In dem Musical “Ab in den Wald” rückt die Theaterregisseurin Louisa Proske einem urdeutschen Motiv zu Leibe
Im Interview mit dem Sachsen-Anhalt-Journal spricht Louisa Proske über die jüdischen Urheber des Musicals "Ab in den Wald", den Reichtum, den interkultureller Dialog hervorbringt, und die Faszination des Grimmschen Waldes in Zeiten von Umweltschutz und Klimakrise.
Hauke Heidenreich | Ausgabe 1-2023 | Interview | Kulturlandschaft
Frau Proske, Sie haben an der Oper Halle das Musical „Ab in den Wald“ inszeniert. Worum geht es in dem Musical? Wie kam es dazu und was war dabei Ihre Hauptinspiration bei der Umsetzung?
Stephen Sondheim und James Lapine, die Autoren von „Into the Woods – Ab in den Wald“, waren total fasziniert von Märchen, vor allem von den deutschen Märchen der Gebrüder Grimm. Sie wollten eine Geschichte erfinden, in der die Figuren von ganz unterschiedlichen Märchen – also Aschenputtel, Rotkäppchen, Rapunzel, die Hexe, und so weiter – sich im Wald treffen und miteinander interagieren und wollten damit neue, überraschende, aberwitzige Situationen herbeischaffen. Es geht also einerseits um rasante Situationskomik, andererseits werden aber auch sehr tiefschürfende Fragen verhandelt. Das Musical beginnt mit den Worten „Ich wünscht’ …“, die jede Figur einzeln ausspricht – die eine wünscht sich, auf den Ball des Prinzen zu gehen, der andere wünscht sich, dass seine Kuh Milch gibt, und das Bäckerpaar wünscht sich ein Kind. Märchen spielen ja bekanntlich „in einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat“. Sondheim und Lapine fragen sich, was Wünsche eigentlich sind und warum sie so eine Macht auf uns ausüben. Und auch: werden Wünsche entzaubert, entkräftet, banalisiert, wenn sie erfüllt werden? Kann die Erfüllung eines Wunsches unglücklich machen, sogar zerstörerisch wirken? Ich versuche, diese Fragen sowohl auf einer psychologischen als auch auf einer politischen Ebene zu stellen – denn wir leben ja in einer Gesellschaft, in der wir ständig dazu angehalten werden, uns durch individuelle Wünsche zu definieren und diese Wünsche dann auch möglichst schnell zu erfüllen. Das Musical deutet im zweiten Akt auf die zerstörerischen Auswirkungen einer solchen Einstellung, wenn sie maßlos wird – und versucht, auf einen Bewusstseinswandel hinzusteuern, wo das individuelle Wünschen durch gemeinschaftliche Anstrengung und Ziele ergänzt wird. Aber eine Spannung zwischen diesen beiden Kräften gibt es bis zur letzten Sekunde, wenn Aschenputtel mit einem neuen „Ich wünscht’ …“ aus der Gruppe heraustritt.
In einem Beitrag des MDR erwähnten Sie, man guckt in eine andere Welt am Theater: Was ist das für eine Welt bei „Ab in den Wald“, die wir da auf der Bühne sehen?
Ich versuche als Regisseurin immer – gerade wenn es um ernste Themen geht – das Publikum ein Stück weit zu verführen, zu locken, ihnen Lust zu machen, sich mit uns auf eine Reise zu begeben. Deswegen glaube ich, dass es wichtig ist, dass Bühnen- und Kostümbilder sehr sinnlich sind, dass sie uns zum Staunen bringen, dass sie Geheimnisse bergen, die uns Lust machen, tiefer in die Geschichte einzusteigen. Ich habe zu meinem wunderbaren Bühnen- und Kostümbildner Gideon Davey gesagt: Ich möchte keinen realistischen Wald auf die Bühne stellen, denn das finde ich langweilig, aber ich möchte trotzdem zusammen eine grüne Welt schaffen. Er hat dann dieses belaubte grüne Riesenzimmer konzipiert, in dem sich wie in einem Adventskalender immer neue Fenster und Türen und Portale öffnen … und dann haben wir das ergänzt durch den Kinder- und Jugendchor, die in erfundenen Rollen so etwas wie einen „Waldchor“ bilden – wuselnde Waldwesen, die dem Ganzen eine humoristische und surreale Note geben.
Die Märchen der Gebrüder Grimm und ihre Deutung spielen im Musical die zentrale Rolle. Was sagen uns diese Märchen in Bezug auf den Umgang mit Umwelt heutzutage?
Unser Umweltbegriff und Naturbegriff haben sich seit dem 19. Jahrhundert der Gebrüder Grimm enorm gewandelt – und natürlich noch viel mehr seit dem Mittelalter, dem Nährboden all dieser Märchen. Ich glaube sogar, dass das die Faszination dieser Märchen ausmacht, denn da wohnen die Menschen ja oft in kleinen, fragilen Hütten am Rande des Waldes oder sogar „tief inmitten des Waldes“, der eine zauberhafte, gefährliche, dem Menschen oft unbegreifliche Macht darstellt. Das ist eben eine vorindustrielle Welt, wo sich der Mensch noch nicht zum allmächtigen Herren der Natur aufgeschwungen hat. Ich glaube, diese Perspektive – und grundsätzlich andere Perspektiven, auch aus ganz anderen Kulturen, auf unser Verhältnis zu Natur und Umwelt – sind sehr wichtig, um unsere eigenen Einstellungen kritisch zu hinterfragen. Wir befinden uns ja in einem historischen Moment, wo wir auf sehr schmerzvolle Weise lernen, dass wir die Natur nicht bedingungslos dominieren und ausbeuten können, dass wir ein respektvolles und viel harmonischeres Verhältnis als bisher mit der Natur und ihren Kreaturen entwickeln müssen, um überhaupt auf diesem Planeten überleben zu können.
In der romantischen Literatur war der Wald ein wiederkehrender Topos. Warum reden so viele über den Wald? Was ist so faszinierend daran?
Der Wald war ja schon weit vor der Romantik stark mit kulturellen Bedeutungszuschreibungen aufgeladen. Mit der aufsteigenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert hat der Wald natürlich noch einmal einen ganz anderen Stellenwert eingenommen, als Fluchtort weg von der Zivilisation, als Projektions- und Sehnsuchtsort. Aber ich glaube, dass der Wald nicht eine, sondern ganz viele Bedeutungsebenen hat – gerade in Märchen ist er eben auch Ort der Transformation, der Emanzipation – wo man sich verliert, Fehler begeht, aber eben auch dem Einfluss der Eltern entkommt und wichtige Schritte ins Erwachsenenleben unternimmt – wie zum Beispiel das Rotkäppchen, das lernt, dass man Wölfen nicht vertrauen kann, auch wenn sie einen zunächst „ab vom Pfad“ Neues und Spannendes zeigen. Oder das Aschenputtel, eine junge Frau, die durch den Wald hindurch ihrer sadistischen Stiefmutter entflieht. Der Wald repräsentiert oft diesen chaotischen, gefährlichen Zwischenraum auf dem Weg von der Abhängigkeit des Kindes hinein in ein selbstbestimmtes Erwachsenendasein.
Wald und Boden als angeblich ursprünglicher Ausweis einer völkischen Identität sind beliebte Themen nicht nur in der rechten Szene. Wie kann die Kunst auch auf solche Deutungen antworten?
Das Musical „Ab in den Wald“ ist Teil unserer zweiten Spielzeit, die den Titel „Eine deutsche Spielzeit“ trägt. Es stehen Stücke auf dem Programm, denen deutsche Stoffe – also zum Beispiel Goethes Faust, die Märchen der Gebrüder Grimm, das erfolgreiche deutsche Theaterstück „Der goldene Drache“ und so weiter – zu Grunde liegen, die aber allesamt von nicht-deutschen Künstlern geschaffen und komponiert wurden. Es geht uns um die wichtige Frage, wie wir uns mit den Augen und Ohren anderer sehen und wahrnehmen und dabei ganz viel über uns lernen können – den Reichtum zu feiern, der dabei entsteht, wenn verschiedene Kulturen und Perspektiven in Dialog treten. So würde ich auch diese Frage beantworten. In dem Musical „Into the Woods“ interpretieren zwei amerikanische Juden und eingefleischte New Yorker, nämlich Stephen Sondheim und James Lapine, diese urdeutschen Geschichten von den Gebrüdern Grimm, die ja selber schon durch alle möglichen kulturellen Vereinnahmungen – allen voran natürlich die berühmten amerikanischen Disney-Märchenfilme – in das kulturelle Bewusstsein eingesickert sind. Dadurch entsteht etwas unvergleichliches Neues. Schon die Existenz und Aufführung dieses Kunstwerks an sich sind eine klare Antwort auf rechte Ideologien, die grundsätzlich Furcht vor Vermischung und Dialog schüren. Der Wald in „Into the Woods“ ähnelt in seiner wuselnden Hektik einem New Yorker U-Bahn Wagen, in dem Menschen unterschiedlichster Herkunft, Stadtneurotiker, Exzentriker und andere extreme Persönlichkeiten auf engstem Raum koexistieren.
Welche Produktionen sind an den Bühnen Halle noch geplant, in denen der Umgang mit der Umwelt im Fokus steht?
Im April kommt die Wiederaufnahme von „Ein Sommernachtstraum“, eine wunderbare Oper von Benjamin Britten. Sie basiert auf dem Theaterstück von William Shakespeare, das übrigens eine wichtige Inspiration für „Into the Woods“ war. In Brittens Oper begeben sich die Figuren ja auch allesamt in den Wald – der in der spannenden Inszenierung von unserem Intendanten Walter Sutcliffe als die innere Projektionswelt eines von seiner Ehe gebeutelten Theaterbesuchers dargestellt wird. Und die gefeierte Händel-Inszenierung „Orlando“ hat auch ganz viel Natur sowohl in der Musik – eine der bekanntesten und schönsten Arien heißt „Verdi piante, erbette liete“, übersetzt „Grüne Pflanzen, glückliche Gräser“ – als auch auf der Bühne – in diesem Fall dargestellt durch den Zerrspiegel und die Fetischisierung von sozialen Medien. Wir freuen uns auf Ihren Besuch!