Das Rathaus in Wolfen – ein Haus mit wechselvoller Geschichte

Manfred Gill | Ausgabe 4-2022 | Geschichte

Einst Direktions- und Forschungsgebäude, heute Rathaus von Bitterfeld-Wolfen.  Foto: Sebastian Berger, Stadt Bitterfeld-Wolfen.
Das Gebäude 041 unmittelbar nach seiner Fertigstellung 1938. Foto: Industrie- und Filmmuseum Wolfen/Kreismuseum Bitterfeld.
6. März 1953, die sowjetische Generaldirektion lässt anlässlich des Todes von Stalin das Gebäude Trauer beflaggen. Foto: Industrie- und Filmmuseum Wolfen/Kreismuseum Bitterfeld.
Am 27. Januar 1990 endete mit der Demontage des roten Sterns vom Gebäude auch symbolisch die sozialistische Planwirtschaft. Foto: Industrie- und Filmmuseum Wolfen/Kreismuseum Bitterfeld.
Das Gebäude 1953 bei Nacht. Foto: Industrie- und Filmmuseum Wolfen/Kreismuseum Bitterfeld.

Die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, von 1933 bis 1945, war vor allem in den ersten Jahren geprägt von einer großen Bautätigkeit. Mit ihr sollten die Autarkiebestrebungen Deutschlands gefördert und die militärische Aufrüstung vorangetrieben werden. Von dieser Bautätigkeit wurde auch das Stadtbild von Wolfen bestimmt. Einige Bauten zeugen noch heute davon. Dazu gehören u. a. der Bahnhof, die ehemalige Kaserne, in der heute das Heinrich-Heine-Gymnasium Bitterfeld-Wolfen untergebracht ist, das Forschungs- und Direktionsgebäude der Agfa-Filmfabrik[1] mit der Nummer 041[2], in dem sich heute das Rathaus der Stadt Bitterfeld-Wolfen befindet, sowie die Siedlungen Steinfurth, Wolfen-Süd und das „Musikerviertel“ der Gagfah. Zu den Bauten aus dieser Zeit gehörten auch das damals größte Zellstoffwerk der Welt und das extra dafür gebaute Kraftwerk mit den markanten Zwillingsessen, beide wurden inzwischen rückgebaut.

Eine besonders wechselvolle Geschichte durchlebte das Gebäude 041 der ehemaligen Filmfabrik vom Aufbau bis zur heutigen Nutzung als Rathaus, dem städtischen Mittelpunkt von Bitterfeld-Wolfen.

Am 5. Februar 1936 wandte sich Dr. Fritz Gajewski, Direktor der Filmfabrik und Leiter der Sparte III des I. G.-Farben-Konzerns[3] – und damit einer der mächtigsten Männer der I.G. – an den Regierungsbaumeister und Architekten Adolf Herberger.

Er bat ihn, so wörtlich, „uns ein großes wissenschaftliches Laboratorium zu bauen und außerdem unser bescheidenes Kasino [heute Kindergarten der AWO, Anm. d. Verf.] zu erweitern.“[4] Auslöser dieser Bitte war u. a. der designierte Forschungsdirektor der Filmfabrik, Prof. Dr. John Eggert.

Aus wissenschaftlichen Publikationen hatte dieser Kenntnis, dass der unmittelbare Konkurrent auf dem Filmgebiet, Kodak[5] – beide Firmen arbeiteten im Wettlauf an der Erfindung und Produktion des ersten praktikablen Mehrschichtenfarbfilms – seine Forschung in einem neuen, auf die Belange der Forscher zugeschnittenen Gebäude konzentriert hatte. Eggert erkannte dies als Wettbewerbsvorteil von Kodak und wollte daraufhin auch in Wolfen die Forschung, die bis zu diesem Zeitpunkt auf viele Gebäude und verschiedene Struktureinheiten verteilt war, in einem Gebäude konzentrieren, um den Wettlauf gegen Kodak zu gewinnen. Dazu kam die Forderung vom damaligen Reichspropagandaminister nach dem „deutschen Farbfilm.“[6]

Weitestgehend nach den Vorstellungen Eggerts begann der Architekt Herberger schon 14 Tage nach der Bitte Gajewskis mit den Planungen. Immer dabei, auch in den folgenden Baubesprechungen, war Eggert. Ursprünglich, wie von Gajewski gewünscht, war das Gebäude nur als Laboratoriumsbau mit zwei Flügeln, die in der Mitte durch einen Hörsaal verbunden waren, geplant. Aber die ständig wachsenden Aufgaben der Betriebsleitung machten eine Erweiterung der Direktionsräume erforderlich. Die Leitung der Sparte III des I. G.-Farben-Konzerns erfolgte aus Wolfen – von hier aus wurden 39.000 Mitarbeiter, die über ganz Deutschland verteilt arbeiteten, geleitet. Gemessen an der Größe und der internationalen Bedeutung der Filmfabrik, damals die zweitgrößte der Welt, sollten die Geschäftsräume entsprechend repräsentativ sein.

Die Planungen wurden entsprechend erweitert und die beiden Laborflügel mit einem Rundbau verbunden, dem zukünftigen Sitz der Direktion. In äußerlicher Anlehnung an das große I. G. Verwaltungsgebäude in Frankfurt am Main, aber bedeutend kleiner, entwarf Herberger das neue Gebäude. Verkleidet wurde es wie sein Frankfurter Vorbild mit Sandsteinplatten.

Insgesamt entstanden innerhalb von rund zwei Jahren der dreigeschossige Rundbau für die Direktion, zwei Flügel für Labore, Kellergeschoß und Dachboden; insgesamt 334 Räume. Sie boten eine nutzbare Labor- und Bürofläche von 8.228 m². Die Gestaltung des Gebäudes erfolgte nach den damals modernsten Erkenntnissen der Architektur der 1930er-Jahre. So wurden u. a. die Arbeitsräume mit großen Fenstern für helle Arbeitsplätze und mit einer Strahlenheizung ausgestattet. Zwischen den Direktionsetagen pendelte ein Paternoster, zwischen den Laboretagen Lastenaufzüge.

Da Eggert nicht nur ein Forscher mit internationalem Ansehen und Ruhm war, sondern auch ein begnadeter Redner und Hochschullehrer, wurde für ihn und seine Forscherkollegen ein extra Hörsaal eingerichtet, um dringende Probleme und neue Erkenntnisse unter optimalen Bedingungen im großen Kreis schnell zu beraten und Entscheidungen treffen zu können. Dieser Hörsaal mit knapp 300 Sitzplätzen wurde in enger Zusammenarbeit zwischen dem Architekten, Eggert, Akustikern und Prof. Dr.-Ing. Eugen Michel von der Technischen Hochschule Hannover nach den neuesten raumakustischen Grundsätzen entworfen und gebaut. Der Hörsaal wurde trapezförmig angelegt und die ansteigenden Sitzreihen bogenförmig angeordnet, um von jedem Platz eine gute Sicht und Akustik zu haben. Entsprechend den ansteigenden Sitzreihen wurde auch die Decke in Absätzen stufenförmig abgehängt, um beste Hörqualität zu erzeugen. Die Holzvertäfelung von Decke und Wänden gaben dem Saal eine ansprechende Klangfarbe. In der „Deutschen Bauzeitung“ wurde er als Musterbeispiel ausführlich dargestellt und beschrieben[7].

Zum Forschungsbereich im Gebäude 041 gehörte neben den physikalischen Laboren im Ostflügel und den Laboren für die organische Chemie im Westflügel auch die wissenschaftliche Bibliothek im Kellergeschoß. Der Lesesaal verfügte über 20 Arbeitsplätze. 1989 hatte die Bibliothek einen Bestand von 153.000 Bänden, 555.000 Patenschriften, 300 Periodika und eine Reihe von Sondersammlungen wie Firmenschriften, Dissertationen u. a., – eine wissenschaftliche Schatzkammer, die nach der Insolvenz der Filmfabrik leider zerteilt wurde.

Ähnlich dem Hörsaal wurde in der zweiten Etage des Rundbaus für die Direktion ein attraktives, repräsentatives Konferenzzimmer errichtet. Es zeigte den Gästen der Filmfabrik eindrucksvoll die Stellung und die Bedeutung des Werkes als Entwickler des ersten praktikablen Mehrschichtenfarbfilms und der weltweit ersten vollsynthetischen Faser, PeCe.

Auch der Konferenzsaal wurde nach raumakustischen Grundsätzen konzipiert und gebaut. Ein großer Kronleuchter und von namhaften Künstlern geschaffene Gemälde der Agfa-Forscher Wilhelm Lohöfer und Momme Andresen sowie weiterer bedeutender Chemiker zierten die holzgetäfelten Wände. Schrittweise wurde das Gebäude ab Mitte 1938 bezogen.

Mit Kriegsbeginn 1939 wurde vor 041 ein Luftschutzbunker errichtet und im Innenhof ein Feuerlöschteich angelegt. Auf dem Dach wurde ein Flakgeschütz stationiert. Während des gesamten Krieges blieb die Filmfabrik trotz zahlreicher Fliegeralarme, einer Luftaufklärung und vieler Überflüge britischer und amerikanischer Bomber von Angriffen verschont. In den für Wolfen letzten Kriegstagen, zwischen dem 15. und dem 20. April 1945, wurde das Werk durch amerikanischen Artillerie- und Tieffliegerbeschuss noch schwer zerstört. Das große Forschungs- und Direktionsgebäude blieb aber verschont. Die Direktion unter Leitung von Fritz Gajewski und die Forschungsabteilung von John Eggert arbeiteten noch bis Ende Juni 1945. Zusammen mit weiteren 16 Mitgliedern von Direktion und Forschung wurden Gajewski sowie Eggert beim Abzug der Amerikaner als Wissensträger verhaftet und in die amerikanische Besatzungszone nach München transportiert.

Anfang Juli 1945 zog die neue, sowjetische Besatzungsmacht mit Oberstleutnant Michail Iwanowitsch Mumschijew als neuer Generaldirektor in das Gebäude 041 ein. An die Stelle der gekappten Hakenkreuzfahne auf dem Dach kam nun ein großer roter Sowjetstern, der, wenn erleuchtet, die tägliche Planerfüllung der Belegschaft anzeigen sollte.

In Folge des Zweiten Weltkrieges sowie der alliierten Beschlüsse wurde der I. G.-Farben-Konzern zerschlagen und die Agfa Filmfabrik Wolfen ging als Reparationsleistung in den Besitz der Sowjetunion über. Sie wurde Teil der Sowjetischen Aktiengesellschaft (SAG) „Photoplenka“.

Politisch turbulente Tage, die widersprüchlicher nicht sein konnten, erlebte das Gebäude 041 im Jahr 1953. Am 6. März, einen Tag nach dem Tod von Josef Stalin, wurde die Fahne auf dem Dach auf Halbmast gesenkt und die Fassade mit einem 10 Meter großen Banner mit dem Porträt Stalins mit Trauerrand verhüllt. Auf dem Balkon zog eine bewaffnete Ehrenwache auf. Nur einige Wochen später, am 17. Juni 1953, protestierten vor 041 viele Beschäftigte der Filmfabrik gegen die Politik der Regierung und zogen von dort zur großen Kundgebung nach Bitterfeld. Noch einmal, 1990, stand das Gebäude im Mittelpunkt von Protesten, als die Belegschaft vor dem Direktionsgebäude gegen die drohende Zerschlagung der Filmfabrik und den Verlust ihrer Arbeitsplätze demonstrierte. Leider erfolglos, wie sich später zeigte.

Um die junge DDR wirtschaftlich in ihrem Wettlauf gegen die Bundesrepublik zu stärken, beschloss die Sowjetunion im Sommer 1953, die letzten großen SAG-Betriebe[8] an die DDR zu übergeben. Zum 1. Januar 1954 wurde das Werk als „VEB Film- und Chemiefaserwerk Agfa Wolfen“ dem Ministerium für Schwerindustrie unterstellt und nun wieder von einer deutschen Direktion geleitet.

1964 gab es außen an der Fassade eine Korrektur. Mit der Warenzeichenumstellung der Filmfabrik verschwand der historische Markenname „Agfa“ und wurde durch den nun neuen Namen „ORWO“[9] ersetzt. Der große rote Stern, als Symbol der sowjetisch geprägten Planwirtschaft, blieb aber bis 1990 auf dem Dach; wohl ein Treuebekenntnis zur Sowjetunion.

1970 wurde das Gebäude aufgewertet. Neben der Leitung der Filmfabrik wurde von hier aus nun auch der neu gegründete VEB Fotochemisches Kombinat geleitet.

In Folge der Friedlichen Revolution und der Deutschen Einheit 1989/90 wurde das Kombinat 1990 aufgelöst und die Filmfabrik in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. 1992 erfolgte eine Aufspaltung der AG in eine Film GmbH, die aus dem Gebäude auszog, und in die Wolfener Vermögensverwaltung, die ihren Sitz bis zu ihrer Auflösung 1998 im Gebäude behielt.

Das leerstehende Gebäude ging in den Besitz des Chemieparks Bitterfeld-Wolfen über und wurde behelfsmäßig gesichert. Nach über 10 Jahren Leerstand erwarb die Wolfener Wohnungs- und Baugesellschaft das Gebäude und renovierte es aufwendig. In großen Teilen wurde es wieder in den Originalzustand von 1938 versetzt.

Historischer Mittelpunkt ist der wiederhergestellte Hörsaal, der nach John Eggert benannt wurde. Mit dem Einzug der Stadtverwaltung gab es noch einmal eine Korrektur an der Fassade. Der Markenname „ORWO“ verschwand und der Schriftzug „Rathaus Bitterfeld-Wolfen“ wurde angebracht. Heute beherbergt das imposante Gebäude neben der Stadtverwaltung Räumlichkeiten der Wohnungs- und Baugesellschaft Wolfen mbH, die auf dem Gelände den Campus[10] betreibt.

Ein Haus mit einer wechselvollen Geschichte!

 

Anmerkungen

[1] Die 1873 gegründete „Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation“ (Agfa) hatte sich in den 1890er Jahren in Berlin der Fotochemie zugewandt. Ab 1909 errichtete sie eine Filmfabrik in Wolfen, die bereits 1910 die Produktion von Kinofilm aufnahm. Die Filmfabrik Wolfen stieg zum größten Filmproduzenten Europas auf.

[2] Alle Fabrikgebäude waren über eine vierstellige Nummerierung eindeutig identifizierbar. Das Forschungs- und Direktionsgebäude trug die Nummer 0041, in der Umgangssprache kurz 041 genannt. Diese Bezeichnung ist noch heute, fast 3 Jahrzehnte nach der Schließung der Filmfabrik, oft gebräuchlich.

[3] Die Agfa gehörte zur 1925 gebildeten „I. G. Farbenindustrie AG“. Die Filmfabrik Wolfen wurde 1928 „Leitwerk“ der „Sparte III“, in der die Produktion von Filmen, Fasern, Kunstseide, Zellwolle, Zellstoff und Hefe koordiniert wurde.

[4] Vgl. Archiv IFM, Akte A 1467, Schriftwechsel Gajewski – Herberger

[5] Die Eastman Kodak Company, Ende des 19. Jahrhunderts in den USA gegründet und in der Regel kurz Kodak genannt, war einst Weltmarktführer bei der Herstellung von Filmmaterial.

[6] Vgl. Gert Koshofer: Agfacolor für Fotografie und Kino, in: Friedemann Beyer, Gert Koshofer, Michael Krüger: UFA in Farbe: Technik, Politik und Starkult zwischen 1936 und 1945, München 2010, S. 50.

[7] Vgl. Prof. Dr. Ing. Eugen Michel: Vortragssaal und Sitzungssaal nach raumakustischen Grundsätzen, in: Deutsche Bauzeitung, Heft 22, 29.05.1940.

[8] Als Reaktion auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 verzichtete die Sowjetunion offiziell auf weitere Reparationsleistungen. Die Filmfabrik gehörte zu jenen bedeutenden Großbetrieben, die bis Ende 1953 als Sowjetische Aktiengesellschaft geführt wurde.

[9] Aus handelspolitischen Gründen gab die Filmfabrik Wolfen 1963 das bis dahin genutzte Warenzeichen „Agfa“ auf. Mit einer in der DDR einmaligen Werbekampagne wurde zur Leipziger Frühjahrsmesse im März 1964 „ORWO“ als neues Warenzeichen für die Foto- und Kinofilmprodukte sowie die Magnetbänder eingeführt. „ORWO“ ist die Abkürzung für Original Wolfen.

[10] Zum Campus gehören u. a. ein Coworking-Bereich, Freizeiteinrichtungen wie eine Eislaufbahn und ein Kletterpark sowie zwei gastronomische Einrichtungen.