Neue Bewohner – Nachnutzung zwischen Innovation und Erinnerung
Christina Katharina May | Ausgabe 4-2022
Reisende in Sachsen-Anhalt passieren in sämtlichen Regionen des Landes eindrucksvolle Zeugen der Industriegeschichte:[1] Die Landschaft prägen die kegelförmigen Halden im Mansfelder Land oder der „Kalimandscharo“, auf den der Zielitzer Bergmannsverein Führungen anbietet. Die Rappbodetalsperre im Harz ist ein beliebtes Wander- und Ausflugsziel. Aus den ehemaligen Gruben des Braunkohletagebaus bei Bitterfeld oder im Geiseltal wurden Seen, auf denen heute Segelschiffe fahren. Im Tagebau Profen wird noch gebaggert, aber auch hier ist bald Schluss und der Strukturwandel steht an.
Die Industrie hat Städte, Dörfer und ganze Landschaftsräume Sachsen-Anhalts verändert. Inzwischen sind zahlreiche Standorte stillgelegt. Die ausgemusterten Werke und Infrastrukturen, wie die Eisenbahn mit abweichenden Spurbreiten, und historische Maschinen wie Dampfmaschinen oder Traktoren, waren veraltet oder marode und nicht sicher. In der DDR waren noch 1990 Maschinen in Betrieb, die aus den 1930er-Jahren stammten, einer Zeit kriegsbedingter Aufrüstung und des größten Wachstums vieler Betriebe der Montan- und Chemieindustrie.[2] Vieles wurde nach der Deutschen Einheit 1990 schnell abgerissen oder verschrottet. Anderes zerfiel nach und nach, da Investorinnen und Investoren ihre Gebäude und Grundstücke vernachlässigten.
Dass wichtige Sachzeugen der Industriegeschichte erhalten geblieben sind, ist häufig dem Engagement von Ehrenamtlichen und ABM-Kräften zu verdanken, die Anfang der 1990er-Jahre Gebäude und Maschinen sicherten, teils aus Betrieben, in denen sie zuvor selbst tätig waren. Damit wurden nicht nur die Technik und historische Gebäude erhalten, sondern auch das Wissen, wie die Maschinen zu bedienen waren und unter welchen Arbeitsbedingungen produziert wurde. Heute pflegen zahlreiche Vereine diese Orte der Industriekultur und vermitteln deren Geschichte. Museen und andere Kulturorte entstehen und beleben die Orte neu.
Die Frage, wie die Industriegebäude nachgenutzt werden können, ist aber weiterhin akut.[3] Der Unterhalt ist teuer, die Häuser und Hallen sind geräumig bis riesig. Oftmals in Kleinstädten gelegen, gibt es wenig Bedarf an großen Konzertsälen, zumal auch die meistens überdimensionierten Kulturhäuser der ehemaligen Betriebe auf eine Nachnutzung warten. Kreative Ideen sind gefragt, um die Gebäude nicht zu Ruinen zerfallen zu lassen, die bestenfalls als Motive für halblegale „Lost-Place“-Fotografie dienen. Neben den Vereinen engagieren sich Kommunen und Landkreise, aber auch Investorinnen und Investoren aus der Privatwirtschaft schaffen Konzepte für die Kreativwirtschaft.
Der Landesheimatbund sammelt solche Ideen und begibt sich auf die Suche nach interessanten Orten, die eine meist wechselvolle Geschichte erzählen. Im Mittelpunkt stehen die Menschen mit ihren Konzepten zur Umnutzung: von der Industrie zum Museum, zum Künstlerinnenatelier, zum neuen Firmenstandort oder auch zum Rathaus, wie in Wolfen, wo die Stadtverwaltung in das ehemalige Forschungs- und Direktionsgebäude der IG-Farben beziehungsweise von ORWO einzog.
Die Industriekultur in Sachsen-Anhalt ist ein schwieriges Erbe, das Erinnerungen wachhält, die mit einstigem Erfolg, aber auch mit den schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen verknüpft sind. Gleichzeitig bieten diese Relikte Freiraum für Zukunftsideen. Die Nachnutzungen erhalten die Gebäude und damit die Orte als Gedächtnisstützen an eine wechselvolle Vergangenheit.
Anmerkungen
[1] Vgl. Zur Industriekultur, in: Industriekultur. Magazin für Denkmalpflege, Landschaft, Sozial-, Umwelt- und Technikgeschichte, Heft IV (2014), S. 2 – 5.
[2] Vgl. Norbert Gilson: Mehr als Plaste und Elaste, in: Industriekultur. Magazin für Denkmalpflege, Landschaft, Sozial-, Umwelt- und Technikgeschichte, Heft IV, (2014), S. 6 – 7.
[3] Riccarda Cappeller: Was andere nicht sehen. Kollektiv.Industrie.Kultur.ost., in: Politik und Kultur (2020), 19. Jg., H. 5, S. 32.