Geburtswehen der deutschen Demokratie (4) Das humanistisch-progressive Werk der Deutschen Reichsverfassung scheitert am konterrevolutionären Starrsinn des preußischen Königs

Dezember 1848 bis April 1849: Wilhelm Loewe und Ludwig Schneider in der Endphase der Revolution

Dieter Horst Steinmetz | Ausgabe 2-2020 | Geschichte

Empfang der Kaiserdeputation in  Berlin am 1. April 1849,Lithographie von C. G. Lohse. Wikimedia Commons CC0 1.0, Bilder­revolution0428.jpg
Die Grundrechte des deutschen Volkes, Lithographie von Adolph Schroedter, Stadtarchiv Butzbach, Inv. Nr. Mappe 3 / Bl. 86,07, Institut für Geschichtliche  Landeskunde an der Universität Mainz e. V.; www.demokratiegeschichte.eu. https://t1p.de/j0ud
Es lebe die Bürgergarde zum Schutz der deutschen Verfassung, Lithographie1849, unbekannter Urheber. Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0, Bilderrevolution0080.jpg
Reichsgesetzblatt mit Reichsverfassung, Urheber unbekannt. https://t1p.de/vygl
Kaiserdeputation vor dem preußischen König, 3. April 1849., unbekannter Urheber. https://t1p.de/ovnm
Soll ich? Soll ich nich, Karikatur zur Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV., kolorierte Lithografie nach einer Zeichnung von Isidor Popper, in: Gisold Lammel, Majestätsbeleidigung. Die Hohenzollern in der Karikatur, Berlin 1998, Wikimedia Commons gemeinfrei, FrWIV-Karikatur-1849-Farbe.jpg.

Ende 1848 war die Kamarilla um den preußischen König dabei, weitere vollendete Tatsachen zu Ungunsten der Revolutionäre zu schaffen. Ludwig Schneider aus Schönebeck an der Elbe, der demokratische Abgeordnete der Preußischen Nationalversammlung zu Berlin, hatte sich mit anderen Abgeordneten nach der Vertreibung aus dem Berliner Mielentz’schen Saal[1] nach Brandenburg in den Dom, die aufgezwungene neue Parlaments-Tagungsstätte, begeben. Dort brachte er zusammen mit 75 linken Abgeordneten am 1. Dezember die Erklärung ein, dass sie „der Krone die Befugnis bestreiten, die National-Versammlung wider ihren Willen zu verlegen, zu vertagen oder aufzulösen.“[2] Letzteres geschah tatsächlich in der nächsten Sitzung: Am 5. Dezember 1848 wurde per königlichen Befehl der Rest der Konstituierenden Preußischen Nationalversammlung aufgelöst und eine von Friedrich Wilhelm IV. oktroyierte Verfassung erlassen. Eine ganze Reihe von liberalen Positionen waren in das Oktroi aufgenommen worden, um einer weiteren revolutionären Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ludwig Schneider kehrte als Bürgermeister nach Schönebeck an der Elbe zurück, wo ihm von den Einwohnern ein festlicher Empfang bereitet wurde.[3] Sein Freund Wilhelm Loewe aus Calbe harrte im Frankfurter Parlament, verbittert über die Machtlosigkeit der Volksvertreter und die „Gesetzlosigkeit“ der Konterrevolution, aus, immer noch bemüht, von den März-Errungenschaften zu retten, was möglich war. Immerhin traten die „Grundrechte des deutschen Volkes“ am 27. Dezember 1848 als Gesetz in Kraft.[4]

Zu Beginn des Jahres 1849 war offensichtlich, dass die Konterrevolution in den beiden größten und bedeutendsten Staaten des zu gründenden Deutschen Reiches, in Deutsch-Österreich und in Preußen, über die revolutionären Kräfte bereits gesiegt hatte. Die Frankfurter Verfassungsgebende Nationalversammlung stand im Januar 1849 noch immer kurz vor dem Erscheinen ihres wichtigsten Werkes, der „Deutschen Reichs-Verfassung“, in deren Erarbeitung sie so viel Mühe investiert hatte. Am 28. März wurde sie endlich verkündet. Es gab aber eine elementare, paradox erscheinende Frage: Wie sollte eine deutsche Reichsverfassung eingeführt werden, wenn es de facto kein deutsches Reich gab? Und Habsburg und die preußische Krone nicht im Entferntesten daran dachten, sich in ein solches Reich einzubringen und sich an eine Verfassung zu binden, die von einer Volksvertretung erarbeitet worden war?

Der Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung Wilhelm Loewe kennzeichnete seine Lage und die seiner Mit-Deputierten Ende 1848 als elend und sinnlos.[5] Wilhelm Loewe schrieb an Ludwig Schneider: „Welche traurige Erfahrungen haben wir machen müssen, wie niederschmetternd ist unser Vertrauen zum Volke getäuscht. Wie lähmend diese Vorgänge in Preußen auf das Selbstgefühl der ganzen liberalen Partei in Deutschland gewirkt hat, können Sie sich vorstellen. Viele haben den Muth ganz verloren, und haben einen Ekel, noch ein Mal die alten Wege zu betreten, die wir länger als ein Menschenalter gegangen sind.“[6]  In der letzten Phase der Revolution 1849 hielt Wilhelm Loewe fünf Reden in der Paulskirche, die sicherlich zu seinen bedeutsamsten gehören. Hervorzuheben ist der Beitrag vom 16. Februar, als es kurz vor Vollendung des „Verfassungswerkes“ darum ging, das allgemeine, geheime und gleiche Männer-Wahlrecht durchzusetzen und dabei erneut der parlamentarische Konflikt zwischen Linken und Rechten aufflammte. Letztere wollten wirtschaftlich Unselbstständige, die 1849 beispielsweise in Preußen fast 69 Prozent[7]  der männlichen Bevölkerung im Wahlalter ausmachten, vom Wahlrecht ausschließen.

In seiner eindringlichen Rede am 16. Februar machte sich Loewe zum engagierten Anwalt der „armen Klasse“. Es sei nicht nur sittliches Unrecht, die Nichtbesitzenden von der Teilnahme am Staatsgeschehen auszuschließen, sondern im praktischen Sinne auch geradezu gefährlich. Durch den Ausschluss der einfachen, arbeitenden Menschen „schaffen wir uns ebenso viele Feinde. Wir haben aber das größte Interesse, sie in den Staat aufzunehmen, um … ihnen die Überzeugung zu geben, daß ihrer Noth in diesem Staat, in der bestehenden Gesellschaft geholfen werden könne.“ Wenn die Menschen der Unterschichten nicht fühlten, dass sie Teilhaber dieses Staates seien, würde die „Auflösung und das Zusammenbrechen des Staates und der Gesellschaft sehr beschleunigt.“ Ein weiterer praktischer Gesichtspunkt sei der ökonomische. Nur durch die schöpferischen Kräfte von unten, durch die Arbeit könne ein Volk reich werden. Außerdem müsse man auch den sozialen Aspekt beachten, denn schließlich sei die gegenwärtige Revolution nicht nur eine politische, sondern auch eine soziale. Ein „moderner Staat“ brauche die Mitgestaltung aller. Und schließlich sollten die Abgeordneten auch daran denken, dass die Volksmassen die Kraft eines Stromes besäßen, um die bald vollendete Reichs-Verfassung gegen den Willen der Fürsten durchzusetzen. „Meine Herren, … seien Sie weise und verkümmern Sie den Strom nicht, machen Sie ihn nicht seicht, damit Ihr Schiff nicht auf dem Sand geht.“ Die Demokraten und Linksliberalen spendeten dieser Rede Wilhelm Loewes lebhaften Beifall.[8] Der Antrag der Rechten zur Ausschließung der unteren Volksschichten von den Wahlen wurde von der Mehrheit der deutschen Nationalversammlung verworfen und am 2. März ein demokratisches Wahlgesetz angenommen, das die Abgeordneten zusammen mit der deutschen Reichsverfassung am 27. März verabschiedeten. Nunmehr beinhaltete das Wahlgesetz die allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahl der Volksvertretung durch alle männlichen Bürger vom 25. Lebensjahr an.

Kurz vor der Vollendung des Verfassungs-Werkes debattierten die Frankfurter Abgeordneten noch einmal leidenschaftlich, als es um die Fragen nach dem Reichsgebiet und dem Reichsoberhaupt ging. Viele Demokraten, auch Wilhelm Loewe, setzten sich für ein „großdeutsches“ Reich unter Einschluss Deutsch- und Böhmisch-Österreichs ein. Als Befürworter der Volkssouveränität standen sie für eine parlamentarisch-demokratische Republik [9], während die gemäßigten Liberalen eine föderal strukturierte, konstitutionelle Monarchie mit einem Parlament und einem erblichen Kaiser anstrebten. Die meisten Liberalen setzten sich für ein „kleindeutsches“ Reich unter Ausschluss Österreichs mit dem preußischen König als Erbkaiser an der Spitze ein. Als der rechtsliberale Abgeordnete Carl Theodor Welcker am 12. März den Antrag stellte, dass die Verfassung ein kleindeutsches Reich mit einem preußischen Erbkaiser vorsehen sollte, fiel dieser Antrag durch.[10] Dass man sich doch noch für die Welcker-Variante entschied, ist einem Abkommen zwischen einem Teil der Demokraten unter Heinrich Simon und einem Teil der „erbkaiserlichen“ Liberalen unter Heinrich von Gagern zu verdanken. Die Gruppe der liberalen „Erbkaiserlichen“ unterstützte bei der Abstimmung das demokratische Wahlrecht, die Gruppe der Linken wiederum das von den Liberalen favorisierte Erbkaisertum („Simon-Gagern-Pakt“). An Ludwig Schneider, der seit dem 26. Februar 1849 als konsequent-demokratischer Abgeordneter in der Zweiten Kammer des Preußischen Landtags in Berlin saß, dem Nachfolge-Parlament der am 5. Dezember aufgelösten Preußischen verfassunggebenden Versammlung, schrieb Wilhelm Loewe: „So eben haben wir einen Kaiser gewählt, den König von Preußen mit 290 Stimmen, 248 haben sich der Wahl enthalten. Ich habe mitgewählt, habe auch für die Erblichkeit gestimmt … Wir haben auf diese Weise das … Wahlgesetz gerettet, aber sagt man hier, eben dadurch eine Verfassung geschaffen, die nicht angenommen werden wird. Jetzt ist die Sache an Ihnen und Ihren Freunden zu verhindern, daß die Sache nicht am monarchischen Eigensinn von Gottes Gnaden scheitere.[11]

Wilhelm Loewe hatte den Schritt Ludwig Schneiders, sich in die preußische Zweite Kammer wählen zu lassen, wärmstens unterstützt, weil er fühlte, „daß das Schicksal Deutschlands für die nächste Zeit in Berlin noch ein Mal zur Entscheidung kommen wird.[12] In der ersten Wahlperiode vom Februar bis April 1849 waren die Liberalen und Demokraten in der preußischen Zweiten Kammer noch in der Mehrzahl gegenüber den Konservativen, was ihnen erlaubte, die Kammer-Sitzungen zur Schaubühne für ihre Angriffe gegen die staatsstreichmäßig oktroyierte preußische Verfassung vom 5. Dezember zu machen.

Am 20. März 1849 trat Ludwig Schneider in Berlin ans Rednerpult der Zweiten Kammer und erklärte, warum das preußische Oktroi nicht anerkannt werden könne: Eine Abstimmung über die Verfassung vom Dezember habe nicht stattgefunden, weshalb sie vom Volk nicht angenommen sei. Frühere Gesetze dürften durch eine solche von der Krone erlassene Verfassung nicht abgeschafft werden. „Denn unmöglich können die Gesetze in constitutionellen Staaten einseitig aufgehoben werden.“ Die Krone sei durch das Recht des Volkes und nicht durch das des Absolutismus gebunden. „Das natürliche Recht der Völker ist, daß sie frei sind und sich selbst regieren“. Dieses „Naturrecht“ sei in Preußen „besiegelt am 18. März 1848.“ Ludwig Schneider warnte eindringlich vor dem Verzicht „auf die wesentlichsten Rechte des Volkes“.[13]

Wilhelm Loewe wurde von der Paulskirchen-Versammlung in die aus 32 Parlamentariern bestehende Delegation gewählt, die in Berlin dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone eines künftigen deutschen Reiches antragen sollte. Der Empfang der Abgesandten im Rittersaal des Königlichen Schlosses durch den König und die Hof-Kamarilla am 3. April[14]  fiel enttäuschend aus. Friedrich Wilhelm lehnte die Krone indirekt ab und betonte, sich darüber erst mit den anderen deutschen Fürsten absprechen zu müssen. Zugleich drohte er den „inneren Feinden“ mit dem „Schwert“. Später schrieb ein Delegations-Teilnehmer, der Demokrat Karl Biedermann, in seiner Erinnerung: „Die mühsame Arbeit eines Jahres, das Bollwerk unserer nationalen Zukunft, die Hoffnung und Sehnsucht von Millionen deutscher Herzen – das Alles sahen wir in diesem Momente in sich zusammenbrechen.[15]

Mit dieser Nichtannahme der Kaiserkrone und somit auch des Reichs-Verfassungswerkes löste Friedrich Wilhelm IV. in vielen Teilen des deutschen Volkes eine Welle der Empörung und die Reichsverfassungs-Kampagne aus.

In einem weiteren Artikel soll über die Auflösung des Preußischen Abgeordnetenhauses Ende April 1849 und über das „Stuttgarter Rumpfparlament“ unter seinem Präsidenten Wilhelm Loewe berichtet werden.

 

[1] Vgl. Steinmetz, Dieter Horst, Geburtswehen der deutschen Demokratie (3) Sachsen-Anhalt-Journal für Natur- und Heimatfreunde, 28. Jg. 2018, Nr. 1, S. 17

[2] Verhandlungen der constituirenden Versammlung für Preußen, [102. Sitzung am 1. 12. 1848], Bd. 8, Berlin 1848, S. 5485.

[3] Brief Wilhelm Loewes an Ludwig Schneider vom 10. 12. 1848 (Kopie im Besitz der Heimatstube Calbe/S.).

[4] Am 23. August 1851 wurden sie laut „Bundesbeschluss“ der siegreichen Konterrevolution für null und nichtig erklärt, bildeten aber die Rezeptions-Basis für die späteren deutschen Verfassungen von 1871 und 1919 sowie für das „Grundgesetz“ von 1949.

[5] Brief Wilhelm Loewes an Ludwig Schneider vom 10.12.1848 (Faksimile im Besitz der Heimatstube Calbe/Saale).

[6] Ebd.

[7] Botzenhart, Manfred: Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848 –1850, Düsseldorf 1977, S. 666.

[8] Für die direkten und indirekten Zitate zu der Rede am 16.2.1849: Wigard, Stenographischer Bericht… [171. Sitzung in der Paulskirche am 16.2.1849], Bd. 7, Frankfurt/M.
1849, S. 5242ff.

[9] In fast allen seinen Reden postulierte Loewe die Losung: „Einheit in Freiheit“; ein Deutsches Reich als parlamentarische Demokratie auf der Basis demokratischer Grundrechte.

[10] 283 Stimmen der Demokraten (mit denen auch Loewe stimmte) und der konservativen Rechten gegen 252 Stimmen der liberalen Mitte.

[11] Brief Wilhelm Loewes an Ludwig Schneider vom 27. 3. 1848 (Faksimile im Besitz der Heimatstube Calbe/Saale).

[12] Ebd.

[13] Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch das Allerhöchste Patent vom 5. Dezember 1848 einberufenen Kammern – Zweite Kammer [12. Sitzung am 21. 3. 1849], Berlin 1849, S. 182 f. [Permalink: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10517732-5] Noch in der gleichen Debatte am 20. März wurde vom rechtsliberalen Abgeordneten Georg von Vincke eine Erklärung von 300 Urwählern aus Calbe und von 15 (von 18) Wahlmännern aus Aken verlesen, die von ihrem Abgeordneten Schneider verlangten, für die oktroyierte Verfassung zu stimmen. Diese öffentliche Desavouierung hat Schneider lange Zeit nicht verwunden. Ebd., S. 210. Vgl. Briefe Adolph Nicolais an Ludwig Schneider vom 20. 9., 6. 9., undatiert September 1859, Brief Schneiders an Nicolai vom 6.9.1859 (Originale im Besitz der Heimatstube Calbe/Saale).

[14] Die endgültige Absage erfolgte per königlicher Adresse am 28. April 1849.

[15] Biedermann, Karl: Aus jüngstvergangenen Tagen – Die Frankfurter Kaiserdeputation im Jahre 1849. In: „Die Gartenlaube“, Leipzig 1863, S. 571 f.