Karl Marx – Revolutionär. Anlässlich seines 200. Geburtstages
von Christian Kuhlmann | Ausgabe 3-2018 | Geschichte
1848 war ein turbulentes Revolutionsjahr in Europa. Als Fanal wirkte dabei der Umsturz in Frankreich im Februar, über den Heinrich Heine (1797 – 1858) aus Paris für die Augsburger Allgemeine Zeitung am 3. März 1848 folgenden Bericht erstattete: „Ich habe Ihnen über die Ereignisse der drei großen Februartage noch nicht schreiben können, denn der Kopf war mir ganz betäubt. Beständig Getrommel, Schießen und Marseillaise. Letztere, das unaufhörliche Lied sprengte mir fast das Gehirn und ach! das staatsgefährlichste Gedankengesindel, das ich dort seit Jahren eingekerkert hielt, brach wieder hervor. […] Der welsche Teufelsgesang überdröhnte in mir alle bessern Laute. Ich fürchte die dämonischen Freveltöne werden in Bälde auch Euch zu Ohren kommen und Ihr werdet ebenfalls ihre verlockende Macht erfahren.“ ‚Staatgefährliches Gedankengesindel‘, ‚welscher Teufelsgesang‘, ‚dämonische Freveltöne‘ und die ‚verlockende Macht‘ – für Heine sind die revolutionären Ereignisse im Pariser Februar 1848 mehr als nur „Universalanarchie“, sie sind eine Art Vorhölle. Ein entfernter Verwandter und langjähriger Freund Heines wird beinahe zeitgleich pathetisch proklamieren: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“ Die „alten Mächte Europas“ veranstalteten eine „heilige Hetzjagd“ auf dieses Gespenst. Und nicht nur das: „[D]ie moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor.“ Keine Frage: Die Welt geriet aus den Fugen. Während aber Heine die Ereignisse deutete, reagierte Karl Marx (1818 – 1883), rhetorischer Barrikadenkämpfer des Manifestes der Kommunistischen Partei (1848), mit revolutionärem Impetus, getreu seiner später formulierten Devise: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an sie zu verändern.“[1] Dieser Wille zur Veränderung zeichnete nicht nur sein theoretisches Denken und politisches Handeln aus, sondern sollte auch diverse Revolutions-, Reform- und Protestbewegungen des 20. Jahrhunderts inspirieren.
Diese einzigartige, weltweite Rezeption von Marx’ Werk mag sich aus seiner besonderen Eigentümlichkeit erklären. Denn weltveränderndes Denken und politisches Engagement, Elfenbeinturm und ‚Niederungen des Alltags‘ sind für einen Philosophen des 19. Jahrhunderts eine besondere Konstellation. Dabei verlief sein Leben zunächst in den damals für einen ‚Gelehrten‘ üblichen Bahnen[2]: Am 5. Mai 1818 in Trier geboren, erfolgte nach dem Besuch des dortigen Gymnasiums und einem kurzen Bonner Studienaufenthalt (1835 – 36) der Abschluss des Studiums in Berlin mit einer Dissertation über die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie.[3] Was sich nach einem Spezialbeitrag auf dem Gebiet der griechischen Atomistik anhört (denn beide Naturphilosophen weisen Unterschiede auf, „die […] so versteckt sind, daß sie gleichsam nur dem Mikroskope sich entdecken“), entwickelte zugleich einen neuen Wirklichkeitsbegriff, der für den späteren Materialismus wichtig werden wird.[4] Dass indes diese Beschäftigung mit ‚der‘ Wirklichkeit als Ausgangspunkt des Philosophierens programmatisch ist, zeigt sich auch an den journalistischen Kommentaren, die Marx für die Rheinische Zeitung, deren Chefredakteur er im Oktober 1842 wurde, im Hinblick auf die Debatten über die „Preßfreiheit“, das „Holzdiebstahlsgesetz“ und den „Ehescheidungsgesetzesentwurf“ verfasste. Nachdrücklich rückte er etwa in den Debatten über die Pressefreiheit die Idee der Freiheit überhaupt in den Mittelpunkt: „Freiheit bleibt Freiheit, drücke sie sich nun in der Druckerschwärze, oder in Grund und Boden, oder im Gewissen, oder in einer politischen Versammlung aus.“ Diese Schärfe der durch und durch demokratischen Einlassungen bedingte u. a. das Verbot der Zeitung, illustriert mithin seinen jahrelangen Konflikt mit der in Preußen ‚herrschenden‘ Realität. Solchermaßen zur Übersiedlung nach Paris gezwungen, fanden die entscheidenden Weichenstellungen statt, sowohl im Hinblick auf sein theoretisches Interesse an der Ökonomie als auch bezogen auf seine Verwandlung in einen Kommunisten.[5] Die Begriffe seiner Theorie – Kapital, Geld, Privateigentum (an Produktionsmitteln), Entfremdung, Produktivkräfte etc. – wurden hier geprägt, und das alles in einem speziellen Marx-Sound, der rhetorische Klarheit, Prophetie, revolutionären Furor, Stringenz und argumentative Prägnanz miteinander verbindet. Wenn er etwa in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 den Entfremdungsbegriff im Gegensatz zu seiner vormaligen Verwendungsweise auf die Arbeit bezieht, klingt das so: „Der Arbeiter fühlt sich […] erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus.“ Eine Verkehrung des Verhältnisses: „[D]er Arbeiter [fühlt sich] nur mehr in seinen tierischen Funktionen, Essen, Trinken und Zeugen, höchstens noch Wohnung, Schmuck etc. als freitätig und in seinen menschlichen Funktionen nur mehr als Tier“, d. h., dass der Arbeiter gleichsam tierisch „seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert.“ Diese Entfremdung vom Akt der Produktion, die gewissermaßen diejenige von den hervorgebrachten Produkten flankiert, gilt auch für den Menschen als Mensch: Sein eigentümliches „Wesen“, die „bewusste Lebenstätigkeit“, sei nur mehr „Mittel für seine Existenz“, die zum Hauptzweck wird – also bloße Selbsterhaltung wie beim Tier. Wenn der Mensch dergestalt von seinem „Gattungs-wesen“ entfremdet ist, so auch von anderen Menschen: „Was von dem Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit, zum Produkt seiner Arbeit und zu sich selbst, das gilt von dem Verhältnis des Menschen zum andren Menschen, wie zu der Arbeit und dem Gegenstand der Arbeit des andren Menschen.“ Es ist dieser sprachlichen Vehemenz – wie sie sich auch im bereits erwähnten Kommunistischen Manifest artikuliert – zu verdanken, dass sein neues, meinungsstarkes Publikationsprojekt abermals eingestellt werden musste: die Neue Rheinische Zeitung (1848/49). Marx, nachdem er Paris verlassen und ab 1845 in Brüssel gelebt hatte, siedelte 1848 nach Köln über und begleitete publizistisch die demokratische Bewegung. Die Position der Zeitung war dabei klar, trug sie doch den Zusatztitel Organ der Demokratie. Wie allerdings schon Jahre zuvor ließ die ‚Reaktion‘ nicht lange auf sich warten. Per „Regierungswisch“, wie es Marx in der letzten Ausgabe vom 19. Mai 1849 formulierte, wurde dem „Redakteur en chef, dem Dr. Karl Marx, das Gastrecht (!), welches er so schmählich verletzt“ entzogen. Der Vorwurf: „Aufreizung zur Verachtung der bestehenden Regierung, zum gewaltsamen Umsturz und zur Einführung der sozialen Republik.“ Der aufgrund solcher Repressionen schon zuvor staatenlos Gewordene geht ins Exil, nach London, wo sein theoretisches Hauptwerk entstehen wird: Das Kapital.
Dabei bilden die revolutionären „Klassenkämpfe“, so die marxistische Terminologie, zunächst eine vorzügliche Reflexionsgrundlage, wie es die Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon (1852) zeigt. „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ – hier sind es noch die etwas verschwommenen ‚Umstände‘, die den Menschen ‚machen‘, bald darauf wird klar, dass es das ökonomisch bedingte „gesellschaftliche Sein“ ist, welches „das Bewusstsein bestimmt“, demgemäß die Produktionsweise bzw. das materielle Leben den gesamten „Lebensprozess“ festlegt. Diese materialistische Auffassung wendet den Blick auf das – phänomenologisch – Vorgefundene, ein philosophiegeschichtlicher Bruch mit dem Idealismus. Wie ehedem bei der Dissertation wird dasselbe nun ‚unter dem Mikroskope‘ zergliedert. Im Kapital heißt es anfangs: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warenansammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.“ Die Ware habe einen Gebrauchswert, sie befriedige konkrete und individuelle Bedürfnisse. Das kann man sich mithilfe eines einfachen Beispiels klarmachen: Ein Stift etwa befriedigt mein Bedürfnis zu schreiben. Obwohl ich tagtäglich schreiben muss, kann es passieren, dass Stifte teurer werden, d.h. die Ware hat neben ihrem Gebrauchswert auch einen abstrakten, gesellschaftlich vermittelten Tauschwert, der sich losgelöst von unseren je eigenen Bedürfnissen darstellt. Von dieser grundlegenden Einsicht in den Doppelcharakter der Ware leitet sich alles Weitere her: der Begriff der Arbeit, die Wertform, der Fetischcharakter der Ware, das Geld und Kapital, der Mehrwert usw. – eine epochale und bezwingende Analyse unserer ökonomischen Realität, die fortwährend ihre Anhänger gefunden hat. Manches freilich bleibt ob des dogmatischen Wahrheitsanspruches diskutabel.[6]
Gleichwohl wurde Marx vor allem im 20. Jahrhundert zum politischen Autoritätsargument, seine Gedanken blieben so wirkmächtig, dass vorgebliche Revolutionäre auf der ganzen Welt ihn als Bürgen für ihre neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung anführten. Diktaturen wurden legitimiert, Menschheitsverbrechen begangen. Der von ihm prognostizierte Untergang des Kapitalismus realisierte sich nicht, auch das Paradies auf Erden ist noch nicht erreicht. Dennoch hat die Kohärenz seiner Analyse, die Glaubwürdigkeit seines revolutionären Engagements dazu geführt, dass er nichts an Aktualität eingebüßt hat. Immer noch wird er gelesen, bleibt Autorität für die politische Linke und auch ‚Kult‘. Mittlerweile ist so auch ein neues Stadium seines revolutionären Wirkens erreicht: Es gibt nun nicht mehr nur Marx-Denkmäler, sondern auch Marx-Fassaden, Marx-Schlüsselanhänger, Marx-Tassen, Marx-Spardosen, Marx-Ampelmännchen etc. – zu hoffen bleibt indes, dass es bei all dieser zuweilen skurrilen Aneignung immer auch noch Leser geben wird, die sich seines revolutionären Werkes widmen.
[1] So in den Thesen über Feuerbach.
[2] Einige Biographien geben einen genauen Einblick in den Werdegang: Jürgen Neffe: Marx. Der Unvollendete. München 2017; Rolf Hosfeld: Karl Marx: Philosoph und Revolutionär. München 2018; Gareth Stedman Jones: Karl Marx. Die Biographie. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn. Frankfurt/Main 2017; Wilfried Nippel: Karl Marx. München 2018; Wolfgang Korn: Karl Marx: Ein radikaler Denker. München 2018. Darüber hinaus gibt es im Jubiläumsjahr diverse neue Publikation zu Spezialthemen seines Lebens und Werkes.
[3] Eine Absenzpromotion durch die Universität Jena.
[4] Vgl. hierzu im Einzelnen Andreas Arndt: Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie. 2., durchgesehene und um ein Nachwort erg. Aufl. Berlin 2011, insb. Kap 1: Theoriebildungsprozess bei Marx bis 1846. indem das Verhältnis von Idee und Wirklichkeit, Notwendigkeit und Zufall neu bestimmt wird.
[5] Vgl. Jürgen Neffe: Marx, S. 113.
[6] Eine Anleitung zur Kapital-Lektüre hat für die Wochenzeitschrift „Die Zeit“ Gero von Randow verfasst, in der auch seine früheren Lektüreerfahrungen einer kritischen Prüfung unterzieht, vgl. Gero von Randow: So kommen Sie durchs „Kapital“. In: „Die Zeit“ 5 (2017), abrufbar unter: https://www.zeit.de/2017/05/karl-marx-das-kapital-kapitalismus (Zugriff: 20. 07. 2018).