Christian Zschieschang: Das Hersfelder Zehntverzeichnis und die frühmittelalterliche Grenzsituation an der mittleren Saale.
Eine namenkundliche Studie
von Ulrich Wenner | Ausgabe 4-2017 | Rezensionen
Böhlau Verlag Köln Weimar Wien 2017.
(Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 52).
240 S., 40 €
ISBN 978-3-412-50721-3
Das Hersfelder Zehntverzeichnis (HZV) stand schon häufig im Fokus der Forschung, besonders von Historikern und Namenkundlern, die sich mit dem Gebiet zwischen Harz und Unstrut, Saale und Mansfelder Land beschäftigen. Die im 9. Jahrhundert entstandene Quelle, die in einer wohl sehr exakten Abschrift aus dem 11. Jahrhundert überliefert ist, listet in vier unterschiedlichen Blöcken Orte (und Burgen) in einem klar bestimmbaren Gebiet auf, die gegenüber dem Kloster zehntpflichtig waren, so dass daraus Aussagen zu Macht- und Abhängigkeitsstrukturen im Frankenreich abzuleiten sind. Die vorliegende Publikation entspringt einem interdisziplinären Forschungsprojekt, das sich mit dem sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel in Grenz- und Kontaktzonen in Ostmitteleuropa im Mittelalter beschäftigt. Der Blick wird also auf eine Region gerichtet, die durch das Neben- und Miteinander von deutschsprachigen und slawischen Toponymen gekennzeichnet ist. Das HZV wird als Ausgangspunkt genommen, um die Ortsnamen des Gebiets in ihrer Gesamtheit zu analysieren, d.h. es werden auch Orts- und Wüstungsnamen herangezogen, die sich nicht im Verzeichnis finden. Durch diese Erweiterung des Arbeitsgegenstandes ist es möglich, ein umfassendes Bild von der Ortsnamenlandschaft zu gewinnen. Methodisch wird das durch eine Gliederung des Korpus in drei Kolumnen gelöst: In Kolumne 1 sind die im HZV aufgeführten Namen zusammengefasst. Die nicht darin enthaltenen
Toponyme werden weiter danach untergliedert, ob die Ortsnamenvon Hans Walther in den „Namenkundlichen Beiträgen zur Siedlungsgeschichte des Saale- und mittleren Elbegebietes bis zum Ende des 9. Jhs.“ bearbeitet worden sind (Kolumne 2) oder nicht (Kolumne 3). Diese Unterscheidung wird damit begründet, dass Walther sich vor allem auf ältere Ortsnamenbildungen stützt. Um in die Analyse einbezogen zu werden, müssen drei Bedingungen erfüllt sein: 1. der Ort / die Wüstung muss genau lokalisiert werden, 2. es müssen historische Namenbelege existieren, auf deren Grundlage 3. eine sprachwissenschaftlich fundierte Etymologie gegeben werden kann. Die linguistische Deutung der Ortsnamen ist demnach lediglich ein Element dieses Buches, stellt also nicht den Hauptzweck dar. Im Hinblick auf die Lokalisierung oder die Etymologie kommt der Autor in einigen Fällen zu Ergebnissen, die von bisherigen Zuschreibungen abweichen, was sicher zu Diskussionen führen dürfte: So wird z. B. der im HZV als Donichendorpf verzeichnete Name nicht zum heutigen Ortsnamen Angersdorf, sondern zu einem Flurnamen Tönicken gestellt. Unter 1.6. werden dann problematische Fälle danach dargeboten, ob eine Klärung möglich war oder nicht.
Der Textteil des Buches gliedert sich in fünf Hauptkapitel. In der Einleitung werden Ziele und die Untersuchungsmethodik erläutert, die Quelle vorgestellt und ein Überblick über den Erfassungs- und Bearbeitungsstand der Ortsnamen und Wüstungen des Untersuchungsgebiets gegeben. Die Kapitel 2 und 3 präsentieren den Befund an Ortsnamen, in Kapitel 2 die slawischen, in Kapitel 3 die deutschsprachigen, die deutlich in der Überzahl sind, Kapitel 4 widmet sich kurz den Burgnamen.
Die Präsentation der Ortsnamen geschieht nach verschiedenen Gliederungsprinzipien: einerseits nach dem Vorkommen im HZV (Anordnung nach Kolumnen 1, 2, 3), zum anderen nach einer chronologischen Zweiteilung in ältere und jüngere Namentypen, festgemacht an der Art der zweiten Namenkomponente (Suffixe, Kompositionsglieder), die dann die untergeordnete Ebene darstellen. Auf eine weitergehende chronologische Feindifferenzierung wird an dieser Stelle bewusst verzichtet und auf den relativen Charakter solcher Abfolgen sowie auf die zeitliche Überlappung der Produktivität von Ortsnamentypen hingewiesen, was anhand der Abbildung 1 für die Slavica verdeutlicht wird.
Jeder Ortsnameneintrag enthält frühe urkundliche Belege, eine sehr knapp gehaltene Etymologie und Literaturangaben. Im Mittelpunkt der sprachlichen Analyse steht die Art der Basis- bzw. Bestimmungswörter, mit denen sich das behandelte Zweitglied verbindet. Sie werden in übersichtlichen Tabellen dargeboten und kommentiert. Bereits hier lassen sich erste Rückschlüsse auf die Zeit und die Art des Besiedlungsvorgangs ziehen. So geht der häufigste Ortsnamentyp auf -dorf vor allem Verbindungen mit ein- oder zweigliedrigen Personennamen ein, was als Indiz dafür gewertet werden kann, dass der Landesausbau hier durch die regional ansässige Oberschicht gelenkt wurde. All diese Aussagen münden schließlich in Kapitel 5 in eine siedlungsgeschichtliche Interpretation des Namenbefundes. Sie umfasst u. a. Aussagen, die sich aus den Ortsnamentypen gewinnen lassen, die Stellung der nicht im HZV überlieferten Orte, eine allgemeine chronologische Einordnung sowie die Bestimmung von unterschiedlichen Siedlungsarealen. Neben dem Harzgebiet, das durch eine Vielfalt an Bildungstypen gekennzeichnet ist, was auf eine frühe und intensive Besiedlung hinweist, lassen sich südlich davon ein von deutschsprachigen Namen dominiertes westliches und ein durch (ältere) slawische Namentypen geprägtes östliches Areal unterscheiden. Auf den Umstand, dass die Saale im Frühmittelalter nicht so eine scharfe Trennlinie zwischen deutschsprachigen und slawischen Bevölkerungsgruppen bildete wie gemeinhin angenommen, weist der Autor mehrfach hin.
Visualisiert werden einzelne Ergebnisse auf 21 farbigen Tafeln, die den Abschluss des Buches bilden. Zudem beinhaltet der Anhang eine Auflistung der im HZV vorkommenden Namen, ein Ortsregister erleichtert den Zugriff bei der Namensuche.
Die Publikation stellt sehr eindrucksvoll unter Beweis, wie die Namenkunde für siedlungsgeschichtliche Aussagen nutzbar gemacht werden kann. Andererseits zeigt der Autor aber, dass eine Eindeutigkeit bei der Interpretation von Sprachmaterial häufig nicht gegeben ist und warnt daher vor voreiligen Schlüssen, was anhand der Beispiele ‚Friesenfeld‘ und ‚Hassegau‘ demonstriert wird.
Wenn mit diesem Buch auch eine wissenschaftliche Abhandlung vorliegt, die sich der in der Namenkunde verwendeten Terminologie bedient und besonders die Erklärung einiger Darstellungstypen etwas kompliziert geraten sind, ist es dennoch sehr gut lesbar. Es ist als Lektüre all denjenigen zu empfehlen, die sich für die Besiedlungsgeschichte und Ortsnamen dieser Region im Süden Sachsen-Anhalts interessieren.