Endlose Weiten auf der Peißnitz

Ein Nachruf auf das hallesche Raumflug-Planetarium „Sigmund Jähn“

Ruth Heftrig | Ausgabe 4-2021

Die überschwemmte Peißnitzinsel 2013. Foto: Tino Richert, „Luft&Liebe Ballonfahrten“.
Sigmund Jähn besucht 1981 das nach ihm benannte Raumflug-Planetarium in Halle (Saale), zu seiner Linken der Ingenieur Herbert Müller. Quelle unbekannt.
Das hallesche Raumflug-Planetarium von oben, vermutlich Ende der 1970er Jahre. Foto: Stadtarchiv Halle (Saale).
Der Coudé-Refraktor (Teleskop) in der Sternwarte des Raumflug-Planetariums, 2004. Foto: Thomas Ziegler/ Stadt Halle (Saale).
Sternenshow im Kuppelsaal des Raumflug-Planetariums, 2004. Foto: Thomas Ziegler/ Stadt Halle (Saale).
Der Kuppelbau des Raumflug-Planetariums während des Abrisses im Januar 2018. Foto: Knut Müller.

Längst ist Gras über die Sache gewachsen. Nicht nur sprichwörtlich, sondern ganz real wuchern Gräser und Gebüsch über den im Boden verbliebenen Fundamentplatten. Doch es schmerzt noch immer. Wie bei einer alten Wunde, die sich bei einem Wetterumschwung bemerkbar macht, hinterlässt der Blick auf den ehemaligen Standort des Raumflug-Planetariums „Sigmund Jähn“ bei jedem Besuch des Peißnitzhauses noch immer einen Phantomschmerz. Es begann nach dem maßlosen Hochwasser 2013 – Schäden waren auch an Wegen und Gebäuden auf der Peißnitz zu verzeichnen. Dann ein beunruhigendes Signal: In der Straßenbahn fehlten plötzlich in der Ansage zur Haltestelle die Erläuterungen zum Planetarium. War man etwa bereit, das Gebäude aufzugeben?

 

Architektur und Ausstattung

Der ab 1976 errichtete imposante Gebäudekomplex bestand aus zwei Teilen. Dominierend ragte der Kuppelbau in die Höhe, südlich davor lagerte ein breiter flacher Baukörper, der Richtung Westen anstieg und in einer Sternwarte mündete, dazwischen ein Verbindungsbau. Projektiert wurde das Planetarium durch die Bauabteilung des VEB Wohnungsbaukombinat Halle unter Leitung des Architekten Klaus Dietrich in Zusammenarbeit mit dem Ingenieur Herbert Müller, dem Erfinder und Patentinhaber der hyperbolischen Paraboloidschale (HP-Schale).[1] Der Kuppelbau mit einem Durchmesser von 12,50 Metern, in dessen Inneren sich die Projektionsfläche des Planetariums befand, war außen von einem kegelförmigen, aus konisch zulaufenden Betonschalen konstruierten Dach geprägt. Auf der Spitze befand sich umlaufend eine Aluminiumplastik des halleschen Künstlers Knut Müller. Der Flachbau, in dem das Foyer mit Dauerausstellung, ein Vortragssaal mit 65 Plätzen und Nebenräume untergebracht waren, bestand aus vertikalen HP-Schalen, die pultförmig zu einer Dachterrasse mit kleiner Sternwarte anstiegen, die über einen Coudé-Refraktor (Teleskop) von 1962 verfügte. Der Projektionssaal mit 130 Plätzen wurde mit der damals neuesten Technik ausgestattet. Der Projektor vom Typ Spacemaster DP-1, den der VEB Carl Zeiss Jena 1976 auf der Leipziger Messe vorgestellt hatte, ließ sich sowohl manuell als auch vollautomatisch steuern. Infolge des Engagements des Oberbürgermeisters Hans Pflüger und des Leiters der Sternwarte in Halle-Kanena Karl Kockel gelang die erste Anwendung dieser innovativen Technik. Am 10. November 1978 wurde das Planetarium eröffnet und nach dem ersten Deutschen im Weltraum, Sigmund Jähn, benannt.

 

Großer kulturhistorischer Wert

Das Planetarium wurde im Juni 2015 in die Denkmalliste des Landes Sachsen-Anhalt eingetragen. Für die Ausweisung als Einzeldenkmal war unter anderem die sprechende Architektur ausschlaggebend, die Assoziationen an Raumkapseln weckt, aber auch die deutschlandweit einzigartige konstruktive und formale Lösung. Anders als bei den meisten Plattenbauten oder Gebäuden mit HP-Schalen handelte es sich um ein Unikat mit einer bis zuletzt authentischen Hülle.[2] Darüber hinaus stand es als materielles Zeugnis für eine Weltraumbegeisterung, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren zahlreiche ähnliche Bauten hervorbrachte und zugleich Schauplatz des „Kalten Krieges“ war.[3] 1959 wurde Astronomie als Pflicht-Schulfach in der DDR eingeführt, dessen zentrales Element für hiesige Schüler der ausgiebige Besuch auf der Peißnitz war, die als Kulturpark neben dem Planetarium auch noch mit dem Bezirkspionierhaus Fritz Weineck (heute Peißnitzhaus), der Pioniereisenbahn (heute Peißnitzexpress), einer Freilichtbühne und Ausstellungshallen aufwarten konnte. Auch lockte es durch unterschiedlichste Sonderveranstaltungen darüber hinaus zahlreiche Besucher an. Für viele Bürger von Halle und Halle-West (heute Halle-Neustadt) ist der ehemalige außerschulische Lernort heute Teil ihrer Erinnerungen.

Die Bedeutung des Planetariums schwand ab den 1990er Jahren. Nach dem Ende des Pflicht-Faches Astronomie im Zuge der Wiedervereinigung sowie der Skepsis gegenüber den architektonischen Errungenschaften der DDR fristete es ein von seinem Betreiber und Eigentümer, der Stadt Halle (Saale), vernachlässigtes Dasein. Obwohl das darin angesiedelte Projekt „Astrolinos“ noch 2008 eine Auszeichnung im Programm „Land der Ideen“ erhielt, blieb sein Potential durch die inzwischen überholte Technik, die unzureichende Personalausstattung, das einseitige Angebot und das kaum spürbare Marketing ungenutzt.

 

Paradox: das Planetarium als Opfer der Fluthilfe

Und dann kam das Hochwasser. Ein lapidarer Satz auf der Homepage des Planetariums im Sommer 2013 ließ – ähnlich wie die gelöschte Ansage in der Straßenbahn – Schlimmes befürchten: „Aufgrund der verheerenden Hochwasserschäden musste das Raumflugplanetarium geschlossen werden. Die Stadt Halle bemüht sich um Mittel aus dem Hochwasser-Hilfsfonds, um in einem absehbaren Zeitraum ein neues Planetarium errichten zu können.“[4] Schnell wurde ein Neubau mit aktueller Technik und zukunftsweisendem Konzept anvisiert. Dies erschien ebenso schlüssig wie eine sinnvolle Nachnutzung für das außergewöhnliche Gebäude auf der Peißnitz. Doch an Letzterem war die Stadtverwaltung nicht interessiert, sondern setzte kategorisch auf den Abriss. Das vom Land Sachsen-Anhalt aufgelegte und EU-finanzierte Fluthilfeprogramm sollte dazu genutzt werden, einen Neubau für ein Planetarium an günstigerem Standort zu errichten und den hochwassergeschädigten Bau auf der Peißnitz zu beseitigen. Die Festlegung auf diese Argumentation war spätestens mit der Bewilligung durch das Landesverwaltungsamt und der Zustimmung des Stadtrates besiegelt.

Wäre im Fluthilfe-Antrag eine Nachnutzung des Planetariums für einen anderen Zweck oder auch nur der Erhalt als Hülle um ihrer selbst willen formuliert worden, so hätte das Gebäude eine reelle Chance gehabt. Doch die Stadt fürchtete eine Modifizierung des Antrages und beschwor die Gefahr einer Ablehnung des Gesamtprojektes, also vor allem das Ende des Ersatzneubaus im ehemaligen Gasometer auf dem Holzplatz. Paradoxerweise erfuhren gleichzeitig der Ingenieur Herbert Müller und die von ihm perfektionierte HP-Schalenbauweise steigende überregionale Wertschätzung. Während die „Mitteldeutsche Zeitung“ Verständnis für die von Stadtverwaltung und Stadtrat verfolgte Linie zeigte, verstärkte sich innerhalb der Fachöffentlichkeit, die sich für eine Würdigung der „Ost-Moderne“ stark machte, Kritik am geplanten Abriss.

 

Denkmalinitiative Schalendom

Parallel dazu gründete sich 2015 die Denkmalinitiative Schalendom, um für den Erhalt des Gebäudes zu kämpfen. In ihr schlossen sich die vier halleschen Vereine Arbeitskreis Innenstadt, Peißnitzhaus, Kunstplattform Sachsen-Anhalt und Freunde der Bau- und Kunstdenkmale Sachsen-Anhalt sowie einzelne Bürger zusammen, um ihrem gemeinsamen Bestreben in gebündelter Form Kraft zu verleihen. Mit dem Begriff „Schalendom“ wollte die Initiative die Perspektive auf das Gebäude verschieben – weg von der Nutzung hin zur Form des Gebäudes, zu seiner einzigartigen Erscheinung, die sogar als ungenutzte Hülle eine wichtige Funktion hätte übernehmen können: ein Denkmal ihrer selbst zu sein, quasi ein „Stonehenge der Moderne“. Dieses Konzept war als Brückenschlag zu den politischen Entscheidungsträgern gedacht, die jegliche weitere Nutzung als unmöglich bezeichnet hatten, um durch das Fluthilfeprogramm einen Ersatzneubau an anderer Stelle finanzieren zu können.

Die Initiative führte im November 2015 eine Informationsveranstaltung vor dem Planetarium durch, die von einer Lichtinstallation des halleschen Künstlers István Seidel und einem Fachvortrag der Landeskonservatorin am Landesamt für Archäologie und Denkmalpflege Dr. Ulrike Wendland begleitet wurde. Am Tag des offenen Denkmals vom September 2016 zeigte sie eine Ausstellung am Gebäude und bot Außenführungen für die zahlreichen Besucher an. Gespräche mit Vertretern der Stadtverwaltung vermochten nicht für einen Sinneswandel zu sorgen, obwohl die Initiative bereit war, eine Patenschaft für das Gebäude zu übernehmen. Zwar konnte in die Abwägung über den Abrissantrag durch das Landesverwaltungsamt noch das Interesse der Bevölkerung und der architekturhistorischen Fachgemeinde am Erhalt einbezogen werden, beides hatte aber letztlich nicht genügend Gewicht. Im Januar 2018 wurde das ehemalige Raumflug-Planetarium „Sigmund Jähn“ abgerissen.

 

Was bleibt: Spolien und eine neue Erzählung

Geblieben sind Dokumentationen, Erinnerungen und ein paar Spolien. Von den geborgenen Objekten sollen einige am Ersatzneubau wieder eine Verwendung finden. Im Oktober 2016 hatte die Denkmalinitiative Schalendom in einem Brief an die zuständige Beigeordnete der Stadt Halle (Saale) den Erhalt von Bauteilen gefordert. Bereits von sich aus hatte die Stadt den Einbau des Schriftzugs „Raumflug-Planetarium“, des Refraktors und des Teleskops im neuen Planetarium vorgesehen. Die Initiative forderte zusätzlich den Erhalt des umlaufenden Kranzes aus Aluminiumplatten, die das Dach des Kuppelbaus bekrönt hatte, das Aluminiumdach der Sternwarte sowie einer einzelnen HP-Schale des Kuppelbaus. Die Bergung und Einlagerung des Schriftzuges, des Refraktors, des Teleskops und des Kranzes erfolgten dann auch tatsächlich. Eine Wiederverwendung finden nun offenbar der Schriftzug – erneut über dem Eingang – und die technischen Geräte. Zum ehemaligen Inventar zählen außerdem zwei großformatige Werke des sowjetischen Malers Andrej Sokolow. Die im Auftrag der Stadt restaurierten Ölgemälde „Raumstation MIR“ und „Sternennebel mit Sternengeburt“ aus dem Jahr 1978 sollen im Treppenhaus des neuen Planetariums einen Platz finden, und auch über die Wiederverwendung von zwei Sonnenuhren wird nachgedacht.[5]

Geblieben ist aber auch ein bemerkenswerter Text über das Planetarium und seine Geschichte. Der Autor Wolfram Höhne entwickelte in seiner 2020 in Weimar eingereichten Dissertation eine alternative Methode des Erinnerns an abgerissene Denkmale.[6] Nicht Baupläne, Aufmaße oder Befunde seien die Mittel der Wahl, sondern die vielen persönlichen Erlebnisse und kulturhistorischen Hintergründe, zusammengetragen in einem erzählerischen Text. Höhne erprobte seine Methode am Beispiel des halleschen Planetariums in überzeugender, vielfältiger und anregender Weise. Das Lesen des gegenchronologischen Textes bringt – wie das Vorbeilaufen am ehemaligen Standort – die eingangs erwähnte Wunde wieder zum Vorschein, was den Schluss nahelegt, dass sich die neue Methode eines „Denkmals als Erzählung“ durchaus bewährt.[7]

[1] Vgl. Tanja Scheffler: Eine Zukunft für Sigmund Jähn, Bauwelt 106/22 (2015), S. 6 – 7 und Benjamin Rudolph: Raumflugplanetarium (RFP) „Fliegerkosmonaut Sigmund Jähn“, Denkmalbegründung (Landesamt für Archäologie und Denkmalpflege Sachsen-Anhalt), Halle (Saale), 24. 06. 2015.

[2] Siehe Benjamin Rudolph (wie Anm. 1).

[3] Vgl. ebd.

[4] Die Homepage wurde inzwischen überarbeitet und stimmt auf die Neueröffnung des Planetariums Halle auf dem Holzplatz ein: www.planetarium-halle.de.

[5] Wolfram Höhne: Eine Erzählung als Denkmal. Die Methode der narrativen Rekonstruktion am Beispiel des Raumflug-Planetariums „Sigmund Jähn“ in Halle an der Saale, Dissertationsschrift an der Fakultät Architektur und Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar, 2020, S. 72 – 75.

[6] Ebd.

[7] Die Dissertation Höhnes erscheint voraussichtlich 2022 im Bauhaus Universitätsverlag.