Wie alt ist das Jodeln im Harz?

Lutz Wille | Ausgabe 1-2020 | Volkskunde

Ein Benneckensteiner Naturjodler. (Notation E. Kiehl 2003)
Der Meisterjodler von 1925 K. Ungewitter (*1905) benutzte beim Jodeln die Hände als Schalltrichter (Foto H. Wille).

„Hol-di-o-hu-di“ klingt es zu uns herauf. Wir sitzen auf den obersten Rängen der Waldbühne in Benneckenstein, mein Freund, der Finkenkenner aus Flandern und ich. Er möchte das Finkenmanöver kennenlernen, das es in ähnlicher Form auch in seine Heimat gibt. Ruhig und langsam trägt der schöne Knabensopran den schlichten alten Harzer Naturjodler vor (Abb. 1). „Jodeln im Harz, ist das wirklich echt?“ fragt mein Gast aus Belgien skeptisch. Ich bejahe kurz und wende mich dann wieder dem Programm der Trachtengruppe zu. Jetzt singt ein Mädchenduett das bekannte Jodellied „In dem schönen Monat Mai“. Frisch und hell entfaltet sich der zweistimmige Jodelrefrain. „Drei Jodelwettbewerbe habt ihr hier im Harz, in Altenbrack, Hesserode und Clausthal-Zellerfeld. Das ist doch ein Import aus der Schweiz, wo ich das Jodeln auch schon gehört habe“, meint mein Besucher. Ich erwidere: „Den ersten Jodlerwettstreit gab es in Benneckenstein schon 1925“ und ahne, er hat versucht, sich kundig zu machen.

Nach dem Ende des Programms fragt er interessiert weiter: „Das besagt aber noch nicht, ob es das Jodeln im Harz schon immer gegeben hat“. Nun weiß ich, mein Freund will es genauer wissen, hat er doch selbst ein eingehendes Buch über die Finkenzucht in Volieren geschrieben. Beim Schönheitssingen der Finken in der Finkenarena ist mir aufgefallen, was für ein feines Gehör er hat. Abweichungen in der Tonlage und der Silbenfolge eines Finkengesangs hat er sogleich bemerkt. Und so frage ich ihn: „Ist Dir nicht aufgefallen, dass die Jodler in der Schweiz ganz anders klingen als hier im Harz?“ Verblüfft bleibt er stehen, ja, das falle ihm erst jetzt auf. Nun weiß ich, wie ich ihm das Jodeln im Harz vermitteln kann und erkläre:

Im Allgemeinen wird das Jodeln mit dem alpenländischen Raum in Verbindung gebracht. Doch das stimmt nicht. Jodeln ist ein weltweites kulturelles Phänomen. Es findet sich im schottischen Hochland wie in den Pyrenäen, Karpaten oder im Kaukasus, in Afrika und in Papua-Neuguinea ebenso wie in Nord- und Südamerika. Ursprünglich ein Signalmittel, findet es sich überall dort, wo in Gebirgs- und Waldregionen oder in weiten, unübersichtlichen, flachen Landstrichen eine Verständigung über eine größere Distanz notwendig ist. Dazu eignet sich ideal das textlose Singen auf Vokalisationssilben (z.B. La-hu-dü) bei häufigem schnellem Umschlagen zwischen Brust- und Falsettstimme (Registerwechsel) mit seinen weittragenden hohen Tonlagen.

Und überall wird anders gejodelt, es gibt viele regionale Formen mit eigenständigen Merkmalen. Der ursprüngliche Harzer Jodler besteht aus intervallisch aufgelösten Kadenzen ohne großen Melodiebogen Er kennt nur den einfachen, allenfalls den zweifachen Umschlag der Stimme in das Kopfregister und ist stets einstimmig. Es handelt sich um einen Wechsel zwischen dem Grunddreiklang mit dem Dominant- bzw. Dominant-Septakkord in enger Lage bei ausgesprochener Kürze der Melodik, sodass mitunter auch von einem Jodlerruf gesprochen werden kann.

Das Jodeln war früher im Harz unter den Waldberuflern (Köhler, Holzhauer, Holzfuhrleute) weit verbreitet. Durch die Befragung alter Harzer und durch einige wenige schriftliche Zeugnisse lässt es sich zumindest bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts belegen. So erzählt PRÖHLE 1851 aus Lerbach im Harz: „Auch den Knecht meines Wirtes, der jodeln oder wie man es hier nennt dudeln kann, lässt er hereinkommen, damit er ihm etwas vordudelt.“ 1 Und der Harzschriftsteller KOHL berichtet 1866: „Sie [Rehe und Hirsche] … ergreifen auch nicht die Flucht, wenn … die Köhlerjungen sich zurufen und laut in den Bergen jodeln und jauchzen, oder wie sie hier selbst sagen ledauzen.“.2 Insbesondere unter den Köhlern im Harz war das Jodeln weit verbreitet. So erzählt Karlo Ungewitter (* 1905 in Benneckenstein), der den Köhlern das Jodeln ablauschte, wenn die Köhler auf dem Kohlhai weit auseinander gewesen sind und fünf, sechs Meiler gebrannt haben, der Großknecht beim Stukenroden war oder der Köhlerjunge zum Holen von Quellwasser unterwegs, dann hat der Köhlermeister zur Verständigung gejodelt (Abb. 2).3 Spätestens als die Waldberufler beim Jodeln das Echo entdeckten entwickelte sich neben der Signalfunktion der schlichte freie Wald- oder Naturjodler.

Dieser schlichte Harzer Naturjodler ist heute nur noch selten zu hören. Er steht ganz im Gegensatz zu den heutigen Konzertjodlern, die auf Jodlerwettbewerben vorgetragen werden und sich durch große Virtuosität, klangvolle Sextsprünge, zahlreiche „Roller“ und Dreiklangszerlegungen über einen großen Tonraum sowie durch eine klare Gliederung und durch starke Ausdrucksintensität auszeichnen. Verschiedene Jodelschulen bzw. -stile haben sich im Harz entwickelt.

Und so fasse ich für meinen Finkenfreund aus Belgien noch einmal zusammen, um ihn ganz zu überzeugen: Das Jodeln im Harz ist von den Waldberuflern in enger Verbindung mit ihrer Lebens- und Arbeitswelt als Signalfunktion und als Ausdruck von Lebensfreude ausgeübt worden. Es wurde stets mündlich tradiert und war eine lebendige Volksmusikpraxis, die nicht mehr in Gebrauch ist. Die traditionellen Naturjodler sind heute weitgehend verklungen. Aufgrund der Funktion des Jodelns als akustisches Verständigungsmittel über weite, nicht übersehbare Entfernungen, kann angenommen werden, dass es auch in früheren Jahrhunderten – wie in vielen Mittelgebirgsregionen – üblich war, wobei ihm vor allem seine weitreichende Schallwirkung zugutekam. Die Harzer Naturjodler können als Regionalspezifika angesehen werden. Erst ab Ende des 18. Jahrhunderts sind Berührungen mit dem alpenländischen Jodeln möglich, als wandernde Sängergruppen aus Tirol das alpenländische Jodeln bis nach Amerika trugen. Gottfried August Bürger berichtet von solch einem Auftritt 1777 in Göttingen.4

Jodeln ist heute „in“ von New York über Hamburg bis Berlin. Über die Harzer Art zu jodeln bieten der Harzklub im Rahmen seiner Lehrgänge über Harzer Brauchtum und das Zentrum HarzKultur, Wernigerode, im Rahmen der Folklorewerkstatt jährlich mehrmals Kurse für Kinder, Jugendliche und Erwachsene an.