Rieda – ein Dorf wird wieder Kirchdorf
Eckehard Hofmüller | Ausgabe 3-2021 | Bürgerschaftliches Engagement
Rieda ist ein kleines Dorf 15 km nördlich von Halle / Saale, wenige Kilometer östlich vom Petersberg, zur Kleinstadt Zörbig gehörend. Der Ort liegt umgeben von fruchtbarem Ackerboden direkt am Flüsschen Riede. Er zählt heute etwa 200 Einwohner, ist geprägt von einer gewachsenen Bebauung aus großen, teils verfallenen landwirtschaftlichen Ziegelbauten, sowie einigen Siedlungs- und Neubauten und viel Gartenland. Das Pfarrhaus wurde 2011 verkauft, welches wir, aus Altmark und Oberlausitz stammend, erwarben. Die alte Kirche im Ortszentrum liegt bis vor wenigen Jahren verfallen und versteckt unter einer dicken Efeudecke.
Was war geschehen? Aus alten Dokumenten ist ersichtlich, dass der Rückgang der kirchlichen Bindung in der lokalen Bevölkerung nicht erst durch die großen politischen Umstürze des 20. Jahrhunderts, dem Nationalsozialismus und dem Sozialismus, ausgelöst wurde. Schon am Anfang des 20. Jahrhunderts berichtete der damalige Pfarrer von sehr geringem Kirchbesuch. Doch besonders in den ersten Jahrzehnten der DDR war das Klima für die ohnehin schwache Kirchgemeinde so nachteilig, dass sie nicht mehr lange Bestand hatte. Im Dorf wird berichtet, dass es nur noch bis in die Mitte der 1950er Jahre einen Pfarrer im Riedaer Pfarrhaus gab. Schließlich wurde die Kirche 1970 nach über 750 jährigem Bestehen als Ort des Glaubens und der Gemeinschaft wegen der stark geschrumpften Kirchgemeinde und dem schlechten baulichen Zustand aufgegeben, entwidmet und dem Verfall und Vandalismus preisgegeben. Gleich so, als wenn man eine Bäckerfiliale mangels Kundschaft schließt oder eine marode Bahnnebenstrecke mangels Passagieren stilllegt. Natürlich ist das nachvollziehbar, gerade in dem damaligen Klima. Aber gerade als Christen sollten wir auch die Chancen und Potentiale sehen.
Es ist das Jahr 2015 und die Frage steht im Raum, was mit der Kirchruine geschehen soll. Relativ zeitnah kommt es zu drei Begegnungen. Eine Familie aus dem Ort fragt uns direkt, ob wir uns vorstellen können, gemeinsam die Kirche wieder aufzubauen. Aber ohne Gemeinde? Im Gespräch mit Mitgliedern der Evangeliumsgemeinde, einer freien evangelischen Gemeinde aus dem nahen Halle, welche gelegentlich das alte Pfarrhaus in Rieda für kleine Freizeiten nutzt, wird der Gedanke an uns getragen, dass man ja auch zumindest punktuell die Kirche mitnutzen könnte, sollte sie einmal wieder aufgebaut werden. Und zu guter Letzt tauchte für uns ganz unverhofft ein Nachfahre der alten Rittergutsherren, welche dereinst auch das Kirchenpatronat innehatten, auf. Er ist Architekt aus Süddeutschland und es lag ihm am Herzen, zur Rettung der Kirche beizutragen. Zufälle oder Fügung? Für uns war klar, dass die Kirche wieder aufgebaut werden soll – als einen offenen Ort für das Dorf und einen Ort, der klar auf Christus weist.
Eine Vision hatten wir, aber was sonst noch? Wir waren keine Handvoll Leute, hatten keine ernstzunehmenden finanziellen Mittel und hatten auch nicht einmal die Berechtigung, Hand an die Ruine zu legen. Wir starteten also Gespräche mit der evangelischen Landeskirche, dem Eigentümer der Kirchruine, wobei wir eine komplette Übernahme der Ruine von Anfang an favorisierten. Die Evangeliumsgemeinde Halle konnte als neuer Träger gewonnen werden, unter ihrem Schirm und ihrer geistlichen Begleitung wurde der finanziell eigenständige Arbeitszweig ‚Kirche Rieda‘ gegründet. Unser Plan war, mit dem Einsatz möglichst vieler freiwilliger Helfer aus dem Dorf und der städtischen Gemeinde die Kirche Stück für Stück wieder zu errichten und dabei mit Leben zu füllen. Wir konnten nicht still sitzen und begannen schon parallel zu den Gesprächen die zugewachsene Kirchruine von ihrem immensen Efeukleid zu befreien und zugänglich zu machen. Das half natürlich unserem süddeutschen Architekten, um hier die nötigen statischen Analysen durchzuführen und ein Aufmaß zu erstellen. Unsere Gedanken und Ideen zur Nutzung haben wir in einem Nutzungskonzept niedergeschrieben und mit diesem eine öffentliche Förderung aus dem LEADER-Programm beantragt. Hier erlebten wir große Gunst und landeten recht weit vorn auf der Prioritätenliste. Die enge Kooperation von Stadt und Land war ein wichtiger Punkt aber auch die Lage an der ‚Straße der Romanik‘ und nicht zuletzt der durch Ehrenamtliche bereits gezeigte Einsatz zur Freilegung und Sicherung der Ruine.
Die Baueinsätze mit freiwilligen Helfern bilden das entscheidende Element beim praktischen Wiederaufbau der Kirche. An unzähligen Samstagen trafen und treffen sich typischerweise 5 bis 10 Engagierte aus dem Dorf und aus der städtischen Gemeinde um gemeinsam an der Kirche zu bauen. Schnell hat sich ein fester Kern an treuen Mitarbeitern zusammengestellt und sehr oft sind auch Gäste dabei, die einfach mal mit anpacken möchten. Schon früh hat sich ein Maurermeister aus dem Dorf dazugesellt, unter dessen Anleitung inzwischen viele Laien auf dieser Baustelle den Umgang mit der Kelle gelernt haben. Als es um den Aufbau des Dachstuhls ging, was durch ein professionelles Unternehmen geschehen musste, tauchte plötzlich jemand aus dem Dorf auf und bot uns seine sehr gut ausgerüstete Holzwerkstatt an. Das ließ sich nutzen, denn wir hatten vor, in das neue Schiffdach sechs Fledermausgauben zu integrieren, die jedoch recht kostspielig sind. Kurzerhand ließen wir nur eine Gaube durch die Firma errichten und bauten die anderen fünf in der Holzwerkstatt im Dorf nach. So haben wir Geld gespart und in Gemeinschaft die Ressourcen vor Ort genutzt. Immer wieder konnten wir erleben, dass sich Leute zum rechten Moment dazustellten. Als wir mit der Ertüchtigung der Mauern und dem Aufbau des Daches fertig waren, standen plötzlich zwei Brüder aus dem Nachbardorf in der Kirche. Sie boten an, sich um die Elektroinstallation zu kümmern und waren von da an treu dabei, die Kirche professionell zu verdrahten. Später meldete sich ein Fliesenleger aus der Gegend, es sei schon lange einer seiner Lebensträume, einmal den Fußboden einer Kirche aufzubauen. Das passte, wir konnten ihm diesen Traum und er uns einen großen Dienst erfüllen. Wir beschafften Steinplatten und er verlegte sie uns quasi ehrenamtlich.
Der Aufbau des Kirchgebäudes wird natürlich auch durch Denkmalbehörde und Landesamt für Denkmalpflege fachlich begleitet. Das reicht von generellen gestalterischen Absprachen bis in Details wie die Auswahl des richtigen Kalkmörtels. Während man anfänglich noch etwas ungläubig zwar unseren Elan unterstützte, sprachen sie später nur noch vom ‚Wunder von Rieda‘. Das Landesamt unterstütze uns auch sehr bei der künstlerischen Neugestaltung. Durch dessen Vermittlung zu Künstlern, Fachfirmen und Mäzenen konnte unsere Kirche mit neu gestalteten Fenstern und Türen ausgerüstet werden.
Es gibt zwar immer noch viel zu tun, doch inzwischen ist die Kirche wieder in einem nutzbaren Zustand. Aber auch schon vorher, als es noch eine staubige Ruinenbaustelle war, haben wir die Kirche schon zumindest punktuell genutzt. Tage wie Himmelfahrt und der dritte Advent sind in Rieda mittlerweile feste Termine. Zu Himmelfahrt kommt die Gemeinde aus Halle mit dem Rad raus, um mit dem Dorf zu feiern und am dritten Advent gibt es ein großes Dorffest an der Kirche mit gemeinsamem Advents- und Weihnachtslieder-Singen. Wir haben uns beim Bauen nicht hetzen lassen. Es war uns nicht wichtig, möglichst schnell ein möglichst hübsches Kirchlein hier zu errichten. Viel wichtiger ist uns, dass sich viele daran beteiligen und damit identifizieren und dass wir gute Begegnungen haben und sich eine gute Gemeinschaft entwickelt. Bis heute haben insgesamt 90 verschiedene Helfer an der Kirche mitgebaut. Durch die Anbindung an die Evangeliumsgemeinde in Halle kommen immer wieder gerne gerade Studenten raus aufs Dorf, für welche das praktische Anpacken eine wunderbare Abwechslung ist. Auch haben wir unser Vorhaben auf einer work-and-travel-Seite im Internet registriert. Hierüber haben wir gelegentlich auch internationale Helfer dabei. Ein schönes Erlebnis hatten wir zum Beispiel als wir die Empore wieder aufbauen wollten. Dem Zimmermann war der Compagnon ausgefallen und so konnte er nicht starten. Da meldete sich unverhofft ein Bollywood-Regisseur aus Indien. Er war auf dem Weg Europa zu besuchen, um mal etwas ganz anderes zu machen. Er suchte bewusst nach Projekten in Dörfern und arbeitete gern mit Holz. Perfekt, den schickte der Himmel. In einer Woche stand die Empore und nebenbei gab es herrliches indisches Essen.
Neben den vielen Besuchen und Begegnungen um die Kirchbaustelle kam es auch zu ganz langfristigen Veränderungen. Eine Familie aus Halle, die gelegentlich beim Kirchbau mithalf, entdeckte die Freude am Landleben. Sie haben sich ein etwas verfallenes Gehöft im Dorf gekauft und bauen es wieder auf. Eine weitere Person aus Halle mit viel Leidenschaft für den Kirchbau und deren Belebung ist inzwischen mit auf den Hof gezogen. Und zu guter Letzt fand im letzten Jahr eine Familie aus Süddeutschland über die Gemeinde in unser Dorf. Insgesamt fünf Erwachsene mit sieben Kindern haben sich letztlich durch die Aktivitäten um die Kirche in unserem Dorf angesiedelt. Es ist so viel mehr geschehen, als wir hätten planen können.
Zu Himmelfahrt 2021 wurde die Kirche nach 50 Jahren Aufgabe und Verfall wieder eingeweiht. 50 Jahre klingt zwar lang, ist aber doch nur eine Episode im langen Bestehen der romanischen Kirche. Diese Wunde kann heilen. Jetzt gibt es wieder regelmäßig einen Gottesdienst, um gemeinsam mit ein paar Alteingesessenen, Zugezogenen und Gästen den zu ehren, der uns auf diesen Weg geführt hat. Das Bauen ist aber noch nicht zu Ende, denn wir haben noch einiges vor: Toilette, Küchenzeile, Ausbau in Turm und Dach. Da werden wir noch eine Weile beschäftigt sein. Aber mit der Erfahrung, die wir sammeln durften, können wir ganz zuversichtlich nach vorne sehen und gespannt darauf sein, welche neuen Begegnungen und guten Entwicklungen dies mit sich bringt.