Sachsen-Anhalt in der Bibliothek der deutschen Heimatzeitschriften
Heinz Peter Brogiato | Ausgabe 1-2021 | Kulturlandschaft
Seit Ende 2013 befindet sich eine Sondersammlung heimatkundlicher Literatur im Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL) in Leipzig: die „Bibliothek der deutschen Heimatzeitschriften“ (Dobers 2014). Sie entstand 1992 in Bocholt und befand sich zuletzt in der Obhut des Landesheimatbundes Sachsen-Anhalt. Da sich der damalige Aufenthaltsort Zuchau bei Barby für eine dauerhafte Aufstellung nicht eignete, bot sich das Leipziger Institut an, die Bibliothek zu übernehmen. Das IfL ist die einzige außeruniversitäre Forschungseinrichtung für Geographie in Deutschland. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IfL arbeiten an sehr unterschiedlichen Fragen geographischer Grundlagenforschung, vornehmlich im mittleren und östlichen Europa. Dabei bildet die Erforschung des „Regionalen“ eine der Kernaufgaben des IfL. Hierzu zählen Aspekte des Regionalismus, von regionaler Identität und Zugehörigkeit, von Heimat und Fremdsein. Solche Themen lassen sich mit Methoden der qualitativen Sozialwissenschaft erforschen. Auf der Suche nach empirischem Quellenmaterial stößt man rasch auf das Genre „Heimatliteratur“. So schafft sich das IfL mit der Bibliothek der Heimatzeitschriften einen außerordentlichen Quellenfundus, sowohl für die institutseigene Forschung als auch für externe Gastwissenschaftler. Je größer die Heimatbibliothek und somit breiter die Quellenbasis wird, desto eher lässt sich das angestrebte Ziel, Forschungsfragen an verschiedenen regionalen Beispielen komparativ zu bearbeiten, erreichen.
Neben solchen Forschungsaspekten schließt das IfL auch eine Lücke in der bibliothekarischen Versorgung in Deutschland. Durch die föderale Bibliothekslandschaft im deutschen Sprachraum wird das regionale Schrifttum lediglich von der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) an ihren beiden Standorten Leipzig und Frankfurt am Main gesammelt. Da die DNB aber eine reine Präsenzbibliothek ist, stehen ihre Bestände dem Leihverkehr nicht zur Verfügung. Unterhalb dieser gesamt-staatlichen Ebene besitzen fast 30 Bibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland das Pflichtexemplarrecht für die ihnen zugeordneten Räume, die häufig den Bundesländern entsprechen. In den drei mitteldeutschen Ländern sind das die Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle, die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek in Jena und die Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek in Dresden. Das regionale Schrifttum wird also dezentral an vielen Standorten gesammelt. Im Umkehrschluss heißt das allerdings auch, dass der Sammelauftrag dieser Bibliotheken abrupt an den Landesgrenzen endet. Für vergleichende, überregionale Literaturanalysen und Forschungen sieht das verteilte Sammeln von Literatur in Deutschland keinen Standort einer Leihbibliothek vor. Mit der Übernahme der Bibliothek der deutschen Heimatzeitschriften bemüht sich das IfL nun, diese Lücke zu schließen und die regionalen Zeitschriften und Serien aus Deutschland an einer Stelle zentral zu sammeln. Mit der Geographischen Zentralbibliothek (GZB) verfügt das IfL über eine große Fachbibliothek, in deren Obhut die Heimatliteratur professionell betreut werden kann. Alle Titel stehen in der GZB nach der Einarbeitung vor Ort und über die Fernleihe zur Verfügung. Die katalogisierten Titel können frei zugänglich sowohl im Online-Katalog der GZB (https://ifl.wissensbank.com) als auch im Verbundkatalog K10plus (https://opac.k10plus.de) und in der Zeitschriftendatenbank (https://zdb-katalog.de) recherchiert werden.
Eingang in die Bibliothek der deutschen Heimatzeitschriften finden gezählte Zeitschriften, Jahrbücher, zeitschriftenähnliche Reihen und Serien aus Deutschland. Sie decken Orte und Regionen innerhalb Deutschlands ab, daneben einige Gebiete an den Grenzen Deutschlands sowie die historischen Ostprovinzen des Deutschen Reiches und die (früheren) Siedlungsgebiete im östlichen Mitteleuropa und in Südosteuropa. Da der Begriff „Heimat“ sehr häufig über Verlust und Erinnerung definiert wird und einer „Heimatbibliothek“ ohne die Literatur aus und über diese Gebiete ein substanzieller Bestandteil fehlen würde, lag es auf der Hand, auch diese Literatur zu berücksichtigen. Bezeichnenderweise wird die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Genre Heimatzeitschrift häufig auf die Literatur der Heimatvertriebenen und Spätaussiedler beschränkt (vgl. Frede 2004; Fähndrich 2011; Kasten, Fendl 2017).
Obwohl die Abgabe von Zeitschriften und Serien an das IfL freiwillig erfolgt, hat sich der Bestand an heimatkundlichen Zeitschriften in den letzten Jahren äußerst erfreulich entwickelt. Füllte die Bibliothek bei Übernahme 2013 circa 190 laufende Regalmeter, sind es inzwischen deutlich mehr als 500 Meter. Die Zahl der Titel insgesamt ist von knapp 900 auf inzwischen fast 2.900 angestiegen. Noch entscheidender ist der Zuwachs an „aktiven“ Zeitschriften, d. h. an laufend zugesandten Titeln. Deren Zahl war in der Zeit nach 1992 immer weiter abgesunken und belief sich nur noch bei circa 150 –200 Ende 2013. Heute werden der GZB laufend mehr als 1.600 Zeitschriften und Serien zugesandt, Tendenz weiter steigend. Obwohl fast alle Vereine auf Einnahmen aus dem Verkauf ihrer Publikationen angewiesen sind, senden viele ihre Schriften nach Leipzig, weil sie einen Mehrwert darin erkennen, dass ihre Schriften in einer großen, überregionalen Bibliothek verfügbar sind. Sie erreichen dadurch eine größere öffentliche Sichtbarkeit, ihre zumeist ehrenamtliche Vereinstätigkeit erfährt eine höhere Wertschätzung.
Trotz der positiven Entwicklung der Bibliothek bleibt festzuhalten, dass die Bestände nach wie vor große Lücken aufweisen. Bleibt zu hoffen, dass noch viele Zeitschriftenherausgeber das Leipziger Projekt unterstützen, damit vergleichende Regionalanalysen auch über längere Zeitreihen möglich sein werden.
Beispiel Sachsen-Anhalt
Die Bibliothek der Heimatzeitschriften ist regional aufgestellt, im Kernbestand nach Bundesländern geordnet. Unter dem Land Sachsen-Anhalt stehen insgesamt 73 Zeitschriften und Serien (Stand: 1. 7. 2020), von denen 39 als „aktiv“ gelten. Dieser Bestand ist das Ergebnis von fast hundert Anschreiben, in denen seit 2014 um Zusendung von Publikationen gebeten wurde. Karte 1 zeigt die Zielorte der Anschreiben. Die weitaus meisten Briefe richteten sich an Vereine, zumeist Heimatvereine, weitere wichtige Ansprechpartner waren Museen und Archive, Behörden und kommunale Körperschaften sowie weitere Adressen (Privatpersonen, Verlage u. a.).
Im Bestandskatalog der landeskundlichen Zeitschriften in der GZB, der Anfang 2019 erschien, werden hingegen 180 Titel aus Sachsen-Anhalt nachgewiesen (Brogiato 2019, S. 123–128 und im Nachtrag S. 161–166). Die erhebliche Diskrepanz resultiert daraus, dass in der GZB auch außerhalb der Bibliothek der Heimatzeitschriften bereits zahlreiche Titel aus dem mitteldeutschen Raum vorhanden waren, die sich im Altbestand der Bibliothek befinden. Hierunter zählen z. B. mehrere Zeitschriften, die seit Mitte der 1950er-Jahre von Gliederungen des Kulturbundes der DDR herausgegeben wurden (zu den Problemen des Kulturbundes, die „Heimatforscher“ in Sachsen zu integrieren, vgl. Schaarschmidt 2002).
Karte 2 zeigt die Orte und Gebiete, die von den 39 „aktiven“ Zeitschriften behandelt werden. Vergleicht man die Bezugsräume in Sachsen-Anhalt mit denjenigen anderer Bundesländer, dann fällt auf, dass die Gemeindeteile überdurchschnittlich häufig vorkommen, die aktuellen Landkreise unterrepräsentiert sind und die neuen Kommunen praktisch keine Rolle spielen. Dies bestätigt Befunde aus anderen Bundesländern: In Verwaltungs- und Gebietsreformen gebildete Großgemeinden und Großkreise finden kaum Widerhall in der heimatkundlichen Literatur (vgl. Förtsch, Rösel 2020). Selbst 50 Jahre nach den Reformen in den westdeutschen Ländern kann man dies immer noch feststellen. Die heimatlichen Organisationsstrukturen und die lokale/regionale Identität scheinen resistent gegen als „künstlich“ empfundene Gebietsneugliederungen zu sein. Ebenfalls auffallend ist, dass Heimatkalender und Jahrbücher der Landkreise, die in den alten Bundesländern durchaus üblich sind und die helfen können, den Kreis als identitätsstiftenden Nahraum anzunehmen, in den neuen Bundesländern die Ausnahme bilden.
Vielleicht kann dieser Bericht weitere Vereine und Herausgeber von Heimatliteratur animieren, das Leipziger Projekt zu unterstützen und die eigenen Zeitschriften an das IfL zu senden.
Literatur
Brogiato, Heinz Peter (Bearb.): Bibliothek der deutschen Heimatzeitschriften. Katalog der landeskundlichen Zeitschriften, Jahrbücher und Serien in der Geographischen Zentralbibliothek. Leipzig: IfL 2019. 179 S. (Daten, Fakten, Literatur zur Geographie Europas; 13).
Dobers, Nicole: Ende einer Odyssee. Die Geographische Zentralbibliothek Leipzig übernimmt heimatkundliche Bibliothek. In: BIS – das Magazin der Bibliotheken in Sachsen 7, 2014, H. 2, S. 106–107.
Fähndrich, Jutta: Eine endliche Geschichte. die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen. Köln: Böhlau 2011. X, 303 S. (Visuelle Geschichtskultur; 5).
Förtsch, Mona und Felix Rösel: Gebietsreformen reduzieren das Heimatgefühl.
In: ifo Dresden berichtet 27, 2020, H. 1, S. 3–5.
Frede, Ulrike: „Unvergessene Heimat“ Schlesien. Eine exemplarische Untersuchung des ostdeutschen Heimatbuches als Medium und Quelle spezifischer Erinnerungskultur. Marburg: Elwert 2004. XI, 395 S. (Schriftenreihe der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde; 88).
Kasten, Tilman und Elisabeth Fendl (Hrsg.): Heimatzeitschriften. Funktionen, Netzwerke, Quellenwert. Münster: Waxmann 2017. 335 S. (Schriftenreihe des Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa; 18).
Schaarschmidt, Thomas: Regionalbewusstsein und Regionalkultur in Demokratie und Diktatur 1918-1961. Sächsische Heimatbewegung und Heimat-Propaganda in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in der SBZ/DDR. In: Westfälische Forschungen 52, 2002, S. 203–228
Vereinsleben in Sachsen-Anhalt. Der Dachverband stellt vor. Halle (Saale): Landesheimatbund Sachsen-Anhalt 2015. 253 S. (Beiträge zur Regional- und Landeskultur Sachsen-Anhalts; 60)