Braunkohlenbergbau und Umsiedlungen in Mitteldeutschland

Günther Schönfelder | Ausgabe 2-2022 | Kulturlandschaft | Rezensionen

SAX-Verlag

Bergbau und Umsiedlungen im Mitteldeutschen Braunkohlenrevier, herausgegeben von Andreas Berkner und Kulturstiftung Hohenmölsen. Format: 28 x 24,5 cm, gebunden. 
(Sax-Verlag) Markkleeberg 2022, 528 Seiten mit 1.750 Abbildungen. 49,80 € 
ISBN: 978-3-86729-266-5

 

Der gewichtige, prächtige und höchst informative sowie sehr anschauliche Band (drei Kilogramm schwer und fünf Zentimeter dick) stellt ein wahres Kompendium dar. Es ist einem bedeutsamen und durchaus schwierigem Kapitel unserer Regionalgeschichte im Zusammenhang mit der großindustriellen Gewinnung von Braunkohle gewidmet. Das vorzüglich ausgestattete Buch enthält anhand zahlreicher Daten, Fakten und Zahlen die umfassende Kennzeichnung aller seit 1925 bis zur Gegenwart (Jahresende 2020) durch den Braunkohlenbergbau verlorengegangenen Ortslagen in den Gegenden und Teil-Revieren um Bitterfeld, Gräfenhainichen, Delitzsch, Leipzig, Borna, Altenburg, Zeitz, Weißenfels, dem Geiseltal, Halle (Saale), Röblingen/Amsdorf und Nachterstedt. Es sind insgesamt 147 Siedlungen, die ganz oder teilweise „überbaggert“ wurden. Davon waren über 54.000 Bewohner betroffen, die somit ihr Zuhause, ihre Wohnumgebung und ihre Heimat verloren. Ebenso kündet der Inhalt des Buches von erfolgreichen Umsiedlungen der Betroffenen, welche dann möglich geworden sind, wenn gemeinsam und umfassend alle Beteiligten die Vorhaben mehr oder weniger einvernehmlich umgesetzt haben. Als Beispiel dafür kann jener Gebietsteil von Hohenmölsen gelten, welcher auf die im Jahr 1998 abgeschlossene Umsiedlung der Gemeinde Großgrimma zurückzuführen ist. Die hier vor Ort ansässige Kulturstiftung übernahm nicht nur die Mit-Herausgeberschaft für den gewichtigen Band, sondern konnte ebenfalls bedeutende Mittel bereitstellen, um 3.000 Exemplare der Publikation, die neun Tonnen Papier erforderten, qualitätsgerecht und preisgünstig drucken und binden zu lassen. Mit der Vorlage dieses Buches wurde ebenfalls eine Lücke geschlossen, denn für die beiden anderen großen Braunkohlenreviere in Deutschland, das Lausitzer (140 Ortschaften, etwa 30.000 Betroffene) und das Rheinische (124 Ortschaften, etwa 43.000 Betroffene), liegen bereits derartige systematische Übersichten vor.

Da ein derartiger Wandel der Siedlungsstruktur und die umfassende Umgestaltung der Bergbaufolgelandschaft mit dem Ausstieg aus der Braunkohle-Verstromung nicht nur in unserem Revier wohl spätestens bis zum Jahr 2040 schließlich Geschichte sein werden, bietet der vorliegende Band gewissermaßen am „Ende des Braunkohlenzeitalters“ in der Region eine abschließende Bilanz. Die Abgrabung dieses Bodenschatzes zur Energiegewinnung, zunächst oberflächennah durch Schürfe und in sogenannten Bauerngruben zuwege gebracht, reicht hier lange zurück. Bekanntlich gelang der früheste urkundliche Nachweis der Gewinnung des Rohstoffs auf Lieskauer Flur nordwestlich von Halle (Saale) für das Jahr 1382. Damit gilt diese bisher älteste archivalische Nachricht nicht nur für das mitteldeutsche Revier, sondern wohl für das gesamte Bundesgebiet. Eine Hinweistafel als ein Element des reichhaltigen touristischen Straßenprojekts „Mitteldeutsche Braunkohlenstraße“ erinnert an den frühen einstigen Abbauort. Die Verwirklichung dieses auf die Gewinnung von Braunkohle bezogenen Vorhabens des Kulturtourismus dient sowohl dem Erhalt von Sachzeugen des Bergbaus wie ebenso dem Blick auf bildungsorientierte regional-geographische und regionalgeschichtliche Freizeitangebote. Vielerorts soll an den einstigen Bergbau und die Folgeindustrien erinnert sowie exemplarisch und umfassend auf Elemente der Folgelandschaft als regionaltypische Ensembles unserer Kulturlandschaft verwiesen werden. Zu all diesem bildet die Neuerscheinung einen reichhaltigen Fundus.

In den einleitenden und ergänzenden Kapiteln zur Übersicht in das Thema des Bandes über Mitteldeutschland wird zum einen der Bogen gespannt vom Braunkohlenbergbau mit der Siedlungsentwicklung und über die frühe Lagerstättensicherung bis hin zur aktuellen fach- und regionalplanerischen Braunkohlenplanung. Zum anderen fehlen fundierte Darlegungen zu notwendigen Entschädigungen und der Sozialverträglichkeit ebenso wenig wie zur Ausformung und Gestaltung der Umsiedlungen im Verlauf des zeitlichen Wandels über die Systeme hinweg. Ebenso werden in Übersichten Vergleiche gezogen zu den durch den Bergbau bedingten Umsiedlungen im Rheinischen Revier, Lausitzer Revier, Helmstedter Revier, in der Oberpfalz und in Nordböhmen um Most (Brüx), der bisher größten Bergbau-Umsiedlung in Mitteleuropa.

Gestützt auf umfangreiches Bild- und Kartenmaterial werden im Kernstück des Bandes zu jedem „verlorenen Ort“ in Mitteldeutschland detailreiche Angaben geboten zu den Umsiedlungen in allen Teilrevieren und Tagebaubereichen. Jede Umsiedlung wird auf einer oder mehr Doppelseiten mittels Text, Tabelle, Karte und Bild hinsichtlich der Charakteristik und Geschichte ausgewiesen. Auch Angaben zu Sachzeugen und zur Traditionspflege fehlen nicht. Die jeweiligen Ortsprofile weisen tabellarisch die Existenz der entsprechenden Siedlungen hinsichtlich ihrer Flächengröße, Orts- und Flurform, des zeitlichen Wandels der Ortsnamen sowie nach der Einwohnerentwicklung aus. Ebenso werden Meilensteine zur Ortsgeschichte von der urkundlichen Ersterwähnung bis zur gegenwärtigen Flurverfassung geboten. Besonders ansprechend und aussagefähig muten die Kartengegenüberstellungen an. Ausschnitte früherer Ausgaben von Blättern der TK 25 sind aktuelle gleichgroße farbige Luftbild-Kärtchen gegenübergestellt. Diese bieten in jeweils graphisch besonderer Art und Weise den Vergleich der einstigen Ortslage und ihrer Umgebung von damals und heute.

Ideengeber, Autor, Koordinator und Schriftleiter des umfangreichen Vorhabens ist Prof. Dr. Andreas Berkner, ein langjähriger und profunder Kenner der Entwicklung von Bergbau und Folgelandschaft in den Braunkohlenrevieren Mitteleuropas. Der studierte Geograph an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg beschäftigte sich schon während seines Studiums mit dieser Thematik. Er wurde 1987 dort mit einer Arbeit zu Braunkohlenbergbau und Landschaftsdynamik promoviert und arbeitete ab 1992 als Referatsleiter für Braunkohleplanung der Planungsregion Leipzig. Seit 2000 trägt er als Leiter dieser Planungsstelle beim regionalen Planungsverband Leipzig-Westsachsen Mitverantwortung für die Regionalentwicklung. Nach seiner Habilitation an der Universität Leipzig 2001 ist er als Hochschullehrer gleichfalls an mehreren Hohen Schulen in Mitteldeutschland tätig.

Ihm und seinen vielen ehrenamtlichen Mitstreitern, über 30 an der Zahl, gelang es in einem Zeitraum von fast 9 Jahren, den gewichtigen Band der Öffentlichkeit darzubieten. Dieses produktive Netzwerk bürgerschaftlichen Engagements führte engagierte Heimatforscher, direkt Betroffene sowie traditionsbewusste Bergleute und diverse Wissenschaftler zusammen. Neben den präzisen fachkundigen Darlegungen zu allen Umsiedlungen im Revier sind ebenfalls die beispielhaft beigefügten Dokumente, z. B. manche dazu geschlossenen Verträge zwischen Staat/Kommune einerseits und dem Bergbauunternehmen andererseits auch zum Wohle der Betroffenen sowie Verzeichnisse der verwendeten Archivstücke und Literatur bedeutsam. Die praktikabel verzeichneten Literaturangaben umfassen die wichtigen Titel zu Thema und Region. Seien dies nun wissenschaftliche Abhandlungen, Planungsdokumente oder heimatkundliche Darlegungen einzelner Details im Revier.

Alles in allem ist eine umfassende Darstellung der Umsiedlungen im Mitteldeutschen Braunkohlenrevier gelungen. Dem vielfältigen Autorenkollektiv und nicht zuletzt dem sehr erfolgreich netzwerkenden Schriftleiter Andreas Berkner verdanken wir eine vergleichbare, hoch informativ inhaltsreiche, treffend illustrierte und dennoch kurze und prägnante Form einer Chronik des Bergbaus auf Braunkohle und der Folgelandschaft in Mitteldeutschland. Dieser Fundus steht offenbar ganz im Gegensatz zu manchen, oft zu langen wortreichen historiographischen Erzählungen, welche manchmal gar im Übermaß persönliche Ansichten des jeweiligen Schreibers zu beinhalten pflegen.