„Mittelaltersehnsucht: Zwischen Gotik und Gothic“
Tagung und Exkursion im Rahmen der Reihe: Deutsche Erinnerungslandschaften, Teil XI
von Gudrun Braune | Ausgabe 4-2019 | Geschichte
Die gemeinsame Tagung zum Thema Mittelaltersehnsucht von Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e. V. und Heimatbund Thüringen e. V. fand am 14. Juni 2019 in Eisenach statt. Ihr schloss sich am nächsten Tag eine Exkursion zur Wartburg, zum Schloss Beichlingen und zur Neuenburg an.
„Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte oder wünschte; vorzüglich sich selbst“, so Friedrich Schlegel. Diesem Gedanken galt es mit der Tagung nachzugehen, die ein interessiertes und diskussionsfreudiges Publikum, darunter auch viele junge Leute, angezogen hatte.
Justus Ulbrich zeigte mit dem Beitrag „Die Erfindung des Mittelalters durch die Moderne“, wie sich das Epochenverständnis für den Zeitraum 500 bis 1500 herausgebildet und immer wieder verändert hat und welche Ebenen und Anknüpfungspunkte dieses in der Folgezeit für ganz unterschiedliche Sichtweisen bietet. So wurde im 18./ 19. Jahrhundert das Mittelalter als Zeitalter der Geborgenheit interpretiert und eine romantische Reichssehnsucht befördert. Nach 1918 veränderten sich die Vorstellungen und die völkische Bewegung und später der Nationalsozialismus vereinnahmten das Mittelalter für ihre Zwecke. Auch die gegenwärtige massenkulturelle Aneignung des Mittelalters sei Orientierungsbedürfnissen geschuldet.
Winfried Bergmeyer stellte „Mittelalter in Computerspielen“ vor. Computerspiele sind in allen Gesellschaftsschichten verbreitet und können zu den Leitmedien gezählt werden. Es gibt eine große Bandbreite von Spielen mit einem unterschiedlichen Mittelalterbezug, aber keines ist historisch korrekt. Aufgaben für die Spieler sind in Strategie, Diplomatie und historische Ereignisse eingebaut. Schlachten und Waffen sind aufwendig und detailgetreu programmiert. Drachen, Hexer u. v. a. m. machen ein fiktives Mittelalter zum weltweiten Erfolg. Obwohl die gesellschaftliche Bedeutung steigt, ist ein Archivieren der Spiele im Original schwer, da sie immer wieder den Bedürfnissen und Ansprüchen der Spieler angepasst werden und dieser stete Wandel große Speicherkapazitäten benötigt.
Den „langen Linien“ der Mittelalterrezeption im literarischen Bereich widmete sich Sebastian Schmiedeler in seinem Beitrag „Mittelalter in der Kinder- und Jugendliteratur“. Gemeinsame Klammer dieser zwischen 1700 und 1900 entstandenen Literatur sei, so Schmiedeler, das Moralisieren, Ordnen, Dramatisieren, Visualisieren und Ambulieren (spazieren gehen, lustwandeln) in den historischen Stoffen. Er wies u. a. auch auf das Ideologiepotential und die Instrumentalisierung dieser Druckerzeugnisse zwischen 1933 und 1945 hin.
Markus Walz erklärte mit seinem Beitrag „Gotik und Gothik – Museen und Mittelalternachfrage“, dass auf der Hitliste der Museumsbesucher Dinos, Mittelalter und Hexen ganz oben stünden. Mittelalterausstellungen in Museen befriedigen die Nachfrage der Besucher. Ansonsten sei die museale Präsentation des Mittelalters in der Themenbreite und in den Ausstellungsstücken sehr begrenzt. Zu finden seien zwar eine ganze Anzahl von Foltermuseen sowie museumspädagogische Angebote in Klöstern, die Tendenz gehe ansonsten hin zu Mitmachmuseen, die interaktive Modelle und Replikate zeigen.
Karl Banghard beschäftigte sich mit „Nazis im Wolfspelz. Wikingerreenactment und extreme Rechte“. Letztere interessiere sich weltweit intensiv für Mittelalter und Frühgeschichte, was er täglich in der Museumspraxis des Archäologischen Freilichtmuseums Oerlinghausen erlebe. Über mehrere Jahre erforschte er auch die beim archäologischen Freilichtmuseum „Slawen-und Wikingersiedlung“ Wolin/Polen nachgespielte Schlacht, deren Besucher ein Amalgam bilden zwischen extremen Rechten und der ganz normalen Urlaubs- und Partygesellschaft. Nicht nur hier konnte er pluralistische Ignoranz, Bewertungsangst und Verantwortungsdiffusion feststellen.
Helmut Groschwitz betrachtete „Rollenspiele und Mittelalter“. Hierbei stellt die living-history-Szene ein Spannungsfeld dar, das als gespielte Geschichte von Mittelaltermärkten bis zu nachgestellten historischen Ereignissen reicht. Lebendige Museen hingegen sind Orte, die – in unterschiedlichem Maße – vom Authentizitätsgedanken getragen werden und der Frage nachgehen „wie man früher etwas gemacht hat“. Die Einbeziehung der Besucher reicht von der Interaktion der Spieler mit dem Publikum bis zur Übernahme von Rollen im Geschehen.
Jen Hoffert-Karas sprach über „Das Wave Gotik-Treffen in Leipzig“. Seit 1992 ist das Wave-Gotik-Treffen (WGT) ein erfolgreicher Event. Jährlich kommen bis zu 20.000 Besucher zu Pfingsten nach Leipzig, um sich in authentischen mittelalterlichen oder Spaßkostümen zu präsentieren. „Mittelalter“-Rock wird beim WGT mit bis zu 150 Konzerten zelebriert, das WGT ist jedoch kein Musikfestival. Die BesucherInnen wollen Freunde treffen und ein Wochenende voller Spaß und Spiel, Romantik und Phantasie erleben, teilweise auch ihre existenzielle Sinnsuche befriedigen.
Die Filmpräsentation „Wie die Hunnen im Rheinland Oktoberfest feiern“ löste intensive Diskussionen über die Aneignung von Tradition und die Funktion von Verkleidung während und außerhalb der Zeit des Rheinischen Karnevals aus. Beeindruckt waren die TagungsteilnehmerInnen vom bürgerschaftlichen Engagement der „Hornpötter Hunnen“, die nicht nur im Karneval ihren Stadtteil mitgestalten.
Im Laufe der Tagung wurde die „Mittelaltersehnsucht“ der Gegenwart sehr gelungen beschrieben und ihr innewohnende Potentiale angedeutet.