Totenkronen in Altmark und Elb-Havel-Winkel
Jochen Alexander Hofmann | Ausgabe 3-2022 | Geschichte | Rezensionen
„Diese Krone weihten tief betrübte Eltern. Der Totenkronenbrauch und seine Sachzeugen in Altmark und Elb-Havel-Winkel – ein fast vergessenes Gedenken“
Rosemarie C. E. Leineweber und Dieter Fettback, mit medizinhistorischen Krankheitszuweisungen von Gerhard Ruff, Hamburg 2021.
Zu beziehen bei: tredition GmbH, Halenreie 40 – 44, 22359 Hamburg. www.tredition.com
Broschur 29,80 €, ISBN 978-3-347-24789-5
Festeinband 38,– €, ISBN 978-3-347-24790
„Ein fast vergessenes Gedenken“ nennen die Archäologin Rosemarie Leineweber und der Ingenieur Dieter Fettback den einst in beiden christlichen Konfessionen verbreiteten Brauch der Totenkränze und Totenkronen. Sie setzen diesem Vergessen die gelehrsame Wucht von ca. 180 sorgfältig erfassten und analysierten Sachzeugnissen entgegen, die sie in der Altmark und dem Elb-Havel-Winkel noch auffinden konnten. Das Buch gliedert sich in zwei Abschnitte, zunächst einige Kapitel zur thematischen Einführung und beispielhaften Auswertung der mit den Sachzeugnissen verbundenen Informationen, danach einen umfangreichen Katalogteil. Rosemarie Leineweber erläutert knapp Geschichte und Formen des Totenkronenbrauchs, seiner Realien und der damit verbundenen Erinnerungskultur: bei der Feier der Beerdigung unverheirateter Personen als Himmels- oder Totenhochzeit wurden die Verstorbenen anstatt der Braut- mit Totenkränzen oder -kronen aus Zweigen, Draht, Glasperlen, Bändern etc. geschmückt.
Seit dem 18. Jahrhundert sei es üblich geworden, Totenkränze und -kronen nicht nur mit ins Grab zu geben, sondern sie zur Erinnerung an die Verstorbenen in den Kirchen auszustellen, zunächst auf Totenkronenbrettern, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in verglasten Totenkronenkästen oder –rahmen. Als die Kirchen später vielerorts von als überflüssig empfundenen Ausstattungsstücken „gereinigt“ wurden, gerieten die Realien des Totenkronenbrauchs in Privatbesitz, in Museen, oft gingen sie aber auch verloren.
Anschließend stellt sie zwei Totenkronenbretter aus Dobbrun vor, die für sie Auslöser ihres Interesses an diesem Thema waren. Sie konnte die auf den Objekten genannten verstorbenen Personen identifizieren (Gertrud Falcke 1703 – 1724 bzw. Johann Michael Falcke 1789 – 1812) und anhand der Kirchenbücher und anderer Quellen ihre Familien- und Lebensumstände auf dem „Hof zur Horst“ rekonstruieren. Dieses Beispiel verdeutlicht sehr anschaulich, welchen Quellenwert die Sachzeugnisse des Totenkronenbrauchs in Verbindung mit anderen Überlieferungsträgern haben können. Das gilt auch für die als Nächstes folgende Suche Dieter Fettbacks nach den Ursprüngen seines ungewöhnlichen Familiennamens, die auch ein Totenkronenbrett aus dem Jahre 1837 einbezieht. Dieses Exponat des Freilichtmuseums Diesdorf sei für ihn 2002 der Auslöser für seine umfangreichen genealogischen Forschungen in der Altmark gewesen, so Fettback. Aus der seither gewachsenen Datenbank konnte er auch für den Katalogteil des Buches schöpfen. Doch zunächst geht Rosemarie Leineweber auf die regionale Entwicklung und Überlieferung des Totenkronenbrauchs ein. Als ältesten Nachweis sieht sie die Darstellung von Totenkronen auf vier Kindergrabsteinen in Havelberg an, die zwischen 1565 und 1606 datiert sind. Der Brauch ginge damit in der untersuchten Region bis ins 16. Jahrhundert zurück. Weitere sehr frühe Belege hätten zudem archäologische Grabungen auf Friedhöfen gebracht. Historische und aktuelle Fotografien zeigen die Formenvielfalt und thematische Karten die einstige bzw. gegenwärtige Verbreitung dieser Realien. Aus 26 Kirchen der untersuchten Region seien die Sachzeugnisse noch vorhanden, ihre Existenz könne aber für 58 Orte (insgesamt 186 Objekte) belegt werden.
An einem Kapitel zu Sozialstruktur – Mortalität – Demografie hat auch der Arzt Gerhard Ruff mitgewirkt. Gemeinsam werten die Autoren die Angaben zu Alter und Geschlecht auf den dokumentierten Objekten aus und analysieren u.a. am Beispiel des Ortes Dambeck die Sterblichkeit im Kindes- und Jugendalter zwischen 1780 und 1888. Gerhard Ruff versucht mit der notwendigen Quellenkritik, die als Todesursachen in den Kirchenbüchern aufgeführten Krankheiten medizinisch zu deuten. Auf diese Analysen folgt der Hauptteil des Buches, der Katalog der erfassten Realien, alphabetisch nach Ortsnamen geordnet.
Die Totenkronenbretter, -kästen, -rahmen, aber auch Grabsteine und Epitaphe mit entsprechenden Darstellungen, werden im Stile einer kunsthistorischen Objektinventarisierung knapp beschrieben (Form, Maße, Alter, Herkunft) und meist durch eine Fotografie dokumentiert. Daran schließt jeweils ein „Familienblatt“ an, das die Verwandtschaftsverhältnisse der verstorbenen Person aufzeigt und z. T. auch den sozialen Hintergrund und die Todesumstände beleuchtet. Diese Informationen sind einerseits eine Fundgrube für Familienforscher, sie können aber auch für übergreifende Themen der Alltags- und Kulturgeschichte (Frömmigkeit, Mentalität, Demographie) erkenntnisbringend ausgewertet werden, wie es die Autoren im ersten Teil des Buches exemplarisch vorgeführt haben.
So ist das vorliegende Werk nicht nur geeignet, den Totenkronenbrauch in Erinnerung zu rufen und zur Bewahrung seiner Sachzeugnisse als „kulturhistorischer Denkmalkategorie“ beizutragen, wie es sich die Autoren zum Ziel gesetzt haben. Indem sie, ausgehend von den dokumentierten Objekten, familien- und alltagshistorischen Zusammenhängen nachspüren, entwickelt sich ihre Bestandsaufnahme vielmehr zu einer bemerkenswerten Studie zur Sozial- und Kulturgeschichte des nördlichen Sachsen-Anhalts.
Einziger Wermutstropfen ist wohl, dass das Buch als book on demand erschienen ist, d. h. nur direkt beim Verlag angefordert werden kann und nicht im regulären Buchhandel vorliegt. Es entstand in erstaunlich kurzer Zeit während der ersten Welle der Corona-Pandemie. Ein Ergänzungsband ist dem Vernehmen nach bereits in Vorbereitung.