Die Blindschleiche – Reptil des Jahres 2017

(Anguis fragilis Linnaeus, 1758)

von Jürgen Buschendorf | Ausgabe 2-2017 | Natur und Umwelt

Kopf einer Blindschleiche; Foto: A. Westermann
Blindschleichenhabitat in der Dölauer Heide; Foto: J. Buschendorf
Verteilung der Blindschleichenfundpunkte auf die verschiedenen Höhenstufen Sachsen-Anhalts (Abb. aus: Buschendorf 2016)
Blindschleichenpärchen (unten das größere Weibchen); Foto: J. Buschendorf
Trächtiges Weibchen, Foto: A. Westermann

Die Blindschleiche ist eine Tierart, deren deutscher als auch ihr wissenschaftlicher Name zumindest teilweise irreführend ist. Ihr zoologischer Gattungsname Anguis bedeutet auf lateinisch Schlange. Natürlich sieht das beinlose Tier wie eine Schlange aus, ist aber keine, sondern eine Schleiche. Schleichen sind Echsen. Somit ist die Blindschleiche eher mit den Eidechsen als mit Schlangen verwandt, was auch daran zu erkennen ist, dass Blindschleichen wie die Eidechsen bei Gefahr ihren Schwanz an einer bestimmten Sollbruchstelle abwerfen können. Dieser wächst zwar bald wieder nach, allerdings nur als verkürzter stumpfer Kegel. Auf diese Autotomie (autos, griechisch = selbst; tomos, griechisch = abgeschnittenes Stück) weist der wissenschaftliche Artname hin (fragilis, lateinisch = zerbrechlich). Eine solche autotomisierte Blindschleiche wurde am 1. 6. 1996 bei Bad Suderode beobachtet. Und blind ist die Blindschleiche auch nicht, obwohl sie früher wegen der kleinen Augen tatsächlich für blind gehalten wurde. Aber für „blind“ gibt es eine andere Erklärung. Im Althochdeutschen bedeutet „plint“ blendend (plintslicho = blendender Schleicher), wohl wegen des Glanzes ihres aus Hornschuppen bestehenden Panzers.

Kennzeichen

Blindschleichen erreichen Längen von 30 bis 45 cm. Unverhältnismäßig lang (60 cm) war eine am 11. 6. 2010 bei Molkenberg (Kreis Stendal) gesichtete Blindschleiche. Der Schwanz nimmt fast zwei Drittel der Körperlänge ein. Das Gewicht kann je nach Geschlecht, Alter und Ernährungszustand zwischen 10 g und 70 g schwanken.

Blindschleichen können sehr variabel gefärbt sein: die Oberseite metallisch glänzend, bleigrau-graubraun, kupfer- oder bronzefarbig, häufig mit dunklen Längsstreifen oder Punkt-Strichreihen, die Unterseite schwarzgrau-blaugrau. Bei manchen älteren Männchen tritt eine mehr oder weniger starke Blaufleckung auf. So gefärbte Exemplare wurden bei Ballenstedt (1996), Bad Suderode(1996), Rammelburg (2003) und Mellin (2011) beobachtet. Ein stark rot gefärbtes Tier wurde am 27. 7. 2011 bei Hainrode gesichtet.

Lebensraum

Die Blindschleiche bewohnt eine Vielzahl unterschiedlicher Biotope, bevorzugt aber feuchtes bis halbfeuchtes Gelände mit deckungsreicher krautiger Vegetation, durchsetzt mit vegetationsfreien oder -armen Sonnenplätzen. Wichtige Habitate sind lichte Laubwälder, Hecken und ihre krautigen Randbereiche. Günstig sind Versteckmöglichkeiten (z. B. Hohlräume unter Baumwurzeln, Steine, Felsspalten, Laub-, Holz- und Komposthaufen).

In Sachsen-Anhalt ist die Art am häufigsten in lichten Laubwäldern und Mischwäldern und an deren Rändern (30 % der Fundpunkte) zu finden. Dagegen werden Nadelwälder (13 %) weniger häufig besiedelt. 13 % der Fundpunkte sind Grünländereien, 10 % Stauden-, Gras- und Krautfluren.

Blindschleichen bevorzugen gern Grenzbereiche zwischen geschlossenen Gehölzbeständen und offenen, besonnten Flächen. Als Kulturfolger bewohnt die Art auch naturnahe Hausgärten der Siedlungsränder und Parkanlagen. In Sachsen-Anhalt liegen 11 % der Fundpunkte im urbanen Bereich.

Verbreitung

Blindschleichen besiedeln ganz Europa mit Ausnahme von Irland, einigen Mittelmeerinseln, Nordskandinavien, Nordrussland und dem größten Teil der Iberischen Halbinsel. In Deutschland ist die Art weit verbreitet (Günther & Völkl 1996). Es gibt nur wenige Gebiete, in denen sie bisher noch nicht beobachtet wurde.

Der zoologischen Literatur der vergangenen Jahrhunderte ist zu entnehmen, dass die Art auf dem Territorium des heutigen Sachsen-Anhalt weit verbreitet war.

Verstärkte Beobachtungstätigkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte zu einer Reihe von Veröffentlichungen über Vorkommen der Art in verschieden Teilen des heutigen Sachsen-Anhalt, beispielsweise im Gebiet von Zeitz (Unruh (1980, 1981), Dübener Heide und östlich von Bitterfeld (Gröger & Bech 1986), Fläming, Dübener Heide (Berg et al. 1988), Thale und Umgebung (Zarske 1986). Buschendorf (1984) registrierte von 1960 bis 1984 167 Beobachtungsmeldungen der Art aus dem ehemaligen Bezirk Halle. In einer 2004 publizierten Veröffentlichung über die Herpetofauna Sachsen-Anhalts ist von 409 Nachweisen der Blindschleiche zu lesen (Schädler 2004). Eine von 2001 bis 2014 im Land durchgeführte Erfassung ergab ein Vorkommen der Blindschleiche an 1025 Fundorten (Buschendorf 2015).

In Abhängigkeit von den in den einzelnen Landesteilen herrschenden Bedingungen sind die Vorkommen der Art im Land sehr ungleichmäßig verteilt. Betrachtet man ihre Ansprüche an den Lebensraum, ist es verständlich, dass besonders in Landschaften mit größeren zusammenhängenden, lichten Laub- und Laubmischwäldern, Bruchwäldern und mit hecken- und gebüschreichen Gebieten viele Fundpunkte der Art zu finden sind.

Das sind in unserem Bundesland Unterharz (11,3 % der Fundpunkte), Altmarkheiden (9,0 %), Nördliches Harzvorland (8,2 %), Südliches Harzvorland (7,3 %), Dübener Heide (5,9 %), Westliche Altmarkplatten (5,3 %) sowie Nördlicher Harzrand (5,0 %), die insgesamt schon 52 % aller 1025 sachsen-anhaltischen Fundpunkte aufweisen.

Dagegen werden waldfreie Ackerlandschaften, wie Hallesches Ackerland (0,9 %), Magdeburger Börde (0,2 %), Drömling (0,9 %) und Lützen-Hohenmölsener Platte (0,3 %) von der Blindschleiche weitgehend gemieden oder die Art ist dort bisher noch nicht beobachtet worden (z. B. Köthener Ackerland, Keuperbecken südlich Eckartsberga).

Oft besteht ein Zusammenhang zwischen den Blindschleichenvorkommen und der Laub- und Mischwaldbestockung eines Gebietes. Das zeigt sich besonders auch bei isolierten Fundpunkten, wo sie oft in kleinen oder größeren Waldinseln beobachtet wird, z. B. am Großen Fallstein nördlich von Osterwiek, im Hohen Holz westlich von Eggenstedt, im Huy, Hakel, Petersberg und der Dölauer Heide in Halle.

Betrachtet man sich die Verteilung der Blindschleichenvorkommen in den verschiedenen Höhenlagen, so konzentrieren sich 54 % der Vorkommen auf das Flach- und Hügelland (bis 300 m ü. NN). Nur jeweils zwei Vorkommen sind in Höhenlagen von 300 –450 m ü. NN bzw. über 800 m ü. NN festgestellt worden.

Das höchste Vorkommen einer Blindschleiche in Sachsen-Anhalt wurde am 27. 8.1997 in 1140 m ü. NN auf der Brockenkuppe registriert. Weitere hoch gelegene Fundpunkte sind Schierke (720 m ü. NN) und die Sonnenklippe bei Ilsenburg (713 m ü. NN). Der höchstgelegene Fundpunkt in Deutschland liegt in den Alpen bei 1800 m ü. NN. (Günther & Völkl 1996).

Lebensweise

Obwohl im Allgemeinen die meisten Blindschleichen erst im April ihre Winterquartiere verlassen, sind doch auch vereinzelt Exemplare schon ab Januar gesichtet worden. So wurde die früheste Beobachtung einer Blindschleiche in Sachsen-Anhalt am 3. 1. 2012 an einem Wegrand in Wolfsberg gemacht. Weitere frühe Beobachtungstermine liegen Anfang Februar: 2. 2. 1999 Blankenburg, 5. 2. 1995 Ramstedt, 21. 2. 2005 bei Roßla, 26. 2. 1996 Kattefeld/Zeitz.

Mit dem Einsetzen der ersten Fröste Anfang/Mitte Oktober fallen sie dann in den Winterquartieren (Erdlöcher, Felsspalten, Komposthaufen) in eine Kältestarre. Von noch sehr spät aktiven Blindschleichen sind aus Sachsen-Anhalt folgende Beobachtungen dokumentiert: 9. 11. 2013 Langenstein, 11. 11. 2005 Annaburger Heide, 16. 11. 1986 Königshütte, 30. 11. 2002 Kuhfelde, 9. 12. 2006 Stolberg.

Blindschleichen sind vorwiegend in der Dämmerung aktiv. In ihrem sehr kleinen Aktivitätsraum (ca. 200 m²) leben sie meistens allein. Eine seltene Ausnahme sind die am 14. 7. 2011 unter einer Holzplatte bei Roßla festgestellten sechs Blindschleichen. Sie wechseln nur in andere Reviere, wenn sie nach neuen Nahrungsquellen oder Geschlechtspartnern suchen.

Tagsüber verstecken sie sich gern unter Totholz, in Erdlöchern, Mauer-und Felsspalten, Laub-und Komposthaufen usw. Ein ungewöhnliches Tagesversteck hatte sich am 24. 8. 2011 eine Schleiche bei Tryppehna in einem Pilzkörper der Krausen Glucke gesucht.

Blindschleichen ernähren sich vor allem von Nacktschnecken (90 % der Nahrungstiere) und Regenwürmern, auch von Schmetterlingsraupen, Laufkäfern, Heuschrecken, Asseln und Spinnen.

Vermehrung

Die Paarung erfolgt im Mai/Juni. Das Männchen paart sich mit dem Weibchen in einem oft mehrstündigen Kopulationsakt. Trächtige Weibchen wurden am 5. 8. 2014 in Ballenstedt und am 17. 7.1993 in Reppichau festgestellt.

Drei Monate nach der Paarung (Juli/August) werden die Jungen abgesetzt. Die Jungtiere sind noch von einer dünnen Eihaut umgeben, die kurz nach der Geburt durch Schlängelbewegungen abgestreift wird. Junge Blindschleichen sind silbergrau glänzend, manchmal gelblich, mit dünnem, dunklem Rückenstreifen, der am Kopf mit einer tropfenförmigen Erweiterung beginnt. Die Anzahl der 7 bis 10 cm langen Jungtiere schwankt zwischen 6 und 26. Am 27. 7. 1994 konnte in Ballenstedt die Geburt von 7 Jungen und am 13. 9. 1998 ebenfalls dort von 9 Jungtieren beobachtet werden.

Im ersten Herbst ihres Lebens nehmen die Jungen kaum an Gewicht und Länge zu, verdoppeln aber die Körperlänge im Jahr danach. Da der Hornpanzer nicht mit wächst, muss er von Zeit zu Zeit abgestreift und durch einen größeren ersetzt werden. Diese Häutungen erfolgen mehrmals im Jahr.

Blindschleichen werden in Gefangenschaft durchschnittlich bis 30 Jahre (maximal 46 Jahre) alt, im Freiland sind bis 30 Jahre möglich.

Gefährdung und Schutz

Infolge ihrer versteckten Lebensweise ist die Art nicht so gefährdet wie andere Reptilienarten. Die größte Gefahr für sie entsteht durch die Zerstörung oder Verschlechterung des Zustandes ihrer Lebensräume (z. B. durch das Abbrennen von Grasböschungen, Kahlschläge, das Entfernen von natürlichen Waldsäumen).

Wenn auch relativ wenige Blindschleichen Opfer des Straßenverkehrs werden (z. B. wurde am 1. 7. 1996 in Ballenstedt ein Weibchen mit 7 Jungtieren überfahren), so wurden doch häufig Verluste auf von Radfahrern (Mountainbikern) genutzten Waldwegen festgestellt.

Natürlich fallen Blindschleichen auch Fressfeinden zum Opfer. Das sind vorrangig streunende Hauskatzen, Fuchs, Dachs, Iltis, Marder, Igel, Wildschein, z. T. auch Greifvögel.

Am 11. 11. 2005 wurde in der Annaburger Heide ein Exemplar vom Fuchs und am 8. 7. 1999 ein anderes bei Schweinitz vom Weißstorch erbeutet. Am 1. 6. 2013 fraß bei Lieskau ein Igel eine Blindschleiche und am 1. 11. 2003 wurde bei Burgstall ein totes Exemplar als Raubsäugerbeute identifiziert.

Die wichtigste Schutzmöglichkeit ist die Erhaltung der Lebensräume. Weitere die Blindschleichenpopulationen fördernde Maßnahmen sind Schaffung deckungsreicher, reich strukturierter Habitate, Aufforstungen lichter Laubwälder, Schaffung von Waldlichtungen und aufgelockerten Waldrändern sowie die Anlage von Hecken mit krautigen Randbereichen.

Gesetzlichen Schutz genießt die Art durch die Berner Konvention (geschützte Art) und das Bundesnaturschutzgesetz (besonders geschützte Art). Um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese Art zu lenken, haben die Deutsche Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde und ihre Partnerorganisationen die Blindschleiche zum Reptil des Jahres 2017 ernannt.

Danksagung:

Frau Annette Westermann (Ballenstedt) danke ich für die Überlassung von Blindschleichenfotos.

 

Literatur:

BERG, J., W. Jakobs & P. Sacher: Lurche und Kriechtiere im Kreis Wittenberg, in: Schriftenreihe des Museums für Natur- und Völkerkunde „Julius Riemer“ in Wittenberg, 4 (1988), S. 1–80.
BUSCHENDORF, J.: Kriechtiere und Lurche des Bezirkes Halle. Darstellung des gegenwärtigen Kenntnisstandes der Verbreitung, in: Naturschutzarb. Bez. Halle Magdeburg 21 (1) (1984), S. 3–28. Halle.
BUSCHENDORF, J.: Westliche Blindschleiche – Anguis fragilis (Linnaeus, 1758). Berichte des Landesamtes für Umweltschutz Sachsen Anhalt 4 (2015), S. 431–442.
GRÖGER, R. & R. Bech: Lurche und Kriechtiere des Kreises Bitterfeld, in: Bitterfelder Heimatbl. 6 (1986), S. 1–64.
GÜNTHER, R. & W. Völkl: Blindschleiche – Anguis fragilis Linnaeus, 1758, in: Günther, R. (Hrsg.): Die Amphibien und Reptilien Deutschlands. Gustav Fischer Verlag, Jena (1996), S. 617–631.
SCHÄDLER, M.: Blindschleiche – Anguis fragilis Linnaeus, 1758, in: Meyer, F., Buschendorf, J.; Zuppke, U.; Braumann, F.; Schädler, M. & W.-R. Grosse (Hrsg.): Die Lurche und Kriechtiere Sachsen-Anhalts. Verbreitung, Ökologie, Gefährdung und Schutz. Laurenti-
Verlag, Bielefeld (2004), S. 160–164.
UNRUH, M.: Herpetofauna des vorgesehenen NSG „Nordfeld-Jaucha“, in: Naturschutzarb. Bez. Halle Magdeburg 18 (2), (1981), S. 29–31.
ZARSKE, A.: Herpetologische Exkursion in die Umgebung von Thale, in: Aquar. Terrar. 33 (1986), S. 416–418.