Stürmische Zeiten vor einem Jahrhundert.
Der Freistaat Anhalt im Jahr 1920
Ralf Regener | Ausgabe 2-2020 | Geschichte
Der Große Krieg war seit über einem Jahr beendet. Die politischen Rahmenbedingungen Deutschlands wurden einmal komplett auf den Kopf gestellt. Es gab keinen Kaiser mehr, das erst vor einem halben Jahrhundert gegründete Reich war untergegangen, alte Verbindungen brachen auf und bekannte Strukturen verschwanden. Die Zeit nach der Niederlage des Deutschen Kaiserreichs im Herbst 1918 war deshalb nicht nur davon geprägt, die unmittelbaren Kriegshinterlassenschaften, wie Nahrungsmittelmangel, Unterversorgung und Demobilisierung der Soldaten, zu bewältigen, sondern auch nach neuer Struktur und Orientierung für die künftige politische und gesellschaftliche Zusammensetzung des Staates zu suchen.
Wie überall in Deutschlands wurden diese Phänomene auch in Anhalt von großen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen und Milieus begleitet und nicht selten gewaltsam ausgetragen. War das Jahr 1919 in Anhalt noch größtenteils davon geprägt, auf Basis von Kompromissen das neue Gemeinwesen zu konstituieren – als Höhepunkt wäre die Verabschiedung der demokratischen Landesverfassung am 18. Juli zu nennen – so zeigten sich besonders im Jahr 1920 die elementaren Konfliktlinien des anbrechenden Jahrzehnts. Hielten die Wahlergebnisse der Jahre 1918 und 1919 für Anhalt und das Deutsche Reich insgesamt gute bis sehr gute Ergebnisse für die Parteien der Weimarer Koalition (SPD, linksliberale DDP und katholisches Zentrum) bereit und ließen damit vorübergehend auf eine breite Basis für die demokratische Verfasstheit das Staats schließen, zeigte sich 1920, wieviel Potenzial die politischen Ränder doch hatten und das von links wie von rechts Gefahr für die neue Weimarer Ordnung drohte.
Im März 1920 wurde die Bedrohung aus dem rechten Spektrum akut. Der Kapp-Lüttwitz Putsch, benannt nach dem Verwaltungsbeamten Wolfgang Kapp (1858-1922) und dem General Walther Freiherr von Lüttwitz (1859-1942), war ein letztlich erfolgloser, aber nichtsdestotrotz ernst zu nehmender Versuch einiger prominenter Vertreter des deutschnationalen Lagers, die bestehende Ordnung zu stürzen und an deren Stelle eine autokratische Regierung zu etablieren. Als der Putschversuch in Anhalt bekannt wurde, fanden die linken Parteien in vielen Orten relativ schnell eine gemeinsame Basis. Nachdem die Dessauer Arbeiter einen Generalstreik begonnen hatten, fand man sich im Tivoli, dem traditionellen Lokal der Sozialdemokraten, zusammen und wählte paritätisch zusammengesetzt aus MSPD, USPD und KPD einen Streikaktionsausschuss. Bis auf wenige Ausnahmen hatten die Putschisten auch in bürgerlichen Kreisen keine aktive Unterstützung. Die anhaltischen Verfassungsorgane, Staatsrat und Landtag, beides geprägt von einer SPD/DDP-Koalition bzw. –Mehrheit, traten geschlossen für die Legitimität der demokratisch gewählten Reichsregierung ein. Einzige Ausnahme blieb der DNVP-Landtagsabgeordnete Hugo Jäntsch, der sich durch Verlassen des Landtags einer gegen den Putsch gerichteten Abstimmung entzog.[1]
Eindeutige Aktionen erfolgten dagegen von einzelnen Militärs. Der Dessauer Rechtsanwalt und Leutnant des örtlichen Zeitfreiwilligen-Regiments Bernhard Heine erklärte gegenüber Bürgermeister Fritz Hesse (DDP, 1881-1971) seine Sympathien für die Putschisten.[2] Als ihm von Seiten Hesses jedoch die Unterstützung versagt blieb, ging Heine anschließend mit mehreren Soldaten zum Ministerpräsidenten Heinrich Deist (SPD, 1874–1963). Dieser sollte Neuwahlen veranlassen und Vertreter rechter Parteien in die Regierung aufnehmen. Letztlich fehlte dieser unüberlegten Aktion eine breite Basis. Bernhard Heine wurde wenig später verhaftet.
Nicht so glimpflich verlief das Agieren des Regimentskommandanten Oberst Voigt in Dessau. Als der Putsch bereits vorüber war, demonstrierten einige Arbeiter vor dem Redaktionsgebäude der Anhaltischen Rundschau, einer lokalen, deutschnational gesinnten Zeitung, die positiv über die Putschisten und deren Vorgehen in Berlin berichtet hatte. Auf Befehl von Oberst Voigt griffen Soldaten eines Zeitfreiwilligenverbandes ein und eröffneten das Feuer auf die Demonstranten. Am Ende waren fünf Tote zu beklagen.[3]
Die mit dem Kapp-Putsch zusammenhängenden Unruhen forderten auch in Köthen ein Menschenleben. Beim Zusammenstoß von örtlichen Zeitfreiwilligen und aufgebrachten Arbeitern wurde der Schlosser Jakob erschossen.[4] Zwar gab es in Bernburg keine blutigen Auseinandersetzungen, jedoch sahen es dortige Arbeiter nach Beruhigung der Lage vor Ort als ihre Pflicht an, andere Genossen zu unterstützen. Da in Halle die Situation viel angespannter war und sie ein Übergreifen auf Anhalt befürchteten, fuhren bewaffnete Bernburger Arbeiter ins benachbarte Preußen. Diese Aktion kostete schließlich fünf von ihnen das Leben.[5]
Die Erfolglosigkeit dieses Putsches darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der dahinterliegende Konflikt keineswegs ausgestanden war. Mitverantwortlich war die drastische Reduzierung des deutschen Heeres nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags, was viele bisherige Berufssoldaten perspektivlos hinterließ, die nicht selten anfällig für extremes Gedankengut waren. Symptomatisch dafür ist, dass die verbliebene Reichswehr nicht bereit war, gegen die ehemaligen Kameraden vorzugehen. Der Putsch konnte nur beendet werden, als sich die Ministerialbürokratie fast durchgehend weigerte, den Befehlen von Kapp und Lüttwitz Folge zu leisten.
Letztlich zeigte dieser Vorfall, dass extreme Ansichten verstärkt in der Bevölkerung Resonanz fanden und die politischen Ränder einflussreicher wurden. Dazu passend ist das Ergebnis der anhaltischen Landtagswahlen vom 6. Juni 1920. Die Regierungskoalition aus SPD und DDP, die bis dahin über eine außerordentlich komfortable Mehrheit von 34 von insgesamt 36 Mandaten verfügte, musste herbe Verluste hinnehmen. Das entsprach dem allgemeinen deutschen Trend, die zeitgleich abgehaltenen Reichstagswahlen waren gekennzeichnet von starken Stimmeneinbußen der Weimarer Koalition aus SPD, DDP und Zentrum. In Anhalt spielte das Zentrum grundsätzlich eine sehr untergeordnete Rolle. Die SPD kam auf 35,8 Prozent, was 13 Landtagssitze bedeutete. DDP, DNVP und USPD konnten ähnliche Wahlergebnisse erzielen und kamen jeweils auf sechs Abgeordnete. Die DVP schickte schließlich fünf Vertreter ins Parlament. Die regierenden Mehrheitssozialdemokraten hatte damit die Möglichkeit, sowohl mit der DDP als auch mit den Genossen von der USPD eine Koalition einzugehen. SPD und DDP verband ein vertrauensvolles und sachorientiertes Arbeitsklima, bestätigt von nicht wenigen Erfolgen der Regierungsarbeit. Gleichzeitig war das Verhältnis zwischen SPD und USPD in Anhalt weniger angespannt als in anderen Ländern – erkennbar daran, dass zu bestimmten Anlässen, beispielswiese bei den Maßnahmen gegen den Kapp-Putsch, konstruktiv zusammengearbeitet werden konnte. Auch das Verhältnis der Parteiübertritte bei der endgültigen Auflösung der USPD ist bezeichnend. Im Jahr 1922 wechselten fünf der sechs USPD-Landtagsabgeordneten zur SPD zurück, nur einer schloss sich der KPD an.[6] Schlussendlich entschied sich die SPD nach der Landtagswahl von 1920 für eine Weiterführung der Koalition mit der DDP. Zum einen konnte man auf die bisherige erfolgreiche Zusammenarbeit verweisen. Zum anderen machte man deutlich, dass man unbedingt verfassungstreu bleiben wolle und keine Minderheitendiktatur oder Klassenherrschaft anstrebe. Zumindest die Rhetorik der USPD schloss diese Optionen in Extremfällen nicht aus.[7]
Lediglich Episode blieb die sogenannte Köthener Räterepublik. In der Nacht vom 21. August 1920 besetzte eine Gruppe von Kommunisten erst die Polizeiwache und anschließend das Rathaus, die Post, das Gefängnis und den Bahnhof. Da die Aktion von einem Spitzel frühzeitig verraten wurde, dauerte es auch nicht lange bis eine Reichswehreinheit aus Dessau eintraf und den Putsch schon am folgenden Nachmittag beendete. Die Anführer wurden verhaftet und vor Gericht gestellt.[8]
Will man die Ereignisse im Jahr 1920 im Freistaat Anhalt schlussendlich mit denen im Deutschen Reich vergleichen, so fügt sich der Kapp-Putsch bei allen regionalen Besonderheiten doch sehr gut in das gesamtdeutsche Bild ein. Die Wahlen zum Land- bzw. Reichstag, die zeitgleich am 6. Juni stattfanden, kannten dagegen ganz unterschiedliche Ergebnisse und Folgen. Wie beschrieben, wurde die SPD/DDP-Koalition unter Ministerpräsident Deist weitergeführt, hielt bis zur nächsten Wahl 1924 und brachte dem Land eine relativ große Stabilität. Die Reichstagswahl kannte dagegen mehr Verlierer als Gewinner. Die Weimarer Koalition büßte ihre Mehrheit ein, nach langen Verhandlungen wurde eine Minderheitsregierung mit dem Reichskanzler Constantin Fehrenbach (Zentrum, 1852-1926) gebildet. Diese hatte nur ein knappes Jahr Bestand. Es folgten weitere sechs Kabinette bzw. vier weitere Reichskanzler bis zur nächsten Wahl 1924. Ein Umstand der zur Beruhigung der gesamtdeutschen Situation sicher nicht beitrug.
[1] Vgl. Günter Ziegler: Parlamentarismus in Anhalt 3: Die anhaltischen Land- und Reichstagsabgeordneten zwischen 1918 (1919) und 1933, Dessau 1995, S. 27.
[2] Vgl. Fritz Hesse: Erinnerungen an Dessau, Bd. 1: Von der Residenz zur Bauhausstadt, 3. Aufl., Dessau 1995, S. 145 f.
[3] Vgl. Bernd G. Ulbrich: Dessau im 20. Jahrhundert, Halle (Saale) 2013, S. 98.
[4] Vgl. Kreiskommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung (Hg.): Zur Geschichte der deutschen Novemberrevolution 1918 im Kreise Köthen, Köthen 1958, S. 32.
[5] Vgl. Kreisleitung der SED Bernburg (Hg.): Die Novemberrevolution 1918. Beiträge aus der Geschichte der Arbeiterbewegung des Kreises Bernburg, Bernburg 1958, S. 74 ff.
[6] Vgl. Ziegler: Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 8.
[7] Vgl. Torsten Kupfer: Sozialdemokratie im Freistaat Anhalt 1918-1933, Weimar u. a. 1996, S. 80.
[8] Vgl. Kreiskommission: 1919 im Kreise Köthen (wie Anm. 4), S. 33.