Materielles im immateriellen Kulturerbe

von Kathrin Pöge-Alder | Ausgabe 2-2016 | Lebendiges Kulturerbe | Volkskunde

Aufstellung des Questenstamms in Questenberg 2015. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Auf der Spergauer Lichtmess, Die zweibeinigen Pferde jagen mit dem Pflug durch’s Feuer. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Auf der Spergauer Lichtmess, „Registrator“, „Bändermann“, „Küchenmädchen“ und „Küchenburschen“. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Auf der Spergauer Lichtmess, Die „Schwarzmacher“ und die „Pritscher“ jagen die Mädchen. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Auf der Spergauer Lichtmess, Die „Vögel“ ziehen beim Heischegang singend von Haus zu Haus. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Auf der Spergauer Lichtmess, Handgefertigte bunte Hüte der Pfingstburschen. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Auf der Spergauer Lichtmess, Die peitschenknallenden „kleinen Läufer“ zeigen ihre Kunst beim Treffen der Pfingstgesellschaften in Ahlsdorf. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Auf der Spergauer Lichtmess. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Auf der Spergauer Lichtmess. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung

Im Sachsen-Anhalt-Journal wurde bereits mehrfach über das Thema immaterielles Kulturerbe und die Aktivitäten in Mitteldeutschland berichtet. Hier stehen nun die materiellen Aspekte des immateriellen Kulturerbes im Zentrum: Sie bilden die Basis von Traditionen und dokumentieren sie nach außen.

Zur Herkunft des Konzepts Immaterielles Kulturerbe 

Das UNESCO-Konzept des immateriellen Kulturerbes ging aus zwei Situationen hervor, wie Markus Tauschek zusammengefasst hat. Zum einen hatte der Außenminister Boliviens am 24. April 1973 einen Brief an den Generaldirektor der UNESCO geschrieben, in dem er dazu aufforderte, nach dem materiellen Welterbe nun auch das immaterielle Kulturerbe zu schützen. Anlass war der Welterfolg, den Simon and Garfunkel mit dem Hit „El Condor Pasa“ erlebten und der als Ausbeutung und schleichende Kommerzialisierung traditioneller Kultur verstanden wurde. (Vgl. Tauschek 2013, S. 118) Das traditionelle Lied aus den Anden führte für die Musiker zu einem erheblichen finanziellen Erfolg, an dem die Andenbewohner nicht teilhatten. Gerade dieses Thema ist aber der Inhalt des Liedes: die indianischen Minenarbeiter klagen die europäischen Besitzer der Minen wegen sozialer Missstände an. Paul Simon hatte das Lied der Gruppe Los Incas 1965 in Paris gehört und sich dort nach der Herkunft erkundigt. Dort habe man den nicht korrekten Hinweis gegeben, das Lied sei „eine urheberrechtsfreie peruanische Volksweise“.1 Damit hatte man offenbar der eigenen Wahrnehmung Ausdruck verliehen, ein sog. Volkslied zu singen. Die juristischen Hintergründe waren offensichtlich unbekannt.

Das aus romantischen Strömungen herrührende Verständnis der „Volkslieder“ und „Volksliteratur“ ist auch uns vertraut; sie gelten als „allgemein bekannt“ und „nicht geschützt“. In diesem Sinne wurden Märchen, Sagen, Rätsel und andere Geschichten als traditionelle Erzählungen in Varianten zahlreich veröffentlicht und bis heute auch mündlich tradiert. Das heißt, sie werden erzählt und unter Umständen gehen sie selbst wieder in eine Tradition ein. So erleben aufmerksame Hörerinnen und Hörer in geeigneten Erzählrunden heute beispielsweise das Erzählen von Witzen.

Paul Simon änderte den Text des Liedes und nahm 1969 für das Album „Bridge over Troubled Water“ den Song neu auf. Als Komponisten verzeichnet die Platte Simon und Milchberg bei dem Song „El Condor Pasa“. Im Veröffentlichungsjahr 1970 erhob der Musikverleger Edward B. Marks daher Anklage und man einigte sich u. a. darauf, dass der Komponist Daniel Robles mit auf den Veröffentlichungen genannt wird. Entstanden war der Song schon 1913 und erst 1933 urheberrechtlich geschützt worden.2

Als eine zweite Initialzündung für die Entstehung eines Konzeptes zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes kann nach Auffassung des Kulturgeographen Thomas M. Schmitt der Einsatz des spanischen Autors Juan Goytisolo für den Schutz des zentralen Marktplatzes in Marrakesch – des Platzes der Erzähler – gelten, der als Kommunikationsort eine hohe Bedeutung hatte. Dort trafen sich Geschichtenerzähler, Gaukler und Wahrsager. Sie sollten durch eine Tiefgarage und ein Hochhaus verdrängt werden. (Tauschek 2013, S. 118) Gewinnabsichten und kulturelles Gewordensein stehen sich hier entgegen.

Die beiden Episoden aus dem Bereich populärer traditioneller Kultur führten zu den Anfangsbemühungen um den Schutz immaterieller Kultur weltweit, wobei der Zusammenhang mit kommerziellen Interessen in recht unterschiedlichen Ausprägungen nicht zu übersehen ist: zum einen die gewinnbringende kompositorische Ausbeutung und Interpretation eines traditionellen südamerikanischen sog. Volksliedes, dessen urheberrechtliche Sicherung unklar war, zum anderen das mit der rasanten Entwicklung der Stadt verbundene Streben nach kommerzieller Ausbeute eines vielversprechenden Immobilienstandortes. Die unterschiedlichen Kontexte zeigen, dass ganz verschiedene Initiatoren mit unterschiedlichen Ansätzen nach einem Instrumentarium suchten, um das immaterielle Kulturgut als Quelle von Kultur, Identität und Selbstwert von Individuen und Gemeinschaften zu schützen. In diesem Bedürfnis liegt eine Ursache für den Erfolg des Konzeptes.

Die UNESCO hat 1972 das „Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“ beschlossen, das von 191 Staaten ratifiziert wurde. Bisher stehen 802 Kulturdenkmäler und 197 Naturstätten auf dieser Welterbeliste.3 Nach dem Schutz der materiellen Kultur hat die UNESCO erst 2003 das Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes verabschiedet. 2006 trat diese völkerrechtlich verbindliche Konvention in Kraft und mehr als 160 Staaten sind ihr beigetreten. Deutschland ratifizierte erst 2013 die Konvention. Die Kultusministerkonferenz formulierte auf ihrer Internetseite:

„Das lebendige (immaterielle) kulturelle Erbe findet seinen Ausdruck in überlieferten Traditionen, in darstellenden Künsten, in Ritualen und Festen, in Wissen und Bräuchen oder in Handwerkstechniken. Die Formen immateriellen Kulturerbes sind Ausdruck von Kreativität und Erfindergeist. Sie vermitteln Identität und Kontinuität. Von Generation zu Generation werden sie weitergegeben und fortwährend neu gestaltet.“4

Durch die Antragsverfahren soll ein Verzeichnis immateriellen Kulturerbes entstehen. Für Sachsen-Anhalt ist dies ein wertvolles Ziel, denn es gibt keinen Lehrstuhl für Volkskunde oder eine ähnlich geartete Institution wie in anderen Bundesländern, wo Forschungen zu diesem Thema ihren Platz hätten.

Bei der UNESCO gliedert sich das Verzeichnis in drei Listen: Eine repräsentative Liste verzeichnet vorhandene Traditionen. Eine Liste dringend erhaltungsbedürftigen kulturellen Erbes registriert die vom direkten Aussterben bedrohten Überlieferungen. Das Register guter Praxisbeispiele zeigt Aktivitäten auf, die sich im Sinne der Konvention um die Erhaltung und Förderung des immateriellen Kulturerbes kümmern.5 In Sachsen-Anhalt stellten die Pfingstgesellschaften des Mansfelder Grunds erstmals einen Antrag für dieses Verzeichnis. Hier haben sich die regionalen Vereine vernetzt und sich über eine Zusammenarbeit über die direkte Pflege ihrer Bräuche durch das Jahr hinweg verständigt. Dazu waren die mehrmaligen Vernetzungstreffen durch den Landesheimatbund anregend. Beim Treffen der Pfingstgesellschaften am 23. Januar 2016 präsentierten sich die Vereine, loteten aus, wo Eigenheiten gegenüber Bräuchen allgemein und den Pfingsttraditionen im Besonderen liegen.

Materielles im Immateriellen

Das Verfahren der Antragstellung insgesamt ist ein politisches Instrumentarium, das einen Schutz- und Ausgleichsmechanismus betätigen möchte: die Ressourcen der Menschheit auf dem Gebiet der Kultur sollen geschützt und so einem schonenden Umgang zugeführt werden. Dies betrifft nicht nur die Länder und Regionen mit großen politisch-kulturellen Umbrüchen und rasanten Entwicklungen, sondern auch solche mit anscheinend gleichmäßiger Entwicklung. Das durch die Konvention geschützte Kulturgut gilt dabei nicht als schützenswert, solange es nicht in einer entsprechenden Liste erfasst ist. Da es zuerst einer „Erklärung“ bedarf, bedeutet das, dass die vorhandenen Ressourcen zu seiner Sammlung, Aufbewahrung und Pflege erst eingeklagt werden müssen.

Langfristig geht es auch um eine „Inwertsetzung“ oder „Wertschöpfung aus Tradition“ (Tauschek 2010), die in finanzieller und politischer Hinsicht gebraucht oder missbraucht werden kann. Bei diesem Wettstreit um die Förderungen liegt es nahe, dass Konkurrenzgedanken und Einflusskonflikte auftreten können. Bisher ist in Sachsen-Anhalt versucht worden, diesen Aspekt mit einer intensiven Vernetzungsarbeit abzuschwächen. Auch gibt es im Internet und im Tagungsband des Landesheimatbundes eine Vorstellung der Traditionen, die damit unabhängig von einer Listeneintragung die Möglichkeit zur Präsentation erhalten.

Kulturwissenschaftlich interessant ist der Prozess, der sich mit der Eintragung in die ‚Listen‘ oder das ‚Verzeichnis‘ vollzieht. Dazu gehören Recherchen, Dokumentationen, das Ausfüllen der Antragsformulare und Gutachten sowie eine passende Präsentation in gebotener Kürze. Dies erfordert einen Prozess der Bewusstmachung und Reflexion in der beantragenden Gruppe, wie er einer „Volkstradition“ an sich nicht zugedacht wird.

„Die Aneignungsprozesse in der kulturellen Wirklichkeit dagegen laufen weithin unbewußt ab, weil Kultur als Menschen-Werk zu ganz erheblichen, vielleicht gar in entscheidenden Teilen dem Unbewußten verpflichtet ist – wie eben der Mensch selber auch.“ (Scharfe 2009, S. 16)

Die Träger der Traditionen erleben ihre Bräuche usw. als quasi schon immer dagewesen. Dabei gehört ein ‚Vergessen‘ oder ‚neu Einfügen‘ von Elementen zum Erhaltungsprozess von Kultur. Diesen unbewussten Prozess beendet der Wille zur Antragstellung. Nun muss das Festschreiben eines Istzustandes erfolgen. Dies ist mit einer Bewusstmachung und einer formalen und gestalterisch ansprechenden Präsentation verbunden.

Diese Bewusstwerdung kann dazu führen, dass eigene Traditionen absichtsvoll in die eine oder andere Richtung rezipiert werden und daher auch gestaltet werden können. Das in romantischen Strömungen auch zu findende ‚Wachsen lassen‘ ist damit in Bahnen gelenkt, gesteuert und deutlich zugunsten einer Kulturpolitik und -industrie verändert.

Lebenszeit und Jahreszeit als materielle Bezugspunkte

Das Titelbild des Sachsen-Anhalt-Journals, von Matthias Behne während der Spergauer Lichtmeß 2016 aufgenonmmen, weist darauf hin, dass Bräuche sowohl mit dem kalendarischen Ablauf als auch mit den Phasen des Lebenslaufes verbunden sind. Am ersten Sonntag nach dem 2. Februar oder an diesem Tag selbst findet in Spergau die Lichtmeß statt. Jährlich wird der Brauch eines „Winteraustreibens“ gepflegt, bei dem also die fruchtbaren Jahreszeiten vorbereitet, bei dem aber auch Rückblicke auf das vergangene Jahr geboten werden. An den Termin fügte sich ein sogenannter Heischebrauch, bei dem während eines Umzuges durch das Dorf Gaben erbeten werden. Die Traditionen korrespondieren mit dem Fest „Maria Lichtmeß“, das aber inhaltlich nicht wiederzufinden ist. In unserer Region ist es nur als Wetterregel bekannt: Lichtmess hell und klar, bringt ein spätes Frühjahr. In anderen Regionen haben sich andere Regeln erhalten. Kalendarisch fand 40 Tage nach der Geburt eines Jungen im jüdischen Ritus das Fest zur Reinigung der Mutter statt – nach der Geburt Christi die Reinigung Mariens, der Mutter Jesu. Der Weihnachtszyklus, beginnend am Martinstag (11. 11.), ist beendet. Aus dem deutschen Sprachraum ist seit dem 15.–16. Jahrhundert die Weihe von Kerzen für das ganze Jahr bekannt, verbunden mit einer Bittprozession. Zu dieser Zeit nimmt die Dauer des Tageslichtes merklich zu, die Spinnstuben wie andere Winterbeschäftigungen endeten, der Futterbestand bis zum nächsten Frischfutter wurde abschätzbar und das Frühjahr wurde vorbereitet.

Spergau pflegt mit der Lichtmeß aber einen Junggesellenbrauch, denn nur unverheiratete Männer sind Mitglieder der Lichtmeßgesellschaft, die die Feierlichkeiten vorbereitet und durchführt (Jankofsky 2015). In der jüngsten Dokumentation von 2015 fallen vor allem die farbenprächtigen Kostüme ins Auge. Die Lichtmeßgesellschaft ist hierarchisch aufgebaut. Jeder nutzt sein Kostüm nach Tradition, Funktion, den eigenen Vorstellungen und denen der Gruppe.

Der altersmäßige Einstieg vollzieht sich mit den „Eierfrauen“ ab 14 Jahren. Sie tragen Körbe während des Heischegangs, also Bittgangs, bei dem in geordneter Folge von Hof zu Hof gezogen wird, um die Gaben für den gemeinsamen Verzehr in der Lichtmeßküche zu sammeln (Jankofsky 2015, S. 33). Auch Pritscher und Vögel, Registrator und Läufer sind farbenprächtig gekleidet. Pferde und Kutscher, Bär und Bärenführer, aber auch Kornweib, Schnurrad und Handelsmann sind in ihrer Kleidung dokumentiert. Weiterhin spielt der Guckkasten eine bedeutungsvolle Rolle, lässt er doch einen Blick in Vergangenheit und Zukunft zu.

Nun gab es diese Kostüme nicht schon immer. Alfred H. erinnert sich, dass 1919/1920 die Uniformen noch selbst besorgt werden mussten, während sie später aus dem Theaterfundus kamen. In seiner Zeit kamen auch die Vogelkostüme auf, die zuvor wie die Wurststangenträger im Frack gekleidet waren. Die Firma Buttermilch in Halle hatte die Requisiten auch zur Ausleihe. (Jankofsky 2015, S. 59) Später wurde eine Kinderlichtmeß eingeführt, bei der am Wochenende vor der eigentlichen Lichtmeß die Kinder den Brauch feiern. Das wiederholt durchgeführte Fest machte deutlich, „wie viel Bastelarbeit in den Kostümen steckt, oder im Guckekasten beispielsweise. Oder das Malen, das Darstellen der Lichtmeß von einer künstlerischen Seite her, oder das Singen von Lichtmeßliedern, was stets alle begeistert, selbst die, die nicht singen können, die Brummer und ganz zu schweigen von all den Anknüpfungspunkten für Historie.“ (Jankofsky 2015, S. 71) Die Zeitzeugin Brunhilde G. benennt die materiellen Aspekte deutlicher, zu denen das Handwerklich-Gestalterische gehört, was wiederum den inhaltlich identifikatorischen Aspekt des Brauchgeschehens sichtbar werden lässt: „Da sind vielfältige Möglichkeiten der Identifikation mit dem Heimatort gegeben.“ (Jankofsky 2015, S. 71) Das selbst angefertigte oder ausgesuchte Kleidungsstück ermöglicht zu einem gewissen Teil eigene Kreativität und Spiel als regelhaftes Ausprobieren von sich selbst, den Traditionen und Änderungswünschen. Ein einfaches Einfrieren und Konservieren von Traditionen steht gelebter Erinnerung und Tradierung von Bräuchen und Handwerken, Tänzen und Darstellungen, von Wissen und Fähigkeiten entgegen.

Zeiten verändern Bräuche

Kleidungsrequisiten sind auch zu anderen Terminen und in anderen Regionen ein wichtiger Bestandteil von Bräuchen. Viele Heimatvereine oder Brauchträger verständigen sich auf eine gemeinsame Kleidung. Das ist auch bei der Questenmannschaft oder für die Pfingstburschen des Mansfelder Grundes zu beobachten, wobei jeder Verein besondere Akzente setzt. Während des Treffens der Pfingstgesellschaften im Januar 2016 in Ahlsdorf präsentierten die Vereine in der freundlich-hellen neuen Grundschule auch ihre Kleidung, ihre Requisiten und ihre aufwändig gestalteten Chroniken. Bunte Hüte und Westen waren zu bestaunen und von der Herstellung wurde berichtet. Schmucke Männer in besonderen Shirts oder Hemden, in Frack und Zylinder zeigten stolz auf ihre Traditionsobjekte. Besondere Peitschen wurden vorgeführt, so dass das Knallen von Alt und Jung über den Schulhof hallte. Die Vereine freuten sich über die Gemeinsamkeiten ihrer Objekte und unterhielten sich über die Unterschiede. Die Gegenstände machen Erinnerung sowie Eigenständigkeit und Ähnlichkeiten sichtbar.

Dokumentiert ist die Veränderung der Kleidung, besonders der Kopfbedeckung, auch für das Silvesterklausen. Das ist ein Heischegang zum „neuen“ und „alten“ Silvester im Appenzeller Land in der Schweiz. Männer in festen Rollenbildern, jeweils zwei Rollenweiber und vier Schellenkläuse, ziehen von Hof zu Hof durch die Winterlandschaft und bringen Wünsche zum Jahreswechsel. Dafür gestalten die Brauchträger ihr Kostüm in den gegebenen Traditionen: Von den schauerlichen „Waldkläusen“ bis hin zu den schönen Aufbauten der Hüte nach 1900. Fotos zeigen sogar ein Schiff und einen Zeppelin als Kopfputz. Zwischen 1950 und 1960 begann ein Wettstreit um die größten Hauben. Seit den 1960er Jahren etablierte sich eine neue Gruppe, die ihre Kleidung besonders naturnah gestaltete und daher „Naturkläus“ genannt wird.5 Als Zeichen der Zeit können sie im Nachhinein als „Mode“ interpretiert werden, eine zeitgemäße kurzfristige Veränderung. Für die Aktiven selbst sind sie eine Möglichkeit des Eigenen: So können sie dem Brauch in seinem festen Rahmen des Traditionellen für sich selbst und für ihre Umgebung Geltung verschaffen und selbst kreativ sein. Für die Kleidungsformen benutzen sie besondere Materialien, die zugleich ihre Überzeugungen und Werte verdeutlichen. Über die individuelle Bedeutung für die Träger hinaus gibt es Bedeutungen, die mit den Gruppenmitgliedern und mit den Umstehenden kommuniziert werden sollen. Dieser Austausch findet letztlich auf einer symbolischen Ebene statt.

Umbruchs- und Krisenzeiten bedrohen und verändern immaterielles Kulturerbe. Dies wird auch in Spergau aus den Erinnerungen der Teilnehmer deutlich. Nicht nur die Kriegs-, auch die Nachkriegszeit mit Hunger und allgemeinem Mangel ermöglichte es den Lichtmeßfeiernden nicht, den Brauch auszuüben. Fritz K. erinnert sich: „Die Meinung war: Ihr könnt doch nicht mit ’ner Stange Wurst durchs Dorf ziehen, wenn die Leute überall nichts zu beißen haben!“ (Jankofsky 2015, S. 63) Für die Spergauer Lichtmeß ist auch belegt, dass Überzeugungen und wissenschaftliche Strömungen die Brauchträger beeinflussten. Fritz P. war seit 1919 immer mit aktiv. Er erinnerte sich: „1922 erklärte uns Professor Hahne in der Backstube vom Bäckermeister Rauschenbach, was die Lichtmeß eigentlich bedeutet, den ganzen Werdegang, die Figuren. Das war interessant für uns. Frühlingserwachen, könnte man sagen.“ (Jankofsky 2015, S. 59) Seit dieser Zeit vollzog sich die Änderung der Sänger-Figuren vom Fracktäger zum Vogelkostüm. (Vgl. Schneider 2011, S. 14 – 16)

Die materielle Seite der Bräuche ist in Questenberg in anderer Hinsicht bedeutsam. Der Stamm der Queste musste turnusgemäß 2015 ausgetauscht werden. Nach der Tradition wird er mit Muskelkraft angehoben und eingesetzt. Genutzt werden dazu „Stebbeln“, hölzerne Stangen mit einer Astgabel am oberen Ende. Kostete der Stamm 1797 zwei Taler und 12 Groschen, so kann heute von 2000 € ausgegangen werden. Den Vertrag hatten 43 Questenberger 1797 mit dem zuständigen Schultheiß Johann Adam Dornheim, den Gemeindevorstehern und Gerichtsschöffen der Grafschaft Stolberg-Roßla abgeschlossen (Noack 2015, S. 91 – 92, 73 – 89).

Mit der Fürstlich Stolberg’schen Verwaltung Hohnsteiner Forst gibt es für den Stammwechsel seit 1880 eine unterstützende Vereinbarung. Während der DDR-Zeit hatte der Staatliche Forstwirtschaftsbetrieb die Stämme kostenlos zur Verfügung gestellt. Nach der politischen Wende wurde an den alten Vertrag angeschlossen und auch im Jahr 2015 aus dem Hohnsteiner Forst ein Stamm bereitgestellt. Leider stellten die Männer einen Riss im Stamm fest, so dass er keine zehn Jahre halten würde. Nun musste ein neuer Stamm gefunden werden. Im Forstort „Fülle“ von Johann Georg von Puttkamer wurde dann der zweite Stamm geschlagen und auf 12,50 m abgelängt. Es ist eine ca. 140 Jahre alte Eiche. Das reiche Astwerk machte ihn besonders geeignet als Questenstamm. (Noack 2015, S. 16 – 18) Auch der Stamm besitzt eine Geschichte und sein Vorhandensein ist keine Selbstverständlichkeit. Es muss ein geeigneter Baum sein, der auch mit Sorgfalt geschlagen und transportiert werden muss. Die Erfahrungen und Kenntnisse der Questenmannschaft sind die Grundlage für diese Arbeiten. Wesentlich ist darüber hinaus das gemeinsame Handeln aller Beteiligten, sowohl der Brauchträger als auch Forsteigner.

Handwerkliches Geschick, Kraft und Erfahrung sowie eine kluge Anleitung sind also auch für das Aufstellen des Stammes etwa alle 10 bis 15 Jahre, in jedem Jahr aber auch für das neue Bestücken des Kranzes und der Questen notwendig. Am Vormittag des Pfingstsonntags treffen sich die Männer und schneiden das Grün für den Kranzschmuck. Um das frische Grün am Kranz zu befestigen, werden nur gedrehte Buchenruten, sogenannte Weden, benutzt. Mitunter halten auch zusätzlich ‚Reiteln‘ den Kranz auf seinem Platz, insbesondere nach Unwettern (Noack 2015, S. 31, 50, 55, 59).

Diese Beispiele veranschaulichen, dass das Konzept des immateriellen Kulturerbes eine materielle Seite hat. Der Volkskundler Martin Scharfe formulierte, dass aller Sinn Leiblichkeit braucht. (Scharfe 2009, S. 19) Jeder Ausdruck, der Bedeutung transportiert, tut dies auch über Gegenständliches. Diesem kommt Bedeutung über die verwendeten Materialien und die handwerklichen Praktiken zu. Darüber gehen die Bedeutungszuweisungen durch die Träger und die Gemeinschaft wesentlich hinaus. Diese Inhalte werden zu Bestandteilen von Kommunikation und Austausch aller Beteiligten, die oft auch auf einer symbolischen und damit intuitiven Ebene verläuft.

Diese leibliche Seite von Bräuchen ist bei den aktiven Brauchträgern, (etwa bei der Tagung in der Hochschule Harz „Bräuche: Konstanz und Wandel“ im Februar 2016 in Wernigerode) präsent, aber mitunter nicht weiter verfolgt. Auf der Handlungsebene werden Wünsche ausgesprochen, die auf der administrativen Ebene oft wenig Beachtung finden. So äußerte etwa das Gründungsmitglied des Questenvereins e. V., Gerald Schumann, der 2015 schon zum vierten Male Questenmann war (Noack 2015, S. 90), dass für jedes Fest der Ortschaften auch finanzielle Ressourcen benötigt würden, deren Wegfall sich in Umbruchphasen und wirtschaftlich angespannten Zeiten nur notdürftig ausgleichen ließe. Gebühren und Abgaben, die Bezahlung von Sicherungsmaßnahmen im Straßenverkehr und die Bereitstellung von Toilettenanlagen müssen durch die Vereine organisiert werden. Hilfreich sind hier Kommunen, die sich beteiligen, und Stiftungen oder Spenden, welche die nötigen Grundlagen legen, sowie Einwohner, die auf den Heischegängen aktiv einzahlen.

Deutlich wird an diesen Beispielen, dass die materielle Seite kultureller Traditionen sowohl auf der inhaltlichen Ebene, also symbolisch, zu sehen als auch auf der finanziellen und der „Umsetzungsebene“ zu finden ist. Dieses Sowohl-Als-Auch betrifft das Verhältnis von Bewusstmachung und dem, wie es anscheinend schon immer war. Sichtbar machen kann das ein Archiv der Alltagskultur in Sachsen-Anhalt, in dem die materielle Seite des Immateriellen bewahrt werden kann.

Es besteht beim Zentrum HarzKultur in Wernigerode eine solche Einrichtung. Die Schaffung einer festen, dauerhaften Arbeitsstelle wäre für die weitere archivalische Professionalisierung erforderlich. Eine weitere Institution ist das alltagsgeschichtliche Archiv in Wittenberg mit seinen umfangreichen Beständen an Fotos und Interviews zur Alltagskultur. Getragen wird es durch PFLUG e. V., der Mitgliedsverein im Landesheimatbund ist. Für die übrigen Regionen des Landes fehlt eine solche Einrichtung.


  1. https://de.wikipedia.org/wiki/El_c%C3%B3ndor_pasa?oldid=149744897 (17. 05. 2016), S. 2.
  2. https://de.wikipedia.org/wiki/El_c%C3%B3ndor_pasa?oldid=149744897 (17. 05. 2016), S. 1.
  3. https://www.kmk.org/themen/kultur/immaterielles-kulturerbe.html (18. 05. 2016).
  4. http://www.unesco.de/kultur/immaterielles-kulturerbe/ike-liste.html (18. 05. 2016).
  5. Silvesterklausen. Lebendiges Brauchtum im Appenzellerland. Dokumentarfilm hg. v. Appenzeller Volkskunde-Museum, Dorf, CH, St. Gallen 1997. Ebenso: http://www.appenzellerland.ch/de/brauchtum-genuss/brauchtum/silvesterchlausen (18. 05. 2016).

Literatur

  • Jankofsky, Jürgen und Ulrich Kneise: Spergauer Lichtmeß: eine Zeit-Reise. Halle 2015. Noack, Heinz: Questenberger Jahrbuch 2014 – 2015. Ein Rückblick. Bennungen 2015.Tauschek, Markus: Kulturerbe. Eine Einführung. Berlin 2013.
  • Ders.: Wertschöpfung aus Tradition. Der Karneval von Binche und die Konstituierung kulturellen Erbes (= Studien zur Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie; 3). Berlin 2010.Schneider, Ingo und Valeska Flor (Hg.): Erzählungen als kulturelles Erbe – das kulturelle Erbe als Erzählung: Beiträge der 6. Tagung der Kommission für Erzählforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde vom 1. – 4. September 2010 im Universitätszentrum Obergurgl. Münster u. a. 2014.
  • Erb.gut? Kulturelles Erbe in Wissenschaft und Gesellschaft; Referate der 25. Österreichischen Volkskundetagung vom 14. – 17. 11. 2007 in Innsbruck/im Auftr. der Österreichischen Fachverbands für Volkskunde und des Vereins für Volkskunde in Wien. Hrsg. von Karl C. Berger u. a. Wien 2009.
  • Scharfe, Martin: Kulturelle Materialität. In: Erb.gut? 2009, S. 15 – 33. Anders als S. 25 angegeben ist der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ vor allem für die Friedensbewegung in der DDR entscheidend gewesen im Protest gegen die Einführung des Wehrkundeunterrichts an den Schulen der DDR. Aber auch hier besteht ein interessantes Zeichen der Bedeutungsverschiebung.
  • Schneider(-Reinhardt), Annette: Feste dokumentieren. Zum Problemstand. In: Zur öffentlichen Festkultur in der Gegenwart. Tagungsband der Volkskundlichen Kommission für Sachsen-Anhalt e. V. und der Volkskundlichen Kommission für Thüringen e. V. am 8. November 2008 in Dornburg / Saale. Halle (Saale) / Erfurt 2011, S. 12 – 25.