Einzigartige HEIMATREISE

HEIMATSTIPENDIUM – 10 Künstler*innen für 12 Monate an 10 Museen in Sachsen-Anhalt

Ines Janet Engelmann | Ausgabe 4-2021 | Kunst

Die 10 Künstler*innen des Heimatstipendiums in den Ausstellungsräumen der Kunststiftung Sachsen-Anhalt in Halle zusammen mit Manon Bursian, Direktorin der Kunststiftung Sachsen-Anhalt (rechts außen) und Ines Engelmann und Björn Hermann, Kuratoren des Stipendiums (3. und 4. von rechts). Foto: Matthias Ritzmann
Ausstellungsstart im Johann-Friedrich-Danneil-Museum. Foto: Matthias Ritzmann
Julia Himmelmann (links im Bild) an einem ihrer ausgestellten Objekte in Börde-Museum Burg Ummendorf. Foto: Matthias Ritzmann
Objekte von Julia Schleicher im Museum Schloss Moritzburg Zeitz. Foto: Matthias Ritzmann
Thomas Jeschner vor seinem Pop-Up-Museum auf dem Markt von Eisleben. Foto: Matthias Ritzmann
Lucie Göpfert vor einem Teil ihrer Arbeiten zum Stipendium, ausgestellt in der Kunststiftung Sachsen-Anhalt in Halle. Foto: Matthias Ritzmann
Nora Mona Bach beim Zeichnen ihrer Kohlearbeiten im Rahmen des Heimatstipendiums. Foto: Matthias Ritzmann
Arbeiten von Annette Funke in den Räumen der Kunststiftung Sachsen-Anhalt. Foto: Matthias Ritzmann
Inspiriert von den Sammlungsstücken des Museums für Naturkunde und Vorgeschichte Dessau entstanden Julia Rückerts keramische Geschöpfe. Foto: Matthias Ritzmann
Multimediainstallation von Petra Reichenbach in der Dauerausstellung des Schlosses Lichtenburg-Prettin – Museum und KZ-Gedenkstätte. Foto: Matthias Ritzmann
Gedenkschmuck aus Kirschbaumholz von Mareen Alburg Duncker „Für Susette“. Foto: Matthias Ritzmann
Foto: Matthias Ritzmann

Bunte, glänzende, keramische Kleinplastiken in einer von Schwarzerde geprägten Umgebung; Kohlezeichnungen einer jungen Künstlerin in einem von schwerer körperlicher Arbeit kündenden Umfeld; oder: Schmuck in einem Haus, das als Gedenkstätte an die Gräuel der NS-„Euthanasie“ erinnert. Kunst von heute trifft auf Erinnerungsstücke und -orte von gestern. Daraus ergibt sich kein Widerspruch, ganz im Gegenteil. Das zeigen die im Rahmen des HEIMATSTIPENDIUMS entstandenen Arbeiten in ganz unterschiedlichen Genres wie Zeichnung, Papierschnitt, Plastik, Fotografie, Schmuckgestaltung, Film und Illustration zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler an Museen und Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt eindrucksvoll. Um die Öffentlichkeit auf deren einzigartige Sammlungen aufmerksam zu machen und Künstlerinnen und Künstlern den Zugang dazu zu ermöglichen, hat die Kunststiftung in Kooperation mit dem Museumsverband Sachsen-Anhalt eine zweite Runde des in Deutschland einmaligen Projektes gestartet. Aus 88 Projektskizzen wurden dafür zehn für die Arbeit an zehn Häusern von Salzwedel im Norden bis Zeitz ganz im Süden ausgewählt. Gefördert wird das Programm durch die Kloster Bergesche Stiftung.

Die HEIMATREISE startete Anfang September im Johann-Friedrich-Danneil-Museum Salzwedel. Der Künstler Etienne Dietzel befasste sich mit der „wunderbaren“ Versetzung von Steinen, sogenannten Erratikern, die dort auftauchen, wo man sie nach ihrer Zusammensetzung nicht erwartet. Dietzel fotografierte Texturen von Steinen und legte diese auf ein computergeneriertes 3-D-Modell.

Nach Salzwedel folgte das Börde-Museum Burg Ummendorf. Das Interesse von Keramik-Künstlerin Julia Himmelmann galt der fruchtbaren Börderegion und der Geschlechterrolle der Frau. Ihre Eindrücke ließ sie in die Gestaltung keramischer Plastiken in leuchtender Farbigkeit und organischen Formen einfließen – humorvoll, erotisch und manchmal auch kritisch. Im Skulpturengarten des Museums stehen sie inmitten der Skulpturen, die während der Bildhauersymposien in den 1970er und -80er Jahren entstanden.

Im Museum Schloss Moritzburg Zeitz – es beherbergt das Deutsche Kinderwagenmuseum – beeindruckten Julia Schleicher Fatschenkinder, Püppchen en miniature als Abbild des Jesuskindes, gebettet in kleine Kästchen, verziert mit Schmuck – ein im mitteldeutschen Raum fast unbekanntes Kulturgut. Fast 100 Kleinplastiken aus unterschiedlichen Materialien sind entstanden, mehr oder weniger abstrahierte moderne Fatschenkinder.

Vor einer besonders herausfordernden Situation stehen die Regionalgeschichtlichen Sammlungen der Lutherstadt Eisleben. Es sind Sammlungen ohne Haus – verstreut an unterschiedlichen Standorten der Stadt. Gesichtet wurden sie von Thomas Jeschner. In „Pop-Up-Museen“ zeigte er Teile der Sammlung, z. B. in einem Café, im Büro des Bürgermeisters, im Einwohnermeldeamt. Parallel dazu führte er Interviews mit den Einheimischen zu Themen wie Heimat und Sammeln. Anknüpfend an die Tradition von Bergmanns-Umzügen im Mansfelder Land initiierte Thomas Jeschner einen Umzug durch die Stadt, bei dem Objekte aus den Depots in einen temporären Ausstellungsraum, den KulturRaum im Katharinenstift, verbracht wurden, wo sie zusammen mit Videoaufnahmen von den Interviews gezeigt wurden.

Im Frühjahr 2022 wird auf dem Areal des derzeit in Sanierung befindlichen Museums des KulturQuadrats Schloss Zörbig die Ausstellung BLÜTHGEN RELOADED zu sehen. Der Autor Victor Blüthgen und seine Frau zählen zu den berühmtesten ehemaligen Einwohnern der Gemeinde Zörbig. Beider Nachlass elektrisierte Lucie Göpfert. Die Kinderbuchillustratorin und -autorin beeindruckte Victor Blüthgens thematisch zeitlose Geschichten für Kinder. Sie machte es sich zur Aufgabe, einige davon leichter lesbar zu machen und heiter zu illustrieren.

Das ErlebnisZentrum Bergbau Röhrigschacht Wettelrode inspirierte Nora Mona Bach. Ihre Werke sind noch bis zum 13. Februar 2022 zu besichtigen. Die Künstlerin hat familiär eine enge Bindung an den Bergbau: Ihr Großvater arbeitete unter Tage. Oft erzählte er der Enkelin von seiner Arbeit. Diese Berichte flossen, neben den Erkundungen über und unter Tage, in schichtenweise aufgebaute Kohlezeichnungen ein. Dazu verwendete Nora Mona Bach neben Kohle auch Material, das eigens dafür aus dem Schacht geholt wurde. Außerdem rief sie alle Generationen auf, Erinnerungsstücke an den Bergbau für einen „Setzkasten der Heimat“ zur Verfügung zu stellen, um so die kollektive Erinnerung zu bewahren.

Am Museum für Naturkunde und Vorgeschichte Dessau arbeitete die Künstlerin Julia Rückert. Inspiriert durch seltene Tierarten oder ausgestorbene Eiszeitbewohner, schuf sie keramische Plastiken von Geschöpfen, bei denen sich durch Versetzen einzelner Formen neue Körper ergeben. Bei einem Kreativ-Wettbewerb rief sie Kinder dazu auf, eigene Wesen zu erschaffen. Rund 200 Bilder erreichten die Künstlerin, von denen sie einige in Ton formte. Den kleinsten Ausstellungsstücken – in Bernstein eingeschlossene Insekten – widmete Julia Rückert besondere Aufmerksamkeit und setzte sie in stark verpixelten Vergrößerungen als keramische Mosaike um. Noch bis zum 27. Februar 2022 sind ihre Arbeiten und die Zeichnungen der Kinder zu sehen.

Annette Funke unterzog im Salzlandmuseum Schönebeck die Bördetrachten eingehenden „Be-tracht-ungen“. Die einzigartige Kleidung, Tausendfaltenröcke und Schnabelhauben, entstanden im 19. Jahrhundert, als die Region durch Zucker reich wurde. In diesen alten Gewändern posierten Models und wurden fotografiert. Einige der Bilder wählte Annette Funke als Vorlagen für Papierschnitte. Sie stößt damit die Frage an: Was ist an Traditionen zeitgemäß, bewahrenswert? Der Besucher kann sich diesen Fragen bis zum 28. Februar 2022 stellen.

In die Dauerausstellung des Schlosses Lichtenburg Prettin – Museum und KZ-Gedenkstätte – wurde die Multimediainstallation von Petra Reichenbach integriert. Der Ort diente unter anderem als kursächsischer Witwensitz, später als KZ. Petra Reichenbach schuf eine Installation, die eine Brücke zwischen der Zeit der Renaissance und des Nationalsozialismus schlägt. Überlappende Gewebebahnen symbolisieren eine zeitgeschichtliche Überlagerung. Darauf finden sich großformatige Porträts von fünf Kurfürstinnen und fünf KZ-Insassinnen und QR-Codes, über die Informationen zu den Frauen abgerufen werden können.

Ein düsterer Ort deutscher Geschichte war Ausgangspunkt für Mareen Alburg Duncker. Sie arbeitete an der Gedenkstätte für Opfer der NS-„Euthanasie“ Bernburg. Dort wird an die massenhafte Ermordung von kranken, behinderten und sozial auffälligen Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus („Euthanasie“) erinnert. Nach intensiver Beschäftigung mit einigen Biographien schuf die Künstlerin für fünf der Ermordeten individuelle Gedenkschmuckstücke, Titel sind die Namen des jeweiligen Opfers. So erhalten diese Menschen ein Stück ihrer Würde zurück, die man ihnen vor 80 Jahren genommen hat. Die Objekte gehen als Dauerleihgabe in die Ausstellung ein.

http://heimatstipendium.kunststiftung-sachsen-anhalt.de/