Burgstall war nicht Isenschnibbe – Wie ein weiteres Massaker an KZ-Häftlingen verhindert werden konnte
Fred Frome | Ausgabe 1-2021 | Geschichte
Die 9th U.S. Army befreite Mitte April 1945 den gesamten Norden Sachsen-Anhalts, zuvor wurde das Ziel Elbe erreicht: 12. April – Tangermünde, Schönebeck, 13. April – Heinrichsberg, Rogätz, sogar Werben, Barby und Wittenberge.[1] Vorauskommandos entdeckten in Farsleben am 12. April Waggons mit sogenannten Austauschjuden aus dem KZ Bergen-Belsen, von Lok und Begleitmannschaften verlassen. Es war einer von drei Zügen Richtung Theresienstadt – Ergebnis einer Bitte, die „7500 Lagerinsassen (Austausch-Juden) … hier weg(zu)holen…, da dann auch auf diese Weise wieder Platz für mindestens 10.000 KL-Häftlinge geschaffen wird.“ [2] Der Bedarf war dringend, denn viele Transporte waren nach Belsen unterwegs. Mehrere dieser Züge blieben im Raum Gardelegen stecken. Mehr als eintausend KZ-Insassen vieler Nationen wurden in der Feldscheune Isenschnibbe eingeschlossen, verbrannt oder erschossen. Die am 14. April 1945 einrückenden Amerikaner ließen die Opfer in Einzelgräbern bestatten.
Die Bergen-Belsener Historikerin Diana Gring beschreibt dies in verschiedenen Artikeln über die „Todesmärsche und das Massaker von Gardelegen“; und dazu ein weiteres Schicksal:
„In Burgstall, wohin man mehr als 500 Häftlinge eines Transportes gebracht hatte, konnte der Bürgermeister zusammen mit einem Rechtsanwalt durch einen fingierten ›Gegenbefehl‹ die von der SS angesetzte Erschießung der Häftlinge verhindern.“[3] Diese lapidare Notiz war der Ausgangspunkt für den hier folgenden Bericht.
Seit dem 9. April waren Häftlinge der SS-Baubrigade III aus verschiedensten Lagern des KZ Mittelbau Dora in zweitägigen Fußmärschen über den Harz getrieben worden. Die Irrfahrt von Wernigerode durch die Magdeburger Börde endete am 11. April 1945 in Letzlingen, das bombardierte Gleis verhinderte die Weiterfahrt nach Gardelegen. Teile des SS-Kommandos setzten sich ab. Ein Luftangriff ließ viele Insassen fliehen, viele starben bei so genannten „Zebrajagden“ oder wurden zum Zug zurück gebracht. Der Überlebende Lucien Colonel[4] berichtete, es wäre auch „Volkssturm bewaffnet mit Gewehren eingesetzt“ worden. Ein anderer, George Rougier, schilderte, „die aus dem Wald zurückkommenden Häftlinge (wurden) aufgeteilt und sofort per Fußmarsch in Richtung Burgstall in Marsch gesetzt“.[5] Über Nacht ging es in Richtung Osten durch die Colbitz-Letzlinger Heide, über das Gelände der Heeres-Versuchsanstalt Hillersleben.[6] Viele wurden bei Dolle per Genickschuss getötet, Verwundete mit Gewehrkolben erschlagen oder mit dem Bajonett erstochen. Im März 1949 wurden Exhumierungen angeordnet[7] und 66 Tote in der Gedenkstätte Dolle beigesetzt.
In Burgstall, etwa 5 km weiter östlich, erhielt das SS-Kommando per Kurier „Befehl von oben, sofort umlegen!“ – „Der Motorradfahrer fährt dann weiter (zu) Möhring“.[8] Ein weiteres ausführliches Dokument aus der Akte 492 schildert den Ablauf wie folgt:
„Der SS-Führer lässt die drei Kolonnen in einer stacheldrahtumzäunten Viehkoppel zusammenschließen. Dann nimmt er Rücksprache mit dem Ortskommandanten Möhring und fordert ihn zu einer Gestellung eines Gräberkommandos auf. Möhring ersucht die SS-Führer, die Erschießung zu unterlassen. Umsonst scheint alles Bemühen Möhrings. In seiner Not ruft er den Rechtsanwalt Pett zu Hilfe, der nach Burgstall infolge eines Bombenschadens evakuiert ist. Dieser kennt die Sturheit der SS in Befehlssachen und sieht die Schwierigkeit und Dringlichkeit der Sache sofort, dass er nur mit außergewöhnlichen Maßnahmen zum Ziel kommen kann. Er fordert in der Tarnung eines Heeresrichters der durchziehenden Wehrmachtsdivision sofort die SS zu einer kurzen Besprechung. In wenigen Minuten sind sie zur Stelle. Pett sieht nicht nur die Gefahr für die Häftlinge, sondern auch für das Dorf. Von den SS-Führern erfährt er, dass sich die KZ-Kolonne aus Angehörigen verschiedener Nationen zusammensetzt … Unter ihnen wurden noch ca. 40 Juden geschätzt.“[9]
Argumentation und Gegenbefehl [10] waren erfolgreich, die Fünfhundert gerettet. Einheiten der 9th U.S. Army erreichten am folgenden Tag Burgstall. Es war der 13. April 1945, der Tag von Isenschnibbe.
Das Schicksal der Geretteten ist bisher nahezu unbekannt, selbst Parker (s. Fußn. 1) kannte allein Isenschnibbe. Lucien Colonel erwähnte 1968, als er den Ort Burgstall wiedererkennt, er und andere seien dort über Nacht versteckt worden.[11] Die Pensionsbesitzerin Else Bading berichtete, die „Häftlinge lagerten nach der Verhinderung der Erschießung durch Pett und Möhring“ vor ihrem Haus, „holten sich Wasser, haben gekocht“.[12]
Klarer ist dagegen das Schicksal der Retter. Möhring führte in Burgstall einen Baubetrieb. Die Sekretärin schrieb am 12. April 1945 den von Pett begonnenen Gegen-Befehl zu Ende, Pett und Möhring unterzeichneten und übergaben ihn an die SS.[13] Bereits am 15. April 1945 wurde Möhring „automatisch verhaftet … durch amerikanische MP. Seit dieser Zeit interniert“ [14], denn er ist Gefangener Nr. 542 518 im britischen CIC V Staumühle.[15] Das Spruchgericht Nr. 20 in Hiddesen verurteilte ihn am 26. November 1947 zu 3.000,00 RM Strafe.[16] Am 2. Dezember 1947 wird seine Entlassung verfügt – „Die Anklagebehörde ist an einer Fortdauer der Internierungshaft nicht interessiert, da der Internierte – erwartungsgemäß – keine Freiheitsstrafe mehr zu verbüßen hat.“ [17] An sich war Möhring unschuldig, er hatte ein Jahr zuvor wahrheitsgemäß zu Protokoll gegeben: „29. 8. 1946 – In der russischen Zone entnazifiziert. Rückgabe des sequestrierten Betriebes an mich“.[18] Möhring starb 1977 achtzigjährig in Burgstall, am Morgen seiner Goldenen Hochzeit.
Der Augenzeuge Andreas Schulze kennt Hermann Pett „schon lange, haben 1915 gemeinsam im 1.Weltkrieg gedient.“ Seit 1919 war Pett Lehrer in Burgstall, 1920 heiratete er in Hamburg Ella Matthes, sie wohnte dort, stammte aber aus Meerane.[19] Pett studierte Jura, unklar ist wo, er war 1928 – 1933 Mitglied im Studentenbund, aber nie Partei-Genosse. Verschiedene Dokumente belegen, dass er bereits Mitte der 1930er ernsthaft mit der NSDAP bis hin zur Reichskanzlei in Konflikt kam.[20] Trotzdem: „Anfang 1939 erhielt Anwaltsassessor Hermann Pett die Zulassung am Amtsgericht Spandau und Landgericht Berlin“.[21] 1938 kauften Petts ein Haus in Burgstall. Hermann Pett war von Januar 1940 bis Mai 1944 Kriegsgerichtsrat bei der Feldkommandantur 748 in Rennes.[22] Wegen einer „Differenz mit dem leitenden General der Abt. III des OKH“ wurde er entlassen.[23]
Exemplarisch war seine Verteidigung des 70jährigen Bürgers Stahlberg in Burgstall. Als der in der Haft verstarb, hielt Pett in Uniform die Traueransprache.[24] Der Hintergrund des Verfahrens war folgender: ein Viehhändler hatte im September 1943 Bürgermeister Friedrich Paasche im Gasthof einen Witz zu Hitler erzählt: „Im 1. Weltkrieg ist ein Gefreiter zu wenig gestorben“. Beide verbüßten zehn Monate Gefängnis.[25] Paasche hatte den Witz weitergetragen, die Gestapo erfuhr davon, so wurde auch Stahlberg Opfer.
Hermann Pett war vom 9. bis 27. Januar 1948 auf Basis des Befehls 201 des Alliierten Kontrollrats durch die K5, Sonder-Untersuchungsorgan der Kriminal-Polizei, als „Kriegsverbrecher“ inhaftiert.[26]26 Im Verfahren brachte seine Frau zahlreiche entlastende Dokumente bei,[27] u.a. Zeugnisse aus der Berliner und Burgstaller Nachbarschaft, die Petts Regimekritik bezeugten. Am 21. Juni 1949 wurde das Verfahren eingestellt, weil der „Kriegsgerichtsrat in Frankreich dort nicht als Kriegsverbrecher gesucht wird… die Anwälte, Georgel und Morice, sagen entlastend aus.“ [28] Pett war danach wieder Anwalt in West-Berlin und verstarb am 5. August 1953 im Krankenhaus Wilmersdorf an den Folgen eines Motorradunfalls.[29]
Die gemeinsame Forschung vor Ort zu den Geretteten hatte bisher einen Erfolg: Das Trauungsbuch der Kirchgemeinde Burgstall vermerkt die Hochzeit des katholischen Österreichers Aloys Ziegler mit Elfriede Finke. Alois Ziegler (*12. 5. 1909 in Ve(i)tsch/ Steiermark) ist in Dachau als Nr. 30347, Buchenwald Nr. 45537, registriert.[30] Ihr Neffe Dieter Finke erinnert die Übernachtung der 500 u. a. in der Scheune Fehlhauer in Sandbeiendorf.
Große Hilfe erwiesen Albrecht Will und Daniel Wegener aus der Gruppe regionaler Foscher (GdR, siehe Text von Albrecht Will, Heimatforscher wollte ich nie werden), ebenso wie in Burgstall Frau Meyer und die Schwiegertochter von Familie Möhring.
[1] Alle vorstehenden Daten nach: „Conquer – The Story of Ninth Army 1944 – 1945“,
Colonels Theodore W. Parker Jr. & William J. Thompson, Pickle Partners Publishing, e-book von Amazon.co.uk, Zugriff am 10.12.2020.
[2] The National Archives (Großbritannien), WO 235/21, Dokument 11 – Schreiben KZ-Kommandeur Kramer vom 1. März 1945 an den Chef der Amtsgruppe D im SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt Richard Glücks.
[3] Gring, Diana: Die Todesmärsche und das Massaker von Gardelegen. NS-Verbrechen in der Endphase des Zweiten Weltkrieges, Archiv Gardelegen 1993, S. 17.
[4] Archiv Gardelegen, Ordner 414 Mappe 6 D/W Todestransport KZ „Dora“ Wieda-
Letzlingen E B10 Bl. 19/20. Bei den Ordnern 414 und 492 handelt es sich um Loseblattsammlungen zeitüblicher maschinengeschriebener Abschriften, z.T. bereits von Abschriften; im Weiteren wird die ausführliche Bezeichnung reduziert auf Ordner-Nr. und Blatt-Nr.
[5] Archiv Gardelegen, Ordner 414, E B3 Bl. 21/22.
[6] Vgl. Dell, Susanne; Schwenecke, Reinhard: „Das Altmarkdorf Letzlingen“, Kapitel „Das Kriegsende 1945“, S. 117–124; Zugvogelverlag Wenzel, Neualbenreuth 2014.
[7] Archiv Gardelegen, Ordner 492, Bl.1/2 und 52/53.
[8] Archiv Gardelegen, Ordner 492, Bl. I-6.
[9] Archiv Gardelegen, Ordner 492, Bl. I-19/20 Bericht gez. Pett, undatierte Kopie.
[10] Befehl und Gegenbefehl fehlen allerdings in den Akten.
[11] Archiv Gardelegen, Akte 414 Bl. 19/20.
[12] Archiv Gardelegen, Akte 492 Bl. I- 12.
[13] Archiv Gardelegen, Akte 492 Bl. I-8 bis 10; Befehl und Gegenbefehl fehlen allerdings.
[14] Bundesarchiv Koblenz (BAK), Akte Z 42-V/1171 (Mikrofilm negativ) Bl. 12; Möhring handschriftlich, im Weiteren nur BAK und Seitennr.
[15] CIC 5 – Civilian Internment Camp No. V, nördl. Paderborn.
[16] BAK, Bl. 53.
[17] BAK, Bl. 53.
[18] BAK, Bl. 12/13, Möhring handschriftlich.
[19] Heiratsurkunde 277 A vom 30.3.1920, Standesamt Hamburg.
[20] Landesarchiv Sachsen-Anhalt, K 6-2 Nr 3202, Pett.
[21] www.reinhardhillebrand.de, Geschichte der Berliner Anwaltschaft, abgerufen Januar 2021.
[22] Bundesarchiv Freiburg Pers 6/253827.
[23] Archiv Gardelegen, Akte 492 Bl. I-8 bis 10.
[24] Archiv Gardelegen, Akte 492 Bl. I-3/4 – eine sehr positive Einschätzung Petts durch die Antifa Burgstall vom 11.1.1946.
[25] Landesarchiv Sachsen-Anhalt, K 6 -2 Nr. 1483 Paasche.
[26] BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt. XII. Allg. Sachabl. 108/56, Bl. 46, Urteil des Sondergerichts Magdeburg vom 24.3.1944.
[27] Landesarchiv Sachsen-Anhalt, K 6-2 Nr 3202 Pett.
[28] Ebenda.
[29] Totenschein 1641 C Standesamt Berlin-Schmargendorf vom 7. 8. 1953.
[30] Arolsen-Online-Archiv (https://arolsen-archives.org/suchen-erkunden/suche-online-archiv/), Zugriff Oktober 2020. Beide Schreibweisen sind überliefert.