Etwas ganz anderes – Die Zeitzer Nudelfabrik als Möglichkeitsraum

Ein Interview mit Mathias Mahnke

Christina Katharina May | Ausgabe 4-2022

Die alte Nudelfabrik in Zeitz. Foto: Matthias Behne, lautwieleise.
Loft für Übernachtungsgäste. Foto: Matthias Behne, lautwieleise.
Die hochwertigen alten Villeroy & Boch Fliesenböden der Fabrik werden freigelegt. Foto: Matthias Behne, lautwieleise.
New Yorker Künstlerin Max Kornfield. Foto: Matthias Behne, lautwieleise.
Einer der Co-Working Spaces. Foto: Matthias Behne, lautwieleise.
Die ukrainische Malerin Kateryna Myroniuk arbeitet in einem Künstlerinnenatelier der Zeitzer Nudelfabrik. Foto: Matthias Behne, lautwieleise.
Working Space mit Gemeinschaftsküche in der Poliklinik. Foto: Matthias Behne, lautwieleise.

In Zeitz florierte die Montan- und Zuckerindustrie bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Dass sich um 1900 neue Fabriken der Konsumgüterindustrie gründeten, lässt sich an den zahlreichen Backsteinbauten ablesen, die das Stadtbild prägen. Nach der Deutschen Einheit herrschte Leerstand. Investitionsprojekte wurden halbherzig begonnen und nach Auslaufen der Fördermittel wieder aufgegeben. Durch solche ruinösen Geschäfte wurde der Zerfall von ehemaligen Industriestädten wie Zeitz vorangetrieben. Doch mit der günstigen Verkehrsanbindung ins wachsende Leipzig ist Zeitz inzwischen zu einem attraktiven Standort geworden. Die „Lost Places“ werden mit neuen Nutzungs- und Gestaltungsideen zu lebendigen Orten.

Eine Nachnutzung besonderer Art erfährt die „Nudel“, wie sie vor Ort genannt wird. Der Bäcker Max Emmerling produzierte in der Fabrik einst Kinderzwieback und Teigwaren unter dem Markennamen „Elite“. Das Windmühlenlogo der Firma ist noch heute im Giebelfeld über dem ehemaligen Haupteingang sichtbar. Emmerling begann 1901/ 1902 mit dem Bau einer neuen Fabrik im Norden der Stadt, weitere Bauabschnitte kamen in den folgenden Jahren hinzu. Nachdem das Gebäude 1913 brannte und wieder aufgebaut wurde, hatte es eine Nutzfläche von 11.500 m². Die Familie Emmerling wurde 1953 enteignet und der VEB OGIS Zeitz (Volkseigener Betrieb für Obst, Gemüse und Industrielle Speisekartoffeln) übernahm die Nudelfabrik. Nach der Deutschen Einheit 1990 wurde der Betrieb von der Treuhand ausgelöst, ein Möbelhersteller hielt sich nur kurz in dem Gebäude. Seither stand es überwiegend leer und wurde zwischenzeitlich von der Punkszene für Konzerte genutzt.

2016 kaufte das kunstaffine Ehepaar Birgit und Mathias Mahnke das Gebäude und begann langsam mit dem sukzessiven Umbau. Förderungen erhielten sie kaum, so dass der Umbau fast ausschließlich mit privaten Mitteln erfolgte. Mathias Mahnke ist Unternehmensberater und seine Beschäftigung mit Immobilien begann zufällig. In Leipzig hatte er zuvor Häuser saniert, die jetzt von Künstlerinnen und Künstlern als Ateliers und Ausstellungsräume genutzt werden.

 

Herr Mahnke, Sie gestalten die Nudelfabrik mit hohem Engagement zu einem kreativen Ort um. Wie gehen Sie dabei vor?

Eine kreative Nutzung der „Nudel“ war naheliegend. Wir entdecken und erkunden das Gebäude nach und nach. Damit entsteht ein einzigartiger Ort mit einem Bewusstsein für Details und die Besonderheiten des Materials, für die Eigenheiten der Räume. Der Umbau folgt nicht einem Generalplan, sondern geht schrittweise voran. Wir erschließen das Gebäude über seine möglichen Nutzungen sowie die Nutzerinnen und Nutzer.

 

Inwiefern beachten Sie die Geschichte und die Substanz des Gebäudes?

Das Design ist eine Mischung aus moderner Funktionalität und Industriecharme nach dem Vorbild rauer Künstlerlofts mit freiliegendem Mauerwerk und über Putz gelegten Leitungen. Die alte Substanz soll möglichst nicht zerstört werden. Die Ausstattung liegt in den Händen meiner Frau, die Innenarchitektin ist. Recycling und Upcycling spielen eine große Rolle. Das Holz aus den Zwischendecken wurde zu Tischen umfunktioniert. Badewannen aus einem anderen Sanierungsprojekt sind in die Bar eingebaut. Einige Lampen stammen aus Trödelläden. Auch sind es Zufallsfunde, die das Design prägen: In der Poliklinik nebenan haben wir bei der Sanierung unter den Tapetenresten noch ein altes Fresko aus DDR-Zeiten gefunden. Das haben wir freigelegt. Auch in der Poliklinik – die wir auch gekauft und saniert haben – ist kein Zimmer wie das andere, jedes mit individuellen Designobjekten und Malerei. Aber es geht uns nicht darum, die historische Nudelfabrik zu rekonstruieren, sondern die Besonderheit des Ortes zu entdecken und eine Ästhetik aus Design und Industrie zu erzeugen.

 

Wie finanzieren Sie dieses aufwendige Projekt?

Das Projekt muss wirtschaftlich nachhaltig sein. Es gibt keine dauerhaften Gönner, sondern die Kosten vom Umbau müssen eingenommen werden, damit das Objekt langfristig tragfähig ist.

 

Welche Nutzungen gibt es aktuell?

Es arbeiten Künstlerinnen in den Ateliers, derzeit zwei Ukrainerinnen, die hier auch eine Unterkunft haben. Andere Künstler aus Leipzig oder Berlin mieten sich zeitweise ein. Ein großer Co-Working Space ist entstanden und ein Gemeinschaftsraum mit Küche. Zwei Lofts können von Touristen angemietet werden. Es gibt spezielle Räume, wie einen Virtual Reality Gaming Raum für Personal-Schulungen. Hier besteht die Möglichkeit, mit anderen Personen im virtuellen Raum anwesend zu sein. Feuerwehrleute oder Pflegekräfte testen Handlungsabläufe in der virtuellen Welt, besonders in Stresssituationen. Es gibt viele Räume ohne eindeutige Bestimmung. Sie werden jeweils nach den Anforderungen der mietenden Gruppen neu orchestriert. Die Räume sind auf flexible Strukturen ausgerichtet.

 

Wie wird der Co-Working Space angenommen?

Das Gebäude ist etwas außerhalb im Norden der Stadt gelegen und zu dezentral, daher haben wir den klassischen Ansatz des Co-Working Spaces aufgegeben. Wir vermieten projektorientiert an Gruppen, die sich mehrere Tage einmieten. Die Firmen und Seminargruppen kommen meist aus anderen Teilen Deutschlands, aus Düsseldorf oder München, aus der Chemie-Branche, dem IT-Bereich, es gibt Forschungsinstitute, Professoren, kirchliche Einrichtungen und Startups aus Berlin. Von Zeitz wussten sie bisher wenig. Der Standort eignet sich für Offsite-Workshops, bei denen die Teilnehmenden kreativ an ihren Themen arbeiten können, ohne vom Alltag, von anderen Meetings oder vom Nachtleben der Großstädte abgelenkt zu werden.

 

Worin liegt die Besonderheit des Standortes Zeitz?

Zeitz bietet ein neues Umfeld. Die Kunst im Gebäude hilft dabei, festgefahrene Strukturen aufzubrechen. Für die Workshops suchen die Firmen einen Ort, der weit genug entfernt liegt, damit die Leute abends nicht nach Hause fahren. Wenn man solche Workshops in München macht, sind Tagungsräume und Unterkunft getrennt. Es gibt Sightseeing-Wünsche, die Teilnehmenden gehen abends aus. Wir halten hier die Leute zusammen. So ein Ort wie Zeitz konzentriert die Gruppen an einem Ort. Die neue Umgebung wirkt inspirierend. Zeitz ist mal etwas ganz anderes.

 

Treffen sich auch Menschen aus der Region in der „Nudel“?

Zu 95 % sind es Leute, die zum ersten Mal nach Zeitz kommen, aber auch lokale, wie die Stadtverwaltung. Im Sommer 2021 fand ein Creative Lab in der Nudelfabrik statt. Es ging um die Entwicklung neuer Ideen für die Region. Die Teilnehmenden erarbeiteten Ideen mit Beraterinnen und Beratern aus der Kultur- und Kreativwirtschaft. Die Ergebnisse sind noch offen.

 

Ist die Nudel eine Art stylisches Tagungshotel?

Nein. Der Komfort ist ein anderer, die Teilnehmenden müssen sich darauf einlassen, sich in einem alten Industriegebäude zu befinden und nicht im Hotel. Dafür ist das Gebäude weiträumig und die Teilnehmenden nutzen den Ort, um gemeinsam Projekte zu erarbeiten und sich zu Gesprächen zu treffen. Im Hotel kann man nicht selbst kochen. Wir haben einen professionellen Pizzaofen aufstellen lassen, der oft benutzt wird. Es findet sich immer jemand, der weiß, wie man ihn bedienen kann. Kochen und Backen werden zum Teambuilding eingesetzt und zur Selbstversorgung. Anders als im Hotel werden die Gäste der „Nudel“ nicht mit Vollpension rundum bedient. Es gibt aber auch einen Caterer, bei dem Kaffee und Kuchen oder Abendbrot bestellt werden kann. Übernachtungszimmer für die Gruppen bietet die Poliklinik auf der gegenüberliegenden Seite. Im Innenhof können die Gruppen grillen. Im Gemeinschaftsraum gibt es einen Billardtisch, aktuell werden alte Flipperautomaten wieder in Gang gesetzt.

 

Welche Erfolge können Sie verzeichnen?

Die Nudelfabrik gewann im November 2021 den Sonderpreis „Zukunft“ anlässlich des Demografie-Preises Sachsen-Anhalt. Auch wurde das Projekt für den Stadtumbau Award nominiert und kam in die engere Auswahl. Den Award erhielten dann allerdings Bürgerinitiativen.

 

Für einen Privatinvestor ist das Engagement ungewöhnlich. Nach welcher Idee planen Sie?

Der Abriss sollte unbedingt vermieden werden. Der Umbau erschließt Möglichkeitsräume, die Chancen bieten. Im Grunde folgen wir der Idee des Neuen Europäischen Bauhauses, außer der Bürgerbeteiligung, da wir kein öffentliches Projekt sind. Es geht um eine interdisziplinäre, kreative und nachhaltige Bewegung aus Kunst, Architektur und Design, um für die Zukunft zu planen.

Die New Yorker Künstlerin Max Kornfield und die ukrainische Künstlerin Kateryna Myroniuk arbeiten im Herbst 2022 in den Ateliers der Nudelfabrik. Internationale Künstlerinnen und Künstler kommen für Residencies nach Zeitz. Kunstschaffende aus Deutschland nutzen den Ort, um sich in einem ruhigen Umfeld außerhalb der Großstadt auf ihre Projekte zu konzentrieren.