Wachskinder: Magdeburger Familienbande des Biedermeier en miniature

Thomas Schindler und Petra Seemann | Ausgabe 1-2021 | Geschichte

Schaukasten mit Kinderszene, Vorderseite, Magdeburg nach 1800, Wachs, bossiert, bemalt; Inv. Nr. 33/108. Bayerisches Nationalmuseum, Bastian Krack
Schaukasten mit Kinderszene, Rückseite, Magdeburg nach 1800, Wachs, bossiert, bemalt; Inv. Nr. 33/108. Bayerisches Nationalmuseum, Bastian Krack
Darstellung des Carl Friedrich. Bayerisches Nationalmuseum, Bastian Krack
Darstellung der Marie Magdalene. Bayerisches Nationalmuseum, Bastian Krack
Schriftstück (1) auf dem Tisch. Bayerisches Nationalmuseum, Bastian Krack

Die Neubearbeitung von Museumsdepotstücken erbringt mitunter Erstaunliches. Im Bayerischen Nationalmuseum in München ist erst jüngst ein gläserner Schaukasten in den Fokus gerückt, der urspürglich aus Magdeburg stammt. Das als „Schaukasten […] mit Kinderszene“ altinventarisierte Stück entpuppte sich als dreidimensionales familiengeschichtliches Ego-Dokument. Es erlaubt nicht nur einen Blick in die Kinderstube einer kleinbürgerlichen Magdeburger Familie um 1800/1820.

Auf den ersten Blick: Kinderspiel um 1800

In dem gläsernen Schaukasten ist eine Zimmerkulisse inszeniert, in der drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, rund um einen mittig platzierten Tisch unterschiedlichen Tätigkeiten nachgehen. In zwei gegenüberliegenden Ecken des Kastens stehen gleichartige Polsterstühle, auf denen jeweils eine Kopfbedeckung liegt. Bei einem dieser Hüte handelt es sich um eine militärische Kopfbe­deckung, einen sogenannten Tschako („Schackelhaube“) aus der Zeit zwischen 1800 und etwa 1830/40, und bei dem anderen um einen zivilen Kastorhut oder frühen Zylinder mit breiter Krempe. An dem Stuhl, auf dem der Kastorhut liegt, springt ein kleiner Hund empor. Als zweites Tier ist in der Zimmerkulisse eine Katze zu erkennen, die einen Buckel macht und an einem Tischbein entlangstreift. Über dem Tisch hängt ein leerer Vogelkäfig, in dem einst vermutlich ein Vogel saß.

Das Mädchen trägt ein weißes Empirekleid mit hoher Taille. Ihre zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare betonen den Schmuck des Mädchens, eine Halskette und Kreolen. Mit ihrer rechten Hand wickelt sie einen Faden aus einem Korb, der vor ihr auf dem Tisch steht. In ihrer linken Hand hält das Mädchen Strickzeug und einen halbfertigen Strumpf. Die beiden Jungen sind deutlich kleiner als das Mädchen und in etwa gleichgroß. Einer der beiden ist mit einer Militäruniform aus Waffenrock und langer Hose bekleidet, die farblich und stilistisch zu dem Tschacko auf dem Stuhl hinter ihm passt. Er trägt seinen Waffenrock offen, sodass der weiße Unterrock mit goldenen Metallknöpfen zu sehen ist. Der Degen oder Säbel des Jungen steckt links in einer Scheide, die an einem unter der rechten Epaulette durchgeführten Schultergurt hängt. Außerdem hat er eine Trompete umgehängt und hält mit seiner linken Hand eine Peitsche. Er ‚reitet‘ auf einem Steckenpferd. Der andere Junge ist in einen zivilen Anzug gewandet und steht an einer Schmalseite des Tischs. Sein kurzer, eng sitzender Frack ist nicht zugeknöpft. Hierdurch sind sein Halstuch und sein helles, modisch gemustertes Hemd sichtbar. Als Beinkleider trägt er wadenlange Hosen, die in hohen Stiefeln stecken. Auf dem Tisch vor dem Jungen liegt ein mehrzeilig beschriebenes Blatt. Es sieht so aus, als ob er die Texte soeben verfasst hätte oder vorliest: „Meine liebe Schwester // Marie Magdalene // Wilhelmine Webern // ist geb: d 16ten October // 1792 // und ich Carl Friedrich // Weber bin geb: d 5ten Jan: // 1795 // Magdeburg d. 1. Appril // 1801.“. Ein zweites Schriftstück liegt ebenfalls auf dem Tisch und umfasst den folgenden Text: „Mein // lieber Bruder // Carl Eduard // Weber // ist geb: d 2te Julius // 1808“. Demzufolge steht auf den Blättern, um wen es sich bei den drei Dargestellten handelt. Aufgrund des gleichen Nachnamens liegt es nahe, die Kinder als Geschwister anzusprechen. Auffällig ist der große zeitliche Abstand von 16 Jahren zwischen der Geburt des Mädchens und dem jüngeren Knaben. Dieser Gesichtspunkt ist von hohem Interesse für die Interpretation des Stücks, weil damit klar ist, dass es sich nicht um eine Art Momentaufnahme mit Porträtcharakter handelt. Vielmehr hatte der Hersteller der Szene unterschiedliche Zeithorizonte zu einem fiktiven Narrativ kombiniert.

 

Auf den zweiten Blick: Kunsttechnologische Spurensuche

Der Schaukasten besitzt eine hölzerne Boden- und eine Deckplatte und ist durch die Verwendung von vier mundgeblasenen Glasscheiben allseitig einsehbar. Das Glas und die Bretter sind durch ein außen an den Kanten aufgeklebtes Textilband verbunden. Dieses sehr einfache Gehäuse steht im Gegensatz zu den darin präsentierten figürlichen Darstellungen, die durch eine faszinierende Vielfalt an Details und Materialien bestechen. Erst auf den zweiten Blick erschließen sich diese Feinheiten: Knöpfe und Besätze an der Kleidung der Knaben, die Ohrringe des Mädchens sowie Details an Degen und Gehstock sind aufwendig mit Blattgold veredelt. Der filigrane Vogelkäfig ist eine Konstruktion aus vielen einzelnen dünnen Messingstäben, die in eine Bodenplatte aus schneckenförmig gewickelter und geklebter Schur gesteckt sind. Bemerkenswert ist auch der auf dem Tisch stehende Korb mit aufgewickeltem Garn, aus dem ein hauchdünner Faden zum angefangenen Strumpf in der linken Hand des Mädchens führt. Für die Nadeln wurde ebenfalls Messingdraht verwendet; das Körbchen hingegen besteht aus mit Wachs ummantelter Schnur. Schließlich wurden auch die Schnurrhaare der Katze nicht einfach aufgemalt, sondern mit Gewebefasern plastisch dargestellt. Sowohl die Figuren als auch die Tiere und das Mobiliar sind komplett aus Wachs modelliert und anschließend teilweise sehr aufwendig bemalt. So lassen sich bei genauer Betrachtung an den Haaren des Mädchens die einzeln aufgemalten Haarsträhnen erkennen. Innenliegende Metalldrähte dienen bei filigranen Elementen als Stützkonstruktion für das leicht verformbare Wachs, so bei den Extremitäten der Tiere oder bei den Tisch- und Stuhlbeinen.

Die innenseitige Gestaltung von Boden und Decke ist einfach gehalten: Das obere Brett wurde mit einem grobfaserigem Papier kaschiert und die Bodenplatte nur mit einer dünnen Lasur versehen, sodass die Holzmaserung sichtbar bleibt. Gerahmt wird die szenische Darstellung durch innen montierte geraffte Vorhänge aus einem sogenannten Drehergewebe mit floralem Dekor. Die nicht sehr behutsame Art der Montage spricht hier für eine jüngere Datierung.

Sowohl der Schaukasten als auch die Innengestaltung haben zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Reparaturarbeiten erfahren. Diese folgten nicht dem heutigen Prinzip einer bestandserhaltenden Restaurierung: Beispielsweise wurden zahlreiche Brüche und Verformungen des Wachses großflächig und über die originale Oberfläche hinausgehend mit Wachs geklebt und stabilisiert, wodurch große Verluste der ursprünglichen Formgebung als auch eine Veränderung der Aufstellung einzelner szenischer Details entstanden. Auch die vorliegenden Übermalungen sind aufgrund ihrer variierenden Qualität unterschiedlichen Zeiten zuzuordnen. So wurde die farbliche Umgestaltung der Kleidung beider Knaben wie auch einiger weiterer Details sehr sorgfältig ausgeführt: Die blaue Uniform des Knaben mit Steckenpferd wie auch die versilberten bzw. vergoldeten Uniformknöpfe sind schwarz übermalt. Bezüglich des Gehäuses ist unklar, welche Einzelteile überhaupt zum originalen Bestand gehören. Die Textilabklebung und die Montage eines Griffes aus gebogenem Draht sind modern; dies belegen die Materialität sowie darunterliegende Reste eines marmorierten Papieres, das vermutlich zu einer älteren Verklebung gehörte.

 

Ein dritter Blick: Spuren im Archiv

Die archivalische Spur der namentlich Genannten lässt sich im Stadtarchiv Magdeburg aufnehmen. In der Personenkartei und den Adressbüchern ist ein Christian Gottlieb Weber als „Kaufmann“ und „Konditor“, der auch „Wachsminiaturen“ anfertigte, in der Schwertfegerstraße 1 erwähnt. Er wurde am 14. Dezember 1791 Bürger der Altstadt Magdeburgs. Wenige Tage später, am 17. Dezember, fand die sogenannte Proklamation, das Eheaufgebot, mit einer Wilhelmine Marie Weinroth in der St. Johannis-Kirche statt. Die Braut in spe war eine Tochter des bereits verstorbenen Druckers Johann Georg Weinroth aus Frankenhausen. Zeitlich komplementär zu diesem Anlass passt das Geburtsjahr des Mädchens im Jahr darauf. Als älteste Tochter wurde sie nach ihrer Mutter benannt. Unbekannt ist, ob der jüngere Sohn tatsächlich noch aus der Ehe mit Wilhelmine Marie Weinroth stammt oder eine andere Mutter hat. Die Kinderdarstellungen in dem Schaukasten sind im Sinne einer Rückschau erzählend angelegt. Bei dem Jungen auf dem Steckenpferd geht es offensichtlich um die Visualisierung von dessen Temperament und körperlichem Vermögen, seinem Mut und seiner Entschlossenheit, also seinem Kampfgeist. So wird er in der Uniform eines Kavalleristen, vielleicht als Signaltrompeter eines Ulanenverbandes, vorgestellt. Der zweite Junge und Verfasser der Texte trägt demgegenüber Zivilkleidung. Da er etwas schreibt oder liest, soll er wohl als umsichtig und abwägend und gebildet erscheinen. Das Mädchen strickt einen Strumpf, was als Fingerzeig auf die zeitgenössisch propagierten weiblichen Tugenden zu sehen ist, also auf deren Fleiß und Geschick bei der Hausarbeit, aber auch Zurückhaltung und Sparsamkeit und damit auf die ihr zugedachte (gut-)bürgerliche Existenz einer Hausfrau und Mutter hinweist. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass ein „Frdr. C. Weber“ bis 1850 als „Kaufmann und Conditor“ in den Magdeburger Adressbüchern nachzuweisen ist. Ein „C. E. Weber“ taucht darin alsSt[ädtischer].-Leih-Amts-Buchhalter“ auf, während von der Schwester, die vermutlich geheiratet hat und nun anders hieß, in den Adressbüchern keine Spur zu finden ist.

Sollte deren Vater Christian Gottlieb als Hersteller der Wachskinder gelten, so müssen diese vor 1841 entstanden sein, weil er ab diesem Jahr nicht mehr in den Adressbüchern genannt wird, also vermutlich spätestens 1840 verstarb. Nur zu welchem Anlass könnte er die kleine Szenerie entworfen haben? Dies ist uns zwar unbekannt, doch erscheinen gerade repräsentative Familienfeiern wie etwa ein Jubiläum oder ein Geburtstag denkbar. Oder sollte Friedrich Carl, der Verfasser der beiden Texte auf dem Tisch, sich selbst und seine Geschwister zu einem solchen Anlass modelliert haben? Er ist bis 1850 als „Kaufmann und Conditor“ in den Adressbüchern nachzuweisen, was angesichts der gleichen Berufsbezeichnungen bei seinem Vater die Anfertigung von „Wachsminiaturen“ sicher nicht ausschließt. Ein Indiz dafür, dass die Wachskinder-Szene auf ihn zurückgehen könnte, ist die Wahl der Ich-Form auf dem Blatt, das ihm in der Szenerie zugewiesen ist. Letztlich bleibt der Hersteller der Wachskinderszene gegenwärtig noch im Dunklen – hier besteht weiterer Forschungsbedarf.

Kinderbildnisse mit Porträtcharakter kamen im frühen 19. Jahrhundert in bürgerlichen Kreisen in Mode und sind dementsprechend zahlreich museal überliefert. Auf dieses Sujet spezialisierte Künstler und Handwerker standen dabei in einer Motivtradition, welche in die frühe Neuzeit zurückreicht. Das Bayerische Nationalmuseum besitzt mit seiner Wachskindergruppe eine kunsthandwerkliche dreidimensionale Variante dieses Sujets, für die bislang museale Parallelen unbekannt sind.