Vom „Altmärkischen Bauernhof“ zum Freilichtmuseum Diesdorf

von Jochen Alexander Hofmann | Ausgabe 3-2018 | Volkskunde

Peter Fischer - Richtfest Eversdorfer Pferdestall 1982. © Freilichtmuseum Diesdorf
Altmärkischer Bauernhof ca. 1932, Dr. Georg Schulze (mi.) führt Besucher. © Freilichtmuseum Diesdorf
In den Ausstellungshäusern. © Matthias Behne, behnelux.de
Im Freilichtmuseum, Blick auf den Mitteldeutschen Vierseithof. © Matthias Behne, behnelux.de
In den Ausstellungshäusern. © Matthias Behne, behnelux.de

Im Nordwesten der Altmark, dem so genannten Hansjochenwinkel, liegt eines der ältesten Museumsdörfer Deutschlands, das Freilichtmuseum Diesdorf. Seine Gründungsgeschichte ist rasch erzählt: Im Mai 1911 hatte sich in Diesdorf ein „Wohlfahrtsverein“ gebildet, der von der Pfarrgemeinde ein öd liegendes, sumpfiges Gelände am Ortsrand aufkaufte, dort einen verschütteten Klosterteich wieder ausheben ließ, und im Juli 1911 eine moderne Freibadeanstalt eröffnen konnte. Sogleich wandten sich die Vereinsmitglieder ihrem zweiten Vorhaben zu, der Errichtung eines Heimatmuseums in Form eines typisch altmärkischen Bauernhofes, bestehend aus einem Niederdeutschen Hallenhaus (Längsdielenhaus) und Nebengebäuden. Bereits 1912 konnte ein Backhaus (Backhus) umgesetzt werden; 1913 folgte ein Speichergebäude (Spieker), und auch ein Bauernhaus (Burhus) war schon auserkoren, als der Erste Weltkrieg den Aufbau des Museums ins Stocken brachte. Das durch geschicktes fundraising eingeworbene Kapital schmolz in der Inflationszeit dahin. So konnte erst 1927 ein Hallenhaus aufgekauft und auf das Vereinsgelände transloziert werden; 1932 wurde der Altmärkische Bauernhof schließlich eröffnet.[1]

Als spiritus rector des Museumsprojektes wirkte der in der Gegend um Diesdorf bis heute als Dokters Voader verehrte Dr. Georg Schulze (1866 – 1955). Der in Leetze bei Salzwedel geborene Mediziner hatte nach dem Studium in Berlin und München auf eine akademische Karriere verzichtet und war als Landarzt in die Altmark zurückgekehrt – aus Heimatliebe, wie es heißt.[2]

Täglich in engem Kontakt mit der bäuerlichen Bevölkerung, konnte er die Symptome der Modernisierung unmittelbar beobachten: Veränderungen in der Bekleidungsweise, den Ernährungsgewohnheiten, den Bräuchen im Jahres- und Lebenslauf, am auffälligsten aber wohl in der ländlichen Architektur. Die Niederdeutschen Hallenhäuser, die einst die Kulturlandschaft der nordwestlichen Altmark geprägt hatten, verschwanden im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends aus den Dörfern – staatliche Bauvorschriften, Intensivierung der Landwirtschaft und gestiegene Ansprüche an den Wohnkomfort spielten hier zusammen. Wo früher Längsdielenhäuser standen, wurden nun repräsentative Wohnhäuser, gerne im historistischen Stil, errichtet.[3]

Georg Schulze interpretierte diesen Wandel als Niedergang einer ursprünglichen Bauernkultur,[4] der zugleich einen Verlust an Heimat bedeute. Deutlich wurde dies schon in der ersten Werbebroschüre des Wohlfahrtsvereins vom September 1912. Alles, „was einem die Heimat so lieb macht“, verschwinde zusehends, hieß es darin: soziale Bindungen, sprachliche und kulturelle Eigenheiten, nicht zuletzt die tradierten Bauformen. „Durch neue Bauweise, die z. T. garnicht in die Landschaft, in’s Dorf paßt, wird alles verflacht, die Heimat hat nichts Besonderes mehr. Damit schwindet auch bei vielen das Sichhingezogenfühlen, die Liebe zur alten Heimat, sie ziehen fort kommen nicht wieder.“ [5] Eine pessimistische Diagnose, mit der die Diesdorfer Museumsgründer in ihrer Zeit nicht alleine standen. Sie entsprach dem Zeitgeist der Heimatbewegung, der sich seit den 1870er Jahren in der Gründung von Verschönerungs- und Heimatvereinen,[6] von Museen und Heimatstuben niederschlug.[7] Man blickte dabei nicht nur in die Vergangenheit, sondern wollte die zukünftige Entwicklung der Heimat aktiv gestalten.[8] Eine Haltung, die sich auch bei Georg Schulze noch Ende der 1930er Jahre findet: „Sinn und Zweck dieses Heimatmuseums soll es nun nicht sein,“ formulierte er, „dem Gewesenen dienende und dem Leben abgewandte Einrichtungen und Altertümer zu sammeln, sondern das wieder zur Geltung zu bringen, was der Erhaltung und Erinnerung wert ist.“[9]

Die Diesdorfer Museumsgründung darf als frühe Adaption der Skansen-Idee [10] in Deutschland allerdings einen besonderen Rang beanspruchen: dem 1899 translozierten Osterfelder Bauernhaus bei Husum waren 1907 das Altfriesische Haus in Keitum, das Dithmarscher Bauernhausmuseum im Meldorf und das Heidemuseum Wilsede, 1910 das Ammerländer Bauernhaus in Bad Zwischenahn und 1911 schließlich der Altmärkische Bauernhof in Diesdorf gefolgt.[11] Georg Schulze orientierte sich also an einem für seine Zeit überaus innovativen Museumskonzept. Zudem betonte er den Stellenwert der Bildungsarbeit und sah die Jugend als wichtigste Zielgruppe des Heimatmuseums an.[12]

Der Erfolg des Museums gab ihm offenbar Recht: das Gästebuch enthält nicht nur Einträge von Altmärkern, sondern von Besuchern aus ganz Deutschland. Zudem geht daraus hervor, dass das Museum während der gesamten Kriegs- und Nachkriegszeit geöffnet blieb.[13] Spätestens Anfang 1946 interessierte sich freilich die neue politische Führung für den Altmärkischen Bauernhof; der Wohlfahrtsverein wurde dem Kulturbund angegliedert und 1949 aufgelöst.[14] Die Gemeinde Diesdorf übernahm zunächst das Vereinsgelände; 1952 wurde das Museum vom Freibad getrennt und dem Kreis Salzwedel unterstellt, der es dem Salzwedeler Danneil-Museum angliederte.[15]

Eine neue Ära brach an, als 1970 der junge Museologe Peter Fischer (1943 – 1996) die Leitung der Kreismuseen übernahm. Unter seiner Leitung wuchs das Museum von drei auf 17 Gebäude, und die Besucherzahlen stiegen von 3.000 auf über 20.000 im Jahr.[16] Zudem stellte Peter Fischer, der zwischen 1974 und 1977 noch ein Fernstudium der Ethnographie absolvierte, die Museumsarbeit auf wissenschaftliche Grundlagen.[17] Aufgabe des Freilichtmuseums sei, „die Entwicklung der Volkskultur vom 16./17. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in charakteristischen und annähernd original eingerichteten Wohn- und Wirtschaftsgebäuden (…) darzustellen.“[18] Sein 1975 erstmals formuliertes, bis in die 1990er Jahre mehrmals modifiziertes Konzept zur Zukunft des Freilichtmuseums sah die Errichtung von insgesamt 36 Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, angeordnet zu neun sozialhistorisch definierten Baugruppen, vor.[19]

Auf die Umsetzung zweier Torhäuser in den Jahren 1972 bis 1974 folgten neue Häuser nahezu im Zweijahrestakt. Peter Fischer gelang es, immer wieder Baukapazitäten, Geld und Material zu organisieren. Der charismatische Museumsleiter konnte auch Jugendliche für seine Ideen begeistern und stellte in Sommercamps mit Mitgliedern verschiedener Jugendclubs die von Zimmerleuten errichteten Rohbauten fertig. Erst Mitte der 1980er Jahre wurde das Museumspersonal mit Kassenkräften und einer Baubrigade deutlich aufgestockt. Der Agraringenieur Reinhard Heller legte Bauerngärten als Ergänzung der Höfe an.[20]

Mit dem Ende der deutschen Teilung entdeckten nicht nur Gäste aus dem benachbarten Niedersachsen das altmärkische Museumsdorf. Die Besucherzahlen erreichten Rekordhöhen. Mit Hilfe von Fördergeldern sowie dem Einsatz von ABM-Kräften konnten lange geplante Bauprojekte verwirklicht werden.[21] Der Ausbau des Museums wurde nach dem frühen Tod Peter Fischers unter Christine Lehmann (1998 – 2002) und Friedhelm Heinecke (2002 – 2015) fortgesetzt. Heute dokumentieren auf dem etwa sechs Hektar großen Museumsgelände 25 Wohn- und Wirtschaftsgebäude den Wandel von Kultur- und Lebensweise zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert.[22]

Ein abwechslungsreiches Veranstaltungsprogramm wurde seit der Jahrtausendwende auch für das Freilichtmuseum Diesdorf immer wichtiger.[23] Es konnte sein Profil schärfen und entwickelte sich zu einem wichtigen Haltefaktor im Ländlichen Raum. Als touristischer Leuchtturm strahlt es weit über die Grenzen der Altmark hinaus. Ein Heimatmuseum ist es trotzdem geblieben: Indem es das kulturelle Erbe der ländlich geprägten Altmark bewahrt und die Erinnerung an frühere Generationen pflegt, ermöglicht es eine positive Identifikation der heute hier lebenden Menschen mit diesem kleinen Teil der Welt. „Es soll die Kenntnis und die Liebe zur Heimat geweckt und damit bezweckt werden, daß die Geschichte der Heimat von der Gegenwart verstanden wird“,[24] wünschte sich „Doktors Voader“ Georg Schulze – dem ist im Grunde auch heute nichts hinzuzufügen.

Literaturnachweis

Adam 1957: Dr. Adam: „Dokters Voader“, in: Altmarkbote 16 (1957), S. 333 f.
Broschüre 1912: Broschüre des Wohlfahrtsvereins Diesdorf, September 1912, Archiv des FLMD.
Ditt 1990: Karl Ditt: Die deutsche Heimatbewegung, in: Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven (Bundeszentrale für politische Bildung. Schriftenreihe Bd. 294/I), Bonn 1990, S. 135 – 154.
Fischer 1982: Peter Fischer: Die Veränderungen der Haus-, Hof- und Siedlungsformen in der nordwestlichen Altmark während des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: Hans-Jürgen Rasch (Hg.): Vom Bauen und Wohnen. 20 Jahre Arbeitskreis für Haus- und Siedlungsforschung in der DDR, Berlin 1982, S. 206 – 222.
Fischer 1988: Peter Fischer: Geschichte und Ausbau des Freilichtmuseums Diesdorf, in: 150 Jahre Sammlung und historische Forschung in der nordwestlichen Altmark. Kolloquium vom 25. bis 28. September 1986 in Salzwedel, Salzwedel 1988, S. 61 – 66. 
Fischer 1992: Peter Fischer: Diesdorf und sein Freilichtmuseum, in: Sachsen-Anhalt. Journal für Natur- und Heimatfreunde 2 (1992), S. 6 – 8.
Fischer 1996: Peter Fischer: Die Hauslandschaft der Altmark – ein Überblick, in: Ländlicher Hausbau in Norddeutschland und den Niederlanden Bd. 4, Arbeitskreis für Hausforschung Interessengemeinschaft Bauernhaus, Jonas-Verlag 1996, S. 191 – 208.
Fischer 2012: Peter Fischer: Die Dörfer der nordwestlichen Altmark, in: Häuser und Gärten im Freilichtmuseum Diesdorf, S. 9 – 13.
Gaede 2004: Helmut Gaede: Auf dem Feld der Aehre. Landwirtschaftliches Kulturerbe in Deutschland, Magdeburg 2004.
Handschuh 1990: Gerhard Handschuh: Freilandmuseum – Zwischen Idylle und Aufklärung,
in: Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven (Bundeszentrale für politische Bildung. Schriftenreihe Bd. 294/I), Bonn 1990, S. 781 – 828.
Häuser und Gärten 2012: Häuser und Gärten im Freilichtmuseum Diesdorf, Salzwedel 2012.
Heinecke 2006: Friedhelm Heinecke: Das Freilichtmuseum Diesdorf – Anspruch und Wirklichkeit, in: Museumsnachrichten 2006, S. 11 – 18.
Klueting 1998: Edeltraud Klueting: Heimatschutz, in: Diethart Kerbs / Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933, Wuppertal 1998, S. 47 – 57.
Ringbeck 1991: Brigitta Ringbeck: Dorfsammlung – Haus der Heimat – Heimatmuseum,
in: Edeltraud Klueting (Hg.): Antimodernismus und Reform. Beiträge zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt 1991, S. 288 – 319.
Schulze 1927: Georg Schulze: Der altmärkische Bauernhof in Diesdorf, ein Heimatmuseum, in:45. Jahresbericht des Altmärkischen Vereins für vaterländische Geschichte zu Salzwedel, Salzwedel 1927, S. 64 f.
Schulze 1932: Georg Schulze: Das Heimatmuseum in Diesdorf, in: Heimat- und Jahrbuch für den Kreis Salzwedel 1932, S. 29 – 32.
Schulze 1938: Georg Schulze: Der altmärkische Bauernhof in Diesdorf, in: Heimatbuch. Beiträge zur altmärkischen Heimatkunde. Bd. 2, Gardelegen 1938,S. 191 – 202.
Waldemer 2006: Georg Waldemer: Einleitung. Notizen zur Geschichte der Freilichtmuseen, in: Freilichtmuseen. Geschichte – Konzepte – Positionen, München/Berlin 2006.
Waligora 1957: Paul Waligora: Doktor Schulze, der Heimatfreund, in: Altmarkbote 16 (1957), S. 334 f.
Zippelius 1974: Adelhart Zippelius: Handbuch der europäischen Freilichtmuseen, Köln 1974.

 

[1] Vgl. Schulze 1932, S. 29 – 32; Fischer 1988, S. 61; Fischer 1992, S. 6.

[2] Vgl. Adam 1957, S. 333 f.; Waligora 1957, S. 334 f.; Gaede 2004, S. 294 f.

[3] Vgl. Fischer 1982, S. 206 – 222; Fischer 1996, S. 191 – 208; Fischer 2012, S. 9 – 13.

[4] Vgl. Schulze 1927, S. 64 f.

[5] Broschüre 1912.

[6] Vgl. Ditt 1990, S. 135 – 137.

[7] Vgl. Ringbeck 1991, S. 288 – 290.

[8] Vgl. Klueting 1998, S. 47 f.

[9] Schulze 1938, S. 196.

[10] Vgl. Zippelius 1974, S. 27; Handschuh 1990, S. 792; Waldemer 2006, S. 9 f.

[11] Vgl. Handschuh 1990, S. 792 f.

[12] Vgl. Schulze 1932, S. 31 f.

[13] Vgl. Gästebuch „Altmärkischer Bauernhof Diesdorf“, Archiv FLM Diesdorf. – Den freundlichen Hinweis auf das Besucherbuch verdanke ich Sabine Breer, die es im Rahmen der Provenienzforschung ausgewertet hat (vgl. Beitrag in diesem Heft). – Aufzeichnungen zu den Besucherzahlen liegen aus dieser Zeit leider nicht vor.

[14] Vgl. Unterlagen zur Geschichte des Wohlfahrtsvereins, zusammengestellt von Ingelore Fischer, Archiv FLM Diesdorf.

[15] Vgl. Fischer 1988 S. 61.

[16] Vgl. Fischer 1988 S. 66 , Fischer 1992 S. 7.

[17] Vgl. Fischer 1988 S. 62 – Biographische Unterlagen zu Peter Fischer, zusammengestellt von Ingelore Fischer, Archiv FLM Diesdorf.

[18] Peter Fischer: Konzeption zur weiteren Entwicklung des Freilichtmuseums Diesdorf /Altmark, Oktober 1992, Archiv FLM Diesdorf – Frühere Versionen waren noch im Ton der sozialistischen Geschichtsschreibung formuliert,  vgl. Fischer, 1988, S. 64 f.

[19] Vgl. Fischer 1988, S. 64 – 66. – Peter Fischer knüpfte damit an moderne Aufbau- und Darstellungsprinzipien europäischer Freilichtmuseen an, vgl. Zippelius 1974, S. 12 – 21 – Waldemer 2006, S. 17 f.

[20] Vgl. Fischer 1988, S. 62 f. | Fischer 1992, S. 6.

[21] Vgl. Fischer 1992, S. 7.

[22] Vgl. Häuser und Gärten 2012.

[23] Vgl. Heinecke 2006, S. 11 – 15.

[24] Schulze 1938, S. 196.