„Neu-Jerusalem“ – Eine Bauhaussiedlung in Teutschenthal, die Aufsehen erregte

von Mike Leske | Ausgabe 3-2019

Die Südwestecke von „Neu-Jerusalem“ um 1930. Foto: Leske 2016, S. 95 – 111.
Blick vom Schulhausdach auf die Wohnhausreihen. Foto: Leske 2016, S. 95 – 111.
Der südwestliche Wohnkomplex der Siedlung um 1980. Foto: Leske 2016, S. 95 – 111.
Schule Teutschenthal, Hintere Schulansicht mit Spielhof, Architekt Ernst Trommler, Gera. Foto: Leske 2016, S. 95 – 111.
Schule Teutschenthal, Straßenansicht. Foto: Leske 2016, S. 95 – 111.
Schule Teutschenthal, Klassenraum. Foto: Leske 2016, S. 95 – 111.
Die neue Pestalozzischule in Unterteutschenthal, Blick von Südosten. Aufnahme von 1929. Foto: Leske 2016, S. 95 – 111.

Das Jahr 2019 steht fest im Zeichen des Bauhausjubiläums. Deutschland feiert den 100. Jahrestag der Gründung dieser Bewegung als eine der bedeutendsten kulturellen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. In der 1919 in Weimar durch Walter Gropius gegründeten Kunstschule versuchten Künstler, Designer und Architekten mit der Neugestaltung alltäglicher Dinge den modernen Menschen zu prägen. 1925 nach Dessau umgezogen und schließlich 1933 in Berlin unter dem Druck der Nationalsozialisten geschlossen, wirkt das Bauhaus weltweit bis in die Gegenwart fort. Auch in Teutschenthal hat diese Strömung ein Baudenkmal hinterlassen, das seinerzeit deutschlandweit für Aufsehen sorgte.

Am 31. Mai 1929 erschienen am Wiesenweg, heute Maerkerstraße, zur feierlichen Einweihung des bis dahin europaweit modernsten Wohn- und Lernkomplexes einer Landgemeinde namhafte Persönlichkeiten der Region. Die Anlage war eine absolute Neuheit und Sensation zugleich. Die Deutsche Bauzeitung feierte die Teutschenthaler Siedlung als aufsehenerregendes Vorbild. Die Hallischen Nachrichten titelten am 24. Mai 1929 „Ländliche Kulturpolitik“. In der Berliner Illustrierten Zeitung vom 13. Oktober 1929 erschien ein Artikel unter dem Namen: „Eine Dorfschule über die man sich wundert“. Das Eislebener Tageblatt veröffentlichte den Beitrag: „Schulweihe in Teutschenthal – ein bedeutsames Werk ländlicher Kulturbestrebungen“. Und im deutschlandweit herausgegebenen Kränzchen – Illustriertes Mädchen-Jahrbuch lautete 1930 die Schlagzeile: „Deutschlands modernste Dorfschule“.

Die Einweihungsfeierlichkeiten standen am Ende eines fast drei Jahrzehnte währenden Ringes um das Bauvorhaben. Bereits seit der Jahrhundertwende plante man einen Schulneubau, der jedoch durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschoben werden musste. Die wirtschaftlich schwierigen Zeiten der Nachkriegsjahre verzögerten das Projekt abermals. Erst unter Amtsvorsteher Bruno Böttge konnten die Pläne angegangen werden. Zwischenkredite der Verbandssparkasse der Mansfelder Kreise und Städte in Eisleben sowie das Hauszinssteuereinkommen des staatlichen Wohnungsfürsorgefonds gewährleisteten die Finanzierung weitgehend.

Dringend notwendig wurde die Siedlung samt Schulneubau aufgrund gesellschaftlicher, sozialer und wirtschaftlicher Umwälzungen, die die bis dahin landwirtschaftlich geprägten dörflichen Strukturen grundlegend veränderten. Spätestens mit der Errichtung der Eisenbahnlinie Halle-Kassel 1863 kehrte das Zeitalter der Industrialisierung auch in Teutschenthal ein. Die reichen Braunkohlevorkommen der Region hatten neue Wirtschaftszweige angelockt. Große Tagebaue entstanden rund um den Ort. Ein Großteil der Bevölkerung arbeitete zudem in den Landwirtschaftsbetrieben des Agrarunternehmers Carl Wentzel. Neue Arbeitsplätze waren auch in der nahegelegenen Zuckerfabrik „Reußner & Co.“ (gebaut 1865) in Eisdorf, dem Kaliwerk „Krügershall“ (gegründet 1905), dem Molybdänwerk (seit 1914) in Teutschenthal-Bahnhof sowie in den zahlreichen umliegenden Teerschwelereien entstanden. Der daraus resultierende Arbeitskräftebedarf ließ die Einwohnerzahlen geradezu explodieren. Zählte man 1846 allein in Unterteutschenthal noch 1.003 Einwohner, waren es im Jahr 1900 schon 2.338.

Mit dem Bevölkerungszuwachs ging ein akuter Wohnungsmangel einher, was mitunter zu katastrophalen Verhältnissen führte. Nicht selten mussten zwei bis drei Familien in einer Unterkunft hausen. Auch die gestiegenen Schülerzahlen konnten mit den zur Verfügung stehenden Bildungseinrichtungen nicht mehr bewältigt werden.

Um der Lage Herr zu werden und auf der Suche nach Inspirationen und einem entsprechenden Konzept besuchte eine Delegation aus Gemeindevertretern das thüringische Hermsdorf. Bei der Besichtigung des dortigen „Dreißigfamilienhauses“ – einem Gebäude, das in den Jahren 1926/27 nach den Kriterien des fortschrittlichen sozialen Wohnungsbaus entstand – wurde man auf Ernst Trommler aufmerksam. Der Geraer Architekt war Schüler und späterer Mitarbeiter Henry van de Veldes (1863 – 1957). Als Vertreter des sogenannten „Neuen Bauens“ bekannte er sich zu dessen stark funktionalen Charakter. Als Leiter des Architekturbüros von Thilo Schoder gestaltete Trommler die Hermsdorfer Entwürfe maßgeblich mit und empfahl sich damit für das Projekt in Unterteutschenthal. Unter seiner Federführung wurde in zweijähriger Bauzeit für knapp 700.000 Reichsmark eine Wohnanlage mit integrierter Bildungseinrichtung aus dem Boden gestampft.

30 der insgesamt 44 Wohnungen verfügten über Ofenheizung; die übrigen 14 Wohneinheiten wurden zentral beheizt. Die Mietpreise lagen damals, abhängig von der Art der Beheizung, zwischen 31 bzw. 40 Reichsmark. Zur gemeinsamen Nutzung verfügte der Komplex über Waschräume, Wannenbäder und Trockenböden. Sämtliche Bauarbeiten und Innenausstattungen wurden von Handwerkern und Firmen aus Teutschenthal und Umgebung ausgeführt bzw. angefertigt. Eine Musterwohnung, die nach den Entwürfen Trommlers mit Möbeln für Küche, Schlaf- und Wohnzimmer eingerichtet war, sollte zukünftigen Bewohnern die Annehmlichkeiten des innovativen Wohnens vor Augen führen.

Auch das Gemeindeamt Unterteutschenthal bezog hier ein neues Quartier. Anfänglich noch im Block des heutigen August-Bebel-Hofs 4 untergebracht, zog die Verwaltung bald in das Eckgebäude an der Maerkerstraße, Ecke August-Bebel Hof um, wo sie bis 1999 verblieb.

Eigentümer der Siedlung war die Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft Unterteutschenthal GmbH. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie in Volkseigentum überführt. Ab 1994 wurden die Gebäude nach und nach an die Mieter verkauft.

Der ab 1928 im Zentrum der Siedlung errichtete Schulneubau blieb bis heute Eigentum der Gemeinde Teutschenthal. Die neue Pestalozzischule konnte nur dank der Befürwortung des preußischen Kultusministeriums umgesetzt werden. Die Lehranstalt sollte mit den Vorurteilen aufräumen, dass Dorfschulen primitiv seien und auf dem Lande „die Schweineställe besser gebaut wären als das Schulhaus“[1]

Die zweistöckige Bildungseinrichtung mit Turnhalle und zwei Schulhöfen verfügte im Kellergeschoss über eine Duschanlage mit Bassin und bot neben dem normalen Schulbetrieb auch Platz für eine Berufs- und Hauswirtschaftsschule. Die Innengestaltung des Gebäudes und die Ausstattung der Klassenräume folgten modernsten Konzepten: Um den Unterricht im Sinne des Reformgedankens aufzulockern, saßen die Schüler zu dritt an Rundtischen. Da die Aufmerksamkeit unter dieser Sitzordnung litt, kehrte man wenige Jahre später zur konventionellen Ordnung mit Klassenbänken und Blickrichtung zur Tafel zurück.

Während des Zweiten Weltkriegs kam der Schulbetrieb mehr und mehr zum Erliegen. Ab 1943 wurde der Unterricht durch ständigen Fliegeralarm immer wieder unterbrochen und fand in den letzten Kriegstagen gar nicht mehr statt. Stattdessen diente die Schule ab 1944 als Lazarett.

Mit dem Kriegsende wurde der Unterricht wieder aufgenommen. Durch die Errichtung des Bildungskomplexes „Am Stadion“, die heutige „Würdetalschule“, endete die Nutzung des Gebäudes zu Lehrzwecken. Seit 1986 dient der Bau als Kindertagesstätte. Bei der Umgestaltung wurde der repräsentative Haupteingang an der Maerkerstraße vermauert. Der Zugang war nur noch seitlich möglich. Erst bei Sanierungsarbeiten 2014 wurde die ursprüngliche Eingangssituation wiederhergestellt.

Die angrenzende Turnhalle diente den Schülern nicht nur für den Sportunterricht, sondern auch als Aula, Versammlungsraum und Zeichensaal. Dank seiner hervorragenden Akustik war er auch für den Gesangs- und Musikunterricht geeignet. Der 450 Plätze fassende Mehrzweckraum war mit einer Bühne und Empore ausgestattet, so dass auch Theaterstücke aufgeführt wurden. Der Raum stand den hiesigen Turnvereinen und der Theatergemeinde des Ortes zur Verfügung. Seit 1995 nutzt ihn der „Teutsche Theaterverein Teutschenthal“ als Aufführungsort.

Die modernen Bauten waren seiner Zeit nicht unbestritten. Viele Kritiker verdammten die Bauhausbewegung als „jüdisch“ und „bolschewistisch“. Der Spottname „Neu-Jerusalem“, wie die Teutschenthaler die neue Siedlung anfänglich nannten, ist nicht nur auf deren ungewöhnliche Bauweise mit Flachdächern zurückzuführen, sondern auch ein Ausdruck zeitgeistlicher Skepsis.

Als es nach wenigen Jahren Probleme mit der Dachentwässerung gab, erhielt das Schulgebäude schon 1939 ein Satteldach mit durchgehender Gaubenreihe. In dem zusätzlichen Geschoss wurden Lehrerwohnungen eingerichtet. Da auch die umliegenden Wohnblöcke zwischen 1953 und 1967 – ebenfalls infolge eindringenden Regenwassers – mit Satteldächern aufgestockt wurden, verlor die spöttische Bezeichnung ihren Bezug und geriet in Vergessenheit. Zwar wurde durch die neuen Dächer zusätzlicher Wohn- und Abstellraum geschaffen, gleichzeitig büßte die Siedlung aber ihr markantes Erscheinungsbild ein.

Der Gesamtkomplex blieb bis heute unvollendet. Da die ursprüngliche Planung einer vierklassigen Lehranstalt noch während der Bauphase verworfen wurde und stattdessen eine achtklassige Schule entstand, stiegen auch die dafür veranschlagten Baukosten von 182.000 auf 275.000 Reichsmark. Die Mehrkosten verhinderten den Bau eines symmetrisch angelegten Siedlungskarees. Der östliche L-förmige Trakt mit weiteren 20 Wohneinheiten wurde gestrichen. Stattdessen entstand in den 1930er Jahren an der Südostseite ein Ersatzbau. Dieses, von den Einheimischen als „langes Handtuch“ bezeichnete Mehrfamilienhaus, wurde vor einigen Jahren nach langem Leerstand wegen Baufälligkeit abgerissen. Der Platz ist inzwischen durch moderne Einfamilienhäuser überbaut.

Trotz starker baulicher Überprägung in Form von Um- und Anbauten ist die Teutschenthaler Bauhaussiedlung ein Musterbespiel für den frühen sozialen Wohnungsbau auf dem Lande und steht zu Recht seit den 1980er Jahren komplett unter Denkmalschutz. Dass diese Bedeutung nicht in Vergessenheit geriet, ist vor allem dem Engagement von Margarethe Gerlach zu verdanken, die im Laufe der Jahre zahlreiche Abbildungen und Informationen zusammentrug und eine Reihe von Schriften verfasste, auf denen auch dieser Beitrag weitgehend basiert. Darüber hinaus präsentierte sie 2014/15 in der Bücherei Teutschenthal eine kleine Ausstellung zur Geschichte der Siedlung.

 

Literatur:

Erich Eiselen, Schule in Unterteutschenthal. Deutsche Bauzeitung (Berlin) vom 19. Februar 1930.
Margarete Gerlach, Teutschenthal in alten Ansichten, Zaltbommel 1997.
Margarete Gerlach, Helmuth Gerlach: Teutschenthal in alten Ansichten, Band 3, Zaltbommel 2003.
Margarete Gerlach, 80 Jahre „Neu Jerusalem“ in Unterteutschenthal. Heimat-Jahrbuch Saalekreis 2009, Halle 2009.
Mike Leske: Schöne Grüße – Ansichtskarten und Lithografien aus Eisdorf, Teutschenthal & Teutschenthal-Bahnhof, Halle 2016.

[1] Deutsche Bauzeitung, 19. Februar 1930, Schule in Unterteutschenthal, S. 121.