Rotkäppken und 25 Jahre Vorlesewettbewerb „Schülerinnen und Schüler lesen PLATT“ in Sachsen-Anhalt
Von Saskia Luther und Ursula Föllner | Ausgabe 4-2019 | Lebendiges Kulturerbe
Theater spielen und plattdeutsch sprechen – diese Verbindung nutzt der Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e. V. nun schon seit dem Jahre 2002 (damals fand der erste niederdeutsche Theaterwettbewerb statt), um Kinder für das Niederdeutsche unseres Landes zu interessieren. In diesem Jahr kam nun ein neues Medium hinzu: der Film. Im Juni machte sich die Filmcrew des Musik- und Medienzentrums für junge Leute „Gröninger Bad“ e. V. in das Bördedorf Hohendodeleben auf, um dort in Kooperation mit uns einen ganz besonderen Märchenfilm zu drehen: Rotkäppchen auf Platt (siehe Titelfoto).[1] Kinder der Arbeitsgruppe Niederdeutsch an der dortigen Grundschule „Friedrich von Matthisson“ schlüpften bei sommerlicher Hitze nicht nur in die Kostüme, sondern auch in die Rollen von Wolf, Mutter, Großmutter, Jäger, Eichhörnchen, Igel, Biene, Katze, Mäuschen, Hase, Fliegenpilz, Bär sowie Rotkäppchen und Erzählerin. Unterstützt wurden sie dabei von den Plattsprecherinnen Margit Vogel und Ulrike Bierstedt, die auch die plattdeutsche Vorlage des Märchens geschrieben haben, vom Förderverein der Grundschule, von der Lehrerschaft und den Einwohnern Hohendodelebens.
Dieses aktuelle Projekt wurde wie viele andere auch durch die Förderung der Regionalsprache Niederdeutsch durch das Land Sachsen-Anhalt möglich. Selbstverständlich war diese politische und finanzielle Unterstützung nicht, denn während in den küstennahen Bundesländern die niederdeutsche Sprache traditionell eine große Rolle im Kultur- und Sprachbewusstsein ihrer Bürgerinnen und Bürger spielt, wurde das Niederdeutsche im heutigen Sachsen-Anhalt, das eine Übergangsregion zwischen Nord- und Mitteldeutschland bildet, über Jahrzehnte hinweg in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Diese Nichtwahrnehmung hatte bis zum Jahr 1989 einerseits politische und damit administrative Gründe, andererseits ist sie aber auch durch bestimmte sprachstrukturelle Aspekte bedingt, die sich u. a. aus der Randlage dieses niederdeutschen Gebietes (Nähe zum Mitteldeutschen) ergeben. Dennoch hat die niederdeutsche Sprache in der Mündlichkeit und in der Schriftlichkeit gerade auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt eine lange und große Tradition, die auch noch im gegenwärtigen Sprachgebrauch besonders im ländlichen Raum ihren Niederschlag findet.
Daher entschloss sich die Arbeitsstelle Niederdeutsch an der Magdeburger Universität, mit der der Landesheimatbund seit jeher eng zusammenarbeitet, bereits 1995 zu einem Wagnis: Würde es wohl gelingen, hier in Sachsen-Anhalt einen neuen Vorlesewettbewerb für Kinder ins Leben zu rufen? Es sollte aber kein „normaler“ Lesewettbewerb sein, sondern einer in plattdeutscher Sprache!
Nachdem wir bei sprachsoziologischen Untersuchungen[2] schnell festgestellt hatten, dass es wider Erwarten noch recht viele Menschen in der Altmark, der Börde und dem Harz gab, die das Niederdeutsche ihrer Regionen sprechen konnten, war der Entschluss gefasst: Es wird versucht! Zwei Jahre später kam der Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e. V. als Mitveranstalter dazu und so kann in diesem Jahr gemeinsam ein Jubiläum begangen werden: 25 Jahre Vorlesewettbewerb!
Das Kultusministerium förderte von Anfang an das Vorhaben durch die Anerkennung des Wettbewerbs als schulische Veranstaltung, Übermittlung der entsprechenden Informationen an die Schulen und Unterstützung der zuständigen Fachreferate. Die Minister übernahmen jeweils die Schirmherrschaft und setzten damit ein Zeichen für die Wertschätzung des Niederdeutschen. Der Jubiläumswettbewerb findet in diesem Jahr unter der Schirmherrschaft von Staatsminister Rainer Robra, Chef der Staatskanzlei und Minister für Kultur statt. Als Sponsoren fanden sich mit dem Ostdeutschen Sparkassenverband, der den Hauptanteil trägt, und der Stadtsparkasse Magdeburg, die den Landesausscheid in Magdeburg ausrichtet, von Anfang an zwei wichtige und verlässliche Partner.
Eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren unseres Bundeslandes und Niedersachsens stellte eigens für diesen Anlass geschriebene kleine Geschichten zur Verfügung. Die Herausgeberinnen der Reihe konnten so inzwischen 13 Sammlungen mit Texten für Altmark, Börde und Harz den interessierten Schulen des Landes zur Verfügung stellen. Der Landesausscheid (nach den vorangehenden Regionalausscheiden), zu dem sich jeweils ein Kind je Altersklasse und Region qualifiziert, findet nunmehr nach einem Gastspiel in den Anfangsjahren 1995 und 1996 im Literaturhaus Magdeburg traditionell in der Hauptverwaltung der Magdeburger Stadtsparkasse statt. In der Landesjury unter Vorsitz von Dr. Ursula Föllner vertreten Plattsprecherinnen und Plattsprecher die drei genannten niederdeutschen Regionen unseres Bundeslandes. An den 75 Regionalausscheiden nahmen rund 5.500 und an den 25 Landesausscheiden 2.200 Zuschauer teil.
Allen Beteiligten, insbesondere auch den langjährig tätigen Betreuerinnen und Lehrerinnen der Lesekinder sowie den Autorinnen und Autoren, sei an dieser Stelle herzlich gedankt! Nach 25 Jahren ist selbstverständlich noch nicht Schluss: Auch 2020 wird wieder fleißig plattdeutsch vorgelesen, denn aus einer Untersuchung des Institutes für deutsche Sprache und des Institutes für niederdeutsche Sprache aus dem Jahr 2016 geht hervor, dass rund 60 Prozent der Befragten in Sachsen-Anhalt der Meinung sind, dass mehr für das Niederdeutsche getan werden sollte.[3]
Dies ist im Übrigen auch im Sinne der Bundes- und Landesregierung, denn seit 1999 liegt ein völkerrechtlich verbindliches Gesetzeswerk zum Schutz und zur Pflege von Regionalsprachen vor: die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Dieser Vertrag soll helfen, die traditionelle Sprachenvielfalt in Europa als wichtiges Kulturgut zu bewahren, zu stärken und mit neuem Leben zu erfüllen. In der Bundesrepublik gilt die Charta für die Minderheitensprachen Dänisch, Friesisch, Sorbisch und Romanes sowie für die Regionalsprache Niederdeutsch. Das Ziel der Charta besteht darin, es den Sprecherinnen und Sprechern der genannten Sprachen durch verschiedene Maßnahmen zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihre Sprache – neben dem Standard – in allen Kommunikationssituationen gebrauchen zu können[4]. In Sachsen-Anhalt wird das Niederdeutsche nach Teil II (völkerrechtlich verbindlich) und nach einigen Verpflichtungen des Teils III (mit innerstaatlicher Bindekraft) geschützt. Neben der Charta ist in unserem Land der Landtagsbeschluss vom 24. 05. 2019 „Niederdüütsche Sprook in Sassen-Anhalt wedder opleven laten“ gültig, der einen Beschluss aus dem Jahr 1991 ersetzt. Mit diesem Beschluss bekennt sich das Land erneut zu seiner Verantwortung für die Bewahrung und Förderung der niederdeutschen Sprache, wobei dem Bildungsbereich eine besondere Verantwortung beigemessen wird.[5]
Alle, denen Plattdeutsch wichtig ist, sind herzlich zu den Regionalveranstaltungen im Vorlesewettbewerb sowie zum Jubiläumslandesausscheid eingeladen: 3. Dezember 2019, um 14 Uhr in der Hauptverwaltung der Stadtsparkasse Magdeburg, Lübecker Straße 126 – 128!
[1] Die DVD wird Kitas und Schulen sowie Arbeitsgemeinschaften kostenlos zur Verfügung gestellt.
[2] Von 1993 bis 2000 führte die Arbeitsstelle Niederdeutsch der Universität Magdeburg empirische Untersuchungen zur Existenz, zum Gebrauch und zur Bewertung des Niederdeutschen in Sachsen-Anhalt durch. Es konnten Sprachdaten aus 28 Orten des ländlichen Raumes mit einer jeweiligen Einwohnerzahl bis 500 Erwachsene erhoben werden. Von insgesamt 5.358 befragten Personen (ab 16 Jahren) gaben 62,2 % an, Niederdeutsch verstehen und 36,5 % es sprechen zu können. Die Korrelation von Sprachkompetenz und Alter der Befragten ergab, dass fast alle Einwohner, die über 51 Jahre alt sind, das Niederdeutsche verstehen, aber dass erst die über 61jährigen in der Mehrzahl ‚gut‘ oder ‚sehr gut‘ Niederdeutsch sprechen können und es auch tun. Im Rahmen eines weiteren Projektes wurden 2.669 Personen nach ihrer Bewertung des Niederdeutschen gefragt. 55,4 % der Befragten bewerteten das Niederdeutsche positiv, wobei beachtet werden muss, dass auch die Nicht-Plattsprecherinnen und -sprecher befragt wurden.
[3] A. Adler, Ch. Ehlers, R. Goltz, A. Kleene, A. Plewnia: Status und Gebrauch des Niederdeutschen. Erste Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung. Mannheim 2016. Auf die Frage „Wer sollte sich um die Förderung besonders kümmern?“ antworteten 63,8 % aller Befragten, dass die Schule besonders in der Pflicht wäre und 28,4 % sind der Auffassung, dass die Förderung bereits im Kindergarten beginnen sollte (S. 35).
[4] Aktuell haben folgende Länder diese Charta gezeichnet: https://rm.coe.int/vertragsstaaten-der-europäischen-charta-der-regional-oder-minderheitensprachen/16807709fo. Weitere Informationen und der Wortlaut der Charta siehe: https://www.coe.int/de/web/european-charter-regional-or-minority-languages/sprachen-der-charta.
[5] Wortlaut des Beschlusses: https://www.landtag.sachsen-anhalt.de/fileadmin/files/drs/wp7/drs/d4431vbs.pdf.