lüneburger Meisters mit dem Notieren von Backrezepturen. Mehrere hundert dieser Backanleitungen brachte er mit in das Haus seiner Eltern am Salzwedeler Rübenmarkt (jetzt Holzmarktstraße), ohne dass vorerst das auf S. 154 notierte Rezept als Realprodukt Widerhall in der Öffentlichkeit fand.

1812 ehelichte der zwischenzeitlich zum Meister erhobene Jungbäcker Catharina Ide (* 1785), Tochter eines Scharrnschlächters. Exakt in diese Zeit fällt erstmalig die Baumkuchenherstellung „Salzwedeler Typ“, abgeleitet aus präzis durchgeführten Zutatenanalysen. War diese zeitliche Parallelität Zufall, oder stand gar ein aufwendig gebackener Walzenkuchen auf der wohl recht schmal gehaltenen Festtagstafel?

Zeitgleich soll auch in der Küche des Gasthofes „Neustädter Keller“, seit 1836 „Schwarzer Adler“, ein entsprechendes Backwerk vom Knüppel genommen worden sein. Laut Überlieferung befanden sich entsprechende Backanleitungen in den Rezeptnotizen des noch vor der Jahrhundertwende aus der preußischen Hauptstadt zugezogenen Kochs Ernst August Garves († um 1804).

In den darauffolgenden Jahren befassten sich Fachautoren mit der Herausgabe von Rezeptbüchern unter Benennung ihrer oder anderer Meister Backerzeugnisse. Demnach bedurften die auf einem heißen (!) Rundholz mit 2 Aufgüssen gebackenen Röhrenkuchen zusätzlicher Stützung. Dünne, mit Zuckerlösung angeklebte Zweige verliehen dem dünnwandigen Kuchenbaum die erforderlich aufrechte Standfestigkeit. Erst mit dem Backen vor (nicht über!) brennendem Buchenholzfeuer ließen sich dickwandige Rohlinge fertigen, die zusätzlicher Halterungen nicht mehr bedurften. Dazu unterstützten die wild gewachsenen „Äste“, die durch schnelles Drehen der Walze und der daraus resultierenden Zentrifugalkraft entstanden, die Bäcker bei der Suche nach der treffenden Bezeichnung. Der Baumkuchen war erfunden.

Die erste über Salzwedels Stadtgrenze unbeabsichtigt hinausgetragene, jedoch wirksam gewordene Werbung ist auf 1843 datiert. Auf der Festtafel im Neustädter Rathaus, die anlässlich des Besuches König Friedrich Wilhelms IV. eingedeckt worden war, prangte eine eigens hergestellte, aufrecht stehende Zuckerbäckerei. Im Tage später erschienenen Lokalblatt war zu lesen: „*Es war von einem Baumkuchen[2]  der Rathskellerwirthin Madame L e n t z.“ [3] Für das nachherige Backen größerer Stückzahlen dieses noch wenig bekannten Kuchens gibt es keine Belege, was gleichermaßen für Lieferungen an das Königshaus in Berlin gilt. Die Legende jedoch ist von beidseitig gepflegten Kontakten überzeugt.

1852 verstarb Johann A.C.D. Schernikow; seinem zweitgeborenen Sohn Joachim Friedrich (* 1815) wurde 1865 die Ehre zuteil, von König Wilhelm I., dem späteren deutschen Kaiser, anlässlich dessen Salzwedel-Besuches als erster Salzwedeler seines Faches mit dem Titel „Königlicher Hof-Conditor“ ausgezeichnet zu werden. Als hochdekorierter Konditor und Caféhausbesitzer war er darauf bedacht, das Schernikow-Familienunternehmen für die nachfolgende Generation zu bewahren. Seinem Neffen Carl Emil (*1846), der ihm in der Backstube geschickt zur Hand gegangen war, genügte jedoch auf Dauer das monotone Teigkneten nicht, auch wenn abwechselnd wieder und wieder Baumkuchenaufträge zu realisieren waren. Die Auswandererwelle packte ihn – auf Nimmerwiedersehen Salzwedel. In der neuen Welt tingelte er von einer Kurzarbeit zur nächsten. In einer deutschsprachigen Zeitung las er eines Tages überraschend vom Ableben seines Onkels. Erneut mit einem Segler über den Ozean – zurück in die Heimat. Seine sichergeglaubte Erbschaft war jedoch zwischenzeitlich an den Sohn seiner Cousine Sophie vergeben worden. Folglich blieb nur die Gründung einer eigenen Bäckerei 1876. Am Tag der Eheschließung mit Bertha Schröder eröffnete er sein eigenes Geschäft an der Großen St. Ilsenstraße.

Berlin Oktober 1877: das kaiserlich / königliche Protokoll plante für die Hofjagd in Letzlingen, zu der sich Gäste vom Württembergischen Hof und der Herzog von Anhalt angesagt hatten. Es beauftragte wie bereits vor 12 Jahren die Schernikow-Bäckerei mit der Lieferung eines Baumkuchens. Dieser sollte dem Befehl gemäß mit einem aus Zucker modellierten preußischen Adler „gekrönt“ sein. Persönlich lieferte der Meister vor Ort die Bestellung ab, um am 13. November im Salzwedeler Wochenblatt bestätigend zu lesen: „Des Königs Majestät haben Allergnädigst geruht, dem hiesigen Conditor Emil Schernikow den Titel eines Königlichen Hof-Conditors zu verleihen.“

Des Hof-Conditors Welterfahrenheit in Einheit mit fachlichem Ideenreichtum, kaufmännischem Geschick sowie der jüngst erfahrenen Titelverleihung erwiesen sich in dieser Zeit des industriellen Aufschwungs Kaiserdeutschlands als Basis seines fortan wachsenden Unternehmens. Selbst an verschiedene europäische Herrscherhäuser gingen entsprechende Sendungen ab, so berichtete der Konditor später in illustren Gesprächsrunden.

Vom Boom dieser Zeit profitierte ebenso Schernikows Berufskollege Christian Peters († 1905). Dessen Lieferbeziehungen zum Herzoglich-Anhaltischen Hof brachten ihm nicht nur den Hoflieferanten-Titel ein, sondern forderten regelrecht, seine Jahrhunderte alte Bäckerei im Zentrum der Stadt 1901 durch eine standesgemäße Villa zu ersetzen. Noch heute zieren seine jugendstilverschlungenen Initialen CP das Portal Breite Straße Nr. 3.

Im selben Jahr war „Baumkuchenemils“ Villa am Großen Stegel, (Goethestr. 22) bezugsfertig. Noch heute legt diese mit einer turmartigen „Baumkuchenvariation“ versehene Eckgestaltung Zeugnis ab von der Leidenschaft ihres Bauherrn. Um künftig Fehlbestellungen beim Baumkuchenstammhaus an der Holzmarktstraße auszuschließen, erbat er, seiner Adresse künftig das oben vermerkte Kürzel hinzuzufügen.

Denn in der Holzmarktstraße hatte zwischenzeitlich der aus Friesland stammende Konditor Fritz Kruse (1879 – 1945) seine Tätigkeit aufgenommen, ein herausragender Fach- wie gleichermaßen Geschäftsmann, der schon bald den lokalen Baumkuchenmarkt mitbestimmen sollte. Weitere Konditoreien komplettierten zu dieser Zeit die lokale Baumkuchenproduktion.

1909 kam eine weitere „Baumkuchenküche“ hinzu. Ulanenstandortkommandeur Graf von Pfeil fühlte sich in seiner Wohnung Vor dem Lüchower Tor Nr. 6 durch die Dämpfe der an seinem Salon vorbeifließenden Stadtgräben belästigt. Er kündigte die Wohnung und ließ gleichzeitig für seine Dienst-Reitpferde neue Boxen beschaffen. Um den aufgelassenen Pferdestall weiterhin wirtschaftlich zu nutzen, ließ Grundstückseigner A. Schweigel diesen zu einer Baumkuchenbackstube umrüsten. Der Betreiber dieses neuen Backhauses konnte bislang nicht ermittelt werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass Emil Schernikow hier eine Zweigstelle unterhielt, zumal er vor Jahren Schweigels Wohnhausbau kreditiert hatte und sein Betrieb gerade zu dieser Zeit mit mehr als 10.000 Stück Baumkuchen einen später nie mehr erreichten Spitzenwert vermelden konnte.

Bald darauf begann der 1. Weltkrieg, in dessen Folge das weltweit geschätzte Unternehmen an der Großen St. Ilsenstraße – die Firma betrieb zwei Auslandsvertretungen und mehr als 20 Inlandsgeschäfte – wirtschaftlich an den Rand des Ruins geriet. Nach Kriegsende und der sich andeutenden Inflation wie auch seines Alters wegen entsagte Emil Schernikow einem faktischen Neubeginn; er verkaufte sein Unternehmen 1920 an Erich Kofahl.

Zur selben Zeit sah Fritz Kruse seine Chance gekommen, endlich eine Konditorei zu erwerben. Er kaufte das Traditionsgeschäft an der Holzmarktstraße, das er seit der Jahrhundertwende backend und, nach dem Ableben von Friedrich Gerecke 1907, auch geschäftsführend begleitet hatte. Selbst während des Krieges hielt er zu seiner Konditorei. In dieser Zeit des nahezu totalen Ausfalls des Baumkuchenbackens legte er 1917 handschriftlich ein Rezeptbüchlein an, das er bis 1940 akribisch führte.

Diesen Aufbruch der zwei Konditoren in eine zu erhoffende neue Baumkuchenzeit nahm der Verlag „Salzwedeler Wochenblatt“ zum Anlass, den eingetretenen Kleingeldmangel durch eine Serie sogenannter Notgeldscheine auszugleichen und gestaltete die Rückseite des 50-Pfennig-Scheines stadtverbunden: Konditor mit Baumkuchen vor der Salzwedeler Stadtsilhouette.

Die Wirtschaftskrisen Ende der 1920er Jahre hinterließen auch in Salzwedel ihre Spuren. E. Schernikows Nachfolger sah sich 1928 zum Aufgeben seiner Baumkuchenfabrik gezwungen. Für Fritz Kruse bot sich damit die Gelegenheit, sein an der Holzmarktstraße vor Jahren erworbenes Unternehmen, Konditorei nebst Café, durch Kauf der einst von Schernikow aufgebauten Fabrik zu vergrößern. Mit der Gründung seiner „Vereinigten Salzwedeler Baumkuchenfabriken“ stieg Kruse zum lokalen Marktführer auf. Interne Geschäftsberichte aus dieser Zeit sind nicht überliefert, doch dürften seine vor Jahren notierten Baumkuchenrezepte wiederholt im Kreise seiner Fachkonditoren mehr denn je unter dem Aspekt der weiteren Qualitätsverbesserung kritisch-förderlich beraten worden sein.

Rückblickend auf die vergangenen Jahrzehnte Salzwedeler Baumkuchenproduktion verdienen weitere 14 Konditoren vermerkt zu werden: Karl Blum; Otto Bothe; Kurt Bräutigam; Wilhelm Deling; Karl Eckart; Hermann Kordts; Rolf Krüger; Ernst Oberländer; Friedrich Rosenthal; Carl Schulze; Rudolf Schück; Wilhelm Taege; William Stappenbeck und Hermann Werneke.

Während des zweiten Weltkrieges ruhte das Baumkuchenbacken erneut nahezu vollständig. Fortan waren Grobbackerzeugnisse gefragt, für 19.341 Ortsansässige bzw. 26.858 Einwohner nach Kriegsende. Kriegsflüchtlinge aller Art hatten in der Stadt Zuflucht gefunden.

Nach dem Ende des Krieges im Mai 1945 und der Zergliederung Deutschlands in Besatzungszonen befahl im Osten Deutschlands die SMAD [4] das Einrichten neuer Wirtschaftsstrukturen. Im „Fragebogen zur politischen Kontrolle und Säuberung der Wirtschaft“ beantragte Fritz Kruse seine Geschäftszulassung: „… Ich bitte um die Erlaubnis, meine Gast- bzw. Schankwirtschaft auf meinem Grundstück Holzmarktstr. 4 – 6 weiterführen zu dürfen.“ Seitens der Stadtverwaltung bestanden „Gegen die Wiederzulassung der Kaffeestube keine Bedenken…“ Fritz Kruse verstarb am 21. November 1945.

So erfuhren die Fritz-Kruse-Vereinigten-Baumkuchenfabriken keine Fortsetzung; Witwe Auguste Kruse blieb nur die Teilverpachtung ihrer Fabrik an den KONSUM-Genossenschaftsverband. Die hier an der Großen St. Ilsenstraße weiterhin tätigen Konditoren bewahrten Rezeptur und Technologie vor dem Vergessen und backten an vier Herden Salzwedels Vorzeigekuchen mit den wild wachsenden „Ästen“.

1947 befahl die SMAD den Aufbau der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK). Nach Eingliederung dieser Institution in den Regierungsapparat der DDR wurden die Festigung von Verbrauchergenossenschaften (z.B. Konsum-Genossenschaften), Enteignungen und Verstaatlichungen zahlreicher Betriebe sowie Gründungen von Produktionsgenossenschaften des Handwerks planmäßig vorangetrieben. In der Folgezeit entwickelten sich die Wirtschaftssysteme der Ostzone / DDR und der 3 Westzonen / BRD diametral. Dennoch gelang es in beidseitiger Abstimmung, ein Mindestmaß an Handelsbeziehungen aufrechtzuerhalten. Im Sinne dieser gegenseitigen Vorteilnahme gelang auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1956 der Abschluss von Lieferverträgen mit mehreren, darunter auch Westberliner Handelsfirmen. Der Salzwedeler Baumkuchen hatte dank der geschickten Verhandlungsführung des Konditormeisters Jürgen Plaethe mit seinem Preis-/ Qualitätsverhältnis überzeugt.

Die Geschäfte wurden über das staatlich geführte Außenhandelsunternehmen abgewickelt, privatbetriebenen Unternehmen war der Warenexport, Baumkuchensendungen eingeschlossen, in das kapitalistische Ausland nicht erlaubt. Diesbezügliche Gesetzesverstöße legte das Gericht 1958 Auguste Kruse wie gleichfalls dem Baumkuchenproduzenten Ernst Stackmann zur Last, was mit Enteignungen wie auch Gefängnisstrafen geahndet wurde.

Um die gestiegene Nachfrage nach Salzwedeler Baumkuchen durchweg befriedigen zu können und möglichen weiteren Enteignungen zuvorzukommen, schlossen sich 1958 vier Konditoren auf „Anregung“ einer Gewerbelenkung für Bäckereien zur „Produktionsgenossenschaft des Bäcker- und Konditoren-Handwerks“ zusammen. Im Jahr 1960 erfolgte die Gründung des VEB Nahrungsmittel mit der konzentrierten Baumkuchenproduktion in den drei ehemaligen Konditoreien Carl Eckart (Reimmannstr. Nr. 5), Auguste Kruse (Holzmarktstr. Nr. 6) und Ernst Stackmann (Vor dem Lüchower Tor Nr. 7); als Außenstellen dieses Betriebes kamen je eine Fischräucherei und Feinkostabteilung hinzu.

Entgegen verschiedenen Neuerungen hielt man zu dieser Zeit bei der Baumkuchenfertigung noch an der traditionellen Befeuerung mit Buchenholz fest. Mit den 1958 begonnenen Erdgaserkundungen kam ein neuer Energiespender ins Gespräch – Gas! Stadtgas stand in Salzwedel seit 1893 zur Verfügung, ohne dass Bäckereien bislang davon Gebrauch gemacht hatten. Im Juni 1967 begann mit dem Probebacken vor offener Gasflamme eine neue Fertigungstechnologie. Lebensmittelproben dieser Kuchen ergaben keinerlei Qualitätsbeeinträchtigungen, worauf der Expertenentscheid lautete: „Seit 21. 7. 1967 wird in Salzwedel mit Gas gebacken.“ – und das weiterhin traditionell auf einem konisch gedrechselten, 90 cm langen, mit Backpapier ummantelten Buchenholzknüppel.

Eine enorme Produktivitätssteigerung wurde erreicht, denn die Buchenholzscheite wurden bislang per Hand mit einer eigens geformten Zange über den rotierenden Kuchen hinweg senkrecht an die Herdrückseite gestellt. Zudem entfielen das Aufbereiten des zu verbrennenden Holzes sowie das Entaschen.

Zu Beginn der 1970er Jahre lief in den über den Kreis Salzwedel verstreut liegenden Bäckereien die Warenproduktion auf zufriedenstellendem Niveau; dennoch war der Bedarf kaum zu decken. Die Ursache lag in einer unausgewogenen Preispolitik. Um der Nachfrage bedarfsgerechter begegnen zu können, erwies sich eine industrielle Großproduktion als unumgänglich. Am 1. 4. 1980 konnte in der Großbäckerei an der Schillerstraße die Produktion von Brot, Brötchen und Konditorwaren angefahren werden, und für den exportträchtigen Baumkuchen verkündete die Presse: „… 260 Tonnen stehen für dieses Jahr im Plan …“

Mit der politischen Wende ergaben sich Bedingungen für die Schaffung neuer Eigentumsformen. Die „Erste Salzwedeler Baumkuchenfabrik“  [5] nahm in den Backräumen an der Holzmarktstraße erneut ihre Produktion auf. Die seinerzeit technischen Fortschritt demonstrierendeGroßbäckerei entsprach schon bald nicht mehr den veränderten Markbedingungen. Zwei kuragierte Unternehmerinnen vermochten in hartnäckig geführten Verhandlungen ihre Kreditwürdigkeit nachzuweisen, quasi als Pfand für das Gründen einer Baumkuchen GmbH. Seit 1995 rotieren die Backwalzen in der Abteilung der neuen 1.500 m2 messenden Produktionshalle. In der Zwischenzeit zog es einen weiteren Baumkuchenproduzenten an den Standort Salzwedel.

Um sich Plagiaten erwehren zu können und die Produktion des Baumkuchen in seiner Originalität nicht außer Landes gehen zu lassen, schlossen sich die drei führenden Baumkuchenproduzenten zu einer Schutzgemeinschaft zusammen. Sie erwirkten bei der zuständigen Europäischen Kommission mit Datum vom 15.12.2008 die Anerkennung des Salzwedeler Baumkuchens als regional bedeutendes Produkt. Um die Fertigungstechnologie dieser Backware wie auch ihren Herstellungsort festzuschreiben, sind die Unternehmer wie auch die in ihrem Auftrag produzierenden Konditoren an Auflagen gebunden:

– die Fertigung der Kuchen hat vor offenem Feuer zu erfolgen; mittels einer Kelle ist die Backmasse auf eine rotierende Walze aufzutragen;

– der mit Papier umwickelte Knüppel darf nicht in die Backmasse eintauchen;

– der auf der Walze Schicht für Schicht entstehende Rohling muss wild wachsen. (Folglich dürfen weder so genannte Kämme noch Schablonen zur Formgebung verwendet werden.)

– nur der Baumkuchen darf als „Salzwedeler …“ in den Handel gebracht werden, der nur in Salzwedel entsprechend der Stadtgemarkung des Jahres 2005 gebacken wird. Das Geo-Schutzzeichen markiert ab der fixierten Zeit seine Einmaligkeit.

Dem Salzwedeler Baumkuchen ist damit zwar europaweit Produktschutz zuerkannt worden. Der Stadt selbst stand es jedoch weiterhin nicht zu, sich als Baumkuchenstadt bezeichnen zu dürfen, obwohl diese bei Liebhabern weltweit als solche bekannt war. Erst mit der Eintragung vom 24.4.2011 in die Dokumente des zuständigen Patentamtes ist die Hansestadt Salzwedel berechtigt, den Zweitnamen zu tragen.

Und sollten Sie, verehrte Leserinnen und Leser, sich veranlasst sehen, den eingangs ‚präsentierten‘ Baumkuchen anschneiden zu müssen – hier zur gepflegten Beachtung: Ihr Baumkuchen ist zu keiner Zeit weder waagerecht noch senkrecht zu zerlegen. Schneiden Sie gleich einem aufrecht stehenden Baumkuchen mit einem scharfen Küchenmesser (Klingenlänge ca.8 cm) muschelartige „Späne“ vom fondant-/schoko-glasierten Kuchen, Spandicke maximal 1 cm, Länge ca. Daumen-Zeigefingerspanne, und servieren Sie etwa drei dieser Späne zu einer Tasse Kaffee.

 

[1] Seit seiner Lüneburger Zeit schrieb J.A.C.D. Schernikow, wie auch seine Nachfahren, seinen Namen mit -ow.

[2] Hervorhebung M. L.

[3] Zitate und Abbildungen (wenn nicht anders bezeichnet) aus Lüders, Manfred: „Der Salzwedeler Baumkuchen“, Initia-Verlag Uelzen 2018.

[4] Sowjetische Militär-Administration in Deutschland.

[5] Siehe Informationskasten

Die Schernikowsche Baumkuchenbäckerei besteht heute unter dem Namen Erste Salzwedeler Baumkuchenfabrik. Inhaberin ist Bettina Hennig.
Zwölf Mitarbeiter backen den „König aller Kuchen“ nach historischer Vorlage. Die Besichtigung der Backstube mit Verkostung ist möglich von Montag bis Freitag von 9 bis 13 Uhr. Gruppen werden gebeten, sich anzumelden.
Baumkuchen kann auch über das Internet bestellt werden und wird auch heute noch ins In- und Ausland verschickt.
St.-Georg-Straße 87 | 29410 Salzwedel | Tel. +49 3901 32306 B/2

info@baumkuchen-salzwedel.de | www.baumkuchen-salzwedel.de